Mainz
Analphabetismus: Wer nicht lesen kann, ist raus aus dem Leben

Ein funktionaler Analphabet kennt zwar die Buchstaben, kann sie aber kaum zu Wörtern oder Sätzen fügen. Das heißt, dass sowohl das Lesen von kurzen Texten als auch das Schreiben problematisch sind. Viele Betroffene können, obwohl sie oft Jahre lang in der Schule waren, nicht besser mit Schriftsprache umgehen als Kinder in der ersten oder zweiten Klasse.

dpa/picture alli

Mainz - 17 600 Analphabeten gibt es in Mainz. Schätzungsweise, denn genau weiß es niemand. Wer Probleme mit dem Lesen und Schreiben hat, der ist bemüht, sein Defizit geheim zu halten - oft auch vor engen Vertrauten, Kollegen und Nachbarn. Der Alltag wird bestimmt von Tricks und der Angst aufzufliegen.

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Mainz – 17 600 Analphabeten gibt es in Mainz. Schätzungsweise, denn genau weiß es niemand. Wer Probleme mit dem Lesen und Schreiben hat, der ist bemüht, sein Defizit geheim zu halten – oft auch vor engen Vertrauten, Kollegen und Nachbarn. Der Alltag wird bestimmt von Tricks und der Angst aufzufliegen.

Die Zahl stammt aus der Leo-Studie der Uni Hamburg. Ihr zufolge können in Deutschland 7,5 Millionen Erwachsene von 18 bis 64 Jahren nicht ausreichend lesen und schreiben und gelten als funktionale Analphabeten. Rechnet man die Zahl auf Mainz herunter, kommt man auf 17 600. Mehr als die Hälfte von ihnen ist berufstätig. Doch ihre Aussichten sind mies.

Dabei steckt in dieser Gruppe Potenzial, wie Arbeitsagenturchef Jürgen Czupalla sagt. Seiner Erfahrung nach entwickeln Analphabeten besondere Fähigkeiten, um ihren Alltag zu meistern: „Man kann sich das vorstellen wie bei Menschen mit Sinnesbehinderung, die ihre Einschränkung ausgleichen müssen“, sagt er.

Gedächtnisleistung ist enorm hoch

Analphabeten sind nicht doof. Viele sind handwerklich geschickt und haben eine enorme Gedächtnisleistung, weil sie sich nahezu all das, was Lesende notieren, merken müssen. Und: Wer nicht lesen kann, muss in vielen Situationen um Hilfe bitten. Für Czupalla ist das eine Form sozialer Kompetenz. Arbeitgeber sehen die Vorteile meist nicht. Dafür hat er auch eine Erklärung parat: Ein Mitarbeiter müsse in der Lage sein, die für ihn geltenden Sicherheitshinweise und Notfallpläne zu lesen. Dennoch kann man als Analphabet Arbeit finden. Nur wird die Zahl der Jobs, in denen man nicht lesen muss, kleiner. Die Digitalisierung der Arbeitswelt hat dazu geführt, dass in fast jedem Job Computer zu bedienen sind.

Sensible Ansprache ist gefragt

Konkrete Zahlen zu Analphabeten unter Mainzer Jobsuchenden kann Czupalla nicht nennen. „Analphabeten verstecken sich in der Gesellschaft und auch bei uns. Sie outen sich nicht offensiv. Im Gegenteil: Sie sind geschickt darin, zu verbergen, dass sie nicht lesen können.“ Am häufigsten sei im Jobcenter der Fall, dass Menschen Schwierigkeiten haben, weil sie mit einem anderen Alphabet, etwa dem kyrillischen, aufgewachsen sind. Sie können lesen und schreiben, nur eben nicht mit lateinischen Buchstaben. Fürs nächste Jahr plant das Jobcenter, dass alle Registrierten zwischen 25 und 35 Jahren ohne Berufsausbildung Eignungstests machen sollen, um herauszufinden, wer auf welche Ausbildung Chancen hat. „Ich gehe davon aus, dass wir da auf einige Analphabeten stoßen werden.“

Mit einem Kompetenzzentrum der Volkshochschule (VHS) sind die Mitarbeiter im Jobcenter sensibilisiert worden. Besteht ein Verdacht, dann ist sensible Ansprache gefragt. Die führt hoffentlich dazu, dass derjenige zu einem Alphabetisierungskurs geht und später ein Angebot für die berufliche Bildung annimmt. So weit zumindest das Ideal. In der Realität scheitert mancher aber daran, dass er in der berüchtigten deutschen Bürokratie Anträge schriftlich ausfüllen muss – für Analphabeten der blanke Hohn.

Nach Angaben der VHS wird mit dem Jobcenter an einem neuen Verfahren gearbeitet. Beispielhaft könnte die Stadt Kaiserslautern sein. Alphabetisierungshilfen werden dort im direkten Kontakt zwischen Jobcenter und Schule vereinbart. So scheitert ein williger Lerner nicht an dem Problem, dass er eigentlich lösen möchte.

Alexandra Schröder