Mainz – Diesen 24. Dezember wird Lore Hartmann nie vergessen. So hatte sie sich ihren ersten Heiligabend als Ehefrau wirklich nicht vorgestellt: Jung vermählt, dazu gesegnet mit zwei Söhnen, die ihr Mann mit in die Ehe gebracht hatte, saß sie vor dem geschmückten Baum – und wartete.
Und versuchte gleichzeitig, zwei zappelige Jungs zur Räson zu bringen, die endlich sofort vom Christkind beschert werden wollten. Doch der Papa und frischgebackene Ehemann hatte keine Zeit, sich der Familienfeier zu widmen.
Er gondelte stundenlang durch Mainz. Ehrenamtlich. Otto Hartmann, amtierender CDU-Stadtrat und in vielerlei Gebieten sozial aktiv, war dem Ruf von Karl Delorme (SPD) gefolgt: Mit etlichen weiteren „Mit-Chauffeuren“ brachte er die Besucher der ersten Mainzer Weihnachtsfeier für alleinstehende Senioren wieder heil nach Hause. Und so erhielt die junge Ehe der Hartmanns an diesem Heiligabend 1965 ihre erste Feuertaufe.
Damals hatte Karl Delorme, seit acht Jahren Sozialdezernent, eine seiner berühmten Ideen umgesetzt, die das Mainzer Sozialwesen bis heute prägen. Er hatte beobachtet, dass viele alleinstehende Mitbürger den Heiligabend weder mit Angehörigen noch mit Freunden feiern konnten. Und schlug vor, für diese Menschen einen Treffpunkt zu schaffen, damit sie an diesem Tag ein paar Stunden beisammen sein konnten. Eine gute Idee – und auch heute noch, 45 Jahre später, ist das Interesse daran groß. Anmeldungen sind nötig, weil das Platzkontingent begrenzt ist. Zunächst traf man sich im Haus der Jugend, seit vielen Jahren ist das Städtische Altenheim in der Altenauergasse der Gastgeber.
Rund 70 Senioren hatten sich in diesem Jahr zu Kaffee und Kuchen, einem kleinen Festmahl und viel Zeit für Gespräche eingefunden. Leise Wehmut, subtile Trauer, hier und da Tränen, aber auch fröhliche Erwartung waren spürbar: „Wir erleben an einem solchen Tag natürlich die ganze Bandbreite von Emotionen“, berichtet Renate Gulic. Die Mitarbeiterin im Sozialdezernat, Abteilung „Aktiv älter werden“, organisiert seit 1993 im jährlichen Wechsel mit ihrem Kollegen Thomas Schäfer diese Weihnachtsfeiern. Als ehemalige Leiterin des damaligen Franz-Stein-Altenheimes hat sie Erfahrung im Metier Seniorenarbeit. Einladungen an Gäste, Pressearbeit, Speiseplan, Zimmerschmuck, Disposition der 15 ehrenamtlichen Helfer fallen beispielsweise in ihr Ressort. Und auch die Gestaltung des kleinen kulturellen Beiprogrammes: „Aber das spreche ich mit Gaby Reichardt ab, sie ist ja die Moderatorin.“
Seit 40 Jahren führt die Staatsschauspielerin und „Mainzer Koryphäe“ durch das Programm, gibt kleine Geschichtchen und Gedichte zum Besten und setzt Akzente mit ihrer lebendigen, fröhlichen Art. „Ich mache das sehr gerne; seitdem ist mir das Weihnachtsfest eigentlich erst richtig nahe gekommen“, sagt Gaby Reichardt über ihr Engagement. 2010 gestalten die Sängerin Ursula Rupperti, der Keyborder Joachim Deigmöller und Winfried Späth mit seiner Panflöte den künstlerischen Teil des Programmes. Sozialdezernent Kur Merkator feiert immer gerne mit, OB Jens Beutel liest traditionell die Weihnachtsgeschichte vor.
Um 19 Uhr ist endgültiger Aufbruch – und wie damals stehen auch heute Helfer bereit, um die Besucher des Festes heimzubringen. „Das geht schnell, wir haben fünf Fahrer als freiwillige Chauffeure und zusätzlich einen Kleinbus, der acht Personen fasst“, versichert Renate Gulic. Eine halbe Stunde, dann sind alle Senioren wieder sicher zuhause. Vor 45 Jahren waren es bis zu 200 Leute, die auf eine Kutschfahrt der modernen Art warteten.
Wen wundert’s da, dass die Chauffeure stundenlang durch Mainz gondelten und Familien wie die Hartmanns zappelig und zähneknirschend auf den Papa und somit auf die Bescherung warteten. Aber Lore Hartmann hat ihrem Mann den Fauxpas damals doch sicher rasch verziehen – oder? Da bleibt die 81-Jährige erst einmal ein paar Momente still. „Naja, ich glaube – ja“, bemerkt sie dann, wenn auch leicht verhalten. Nun gut, es ist ja Weihnachten. Trudy Magin