Wiesbaden. Das Wort „Vorsitzende“ spricht Andrea Nahles aus, als habe es fünf „e“ am Ende. Sie ist die erste Frau an der Spitze der SPD, in 155 Jahren. Mit einer kämpferischen Rede überzeugt sie nach einem turbulenten und krisenhaften Jahr die knapp 600 Delegierten beim Parteitag in Wiesbaden nur mit einem schwachen Ergebnis – 66 Prozent. Selbst als Generalsekretärin hatte sie bessere Ergebnisse. Ihre Gegnerin Simone Lange bekommt trotz einer überraschend schwachen Rede auch ein knappes Drittel der Stimmen. Bei der Verkündung des Ergebnisses herrscht Grabesstille, dann verhaltener Applaus. Die Sozialdemokraten sind erschrocken über sich selbst, dass sie ihre neue Parteichefin mit einem so schwachen Ergebnis ausstatten, obwohl so große Aufgaben vor ihr liegen.
Ihre Bewerbungsrede ist nicht der Grund für das schwache Ergebnis: Nahles beginnt persönlich, stellt sich als katholisches Arbeiterkind aus der Eifel vor, wo sie als Sozialdemokratin ein Sonderling war. Sie begrüßt ihre Mutter Gertrud mit „Hallo Mama“. Dann dekliniert Nahles ihr politisches Programm mit dem Begriff der Solidarität und spricht auch in Abwandlung von Ludwig Erhards sozialer Marktwirtschaft von „solidarischer Marktwirtschaft“. Dazu zählen für sie eine ordentliche Besteuerung von Internetunternehmen, mehr tarifgebundene Jobs und ein öffentlich geförderter Arbeitsmarkt. Zur SPD-Dauerdebatte um Hartz IV ruft sie leidenschaftlich in den Saal: „Lasst uns die Diskussion mit Blick auf 2020 führen, nicht auf 2010.“ Mehrfach macht sie in ihrer Rede auch ihre emotionale Bindung an die SPD deutlich und erklärt, den SPD-Ortsverein in ihrem Dorf in der Eifel habe sie vor 30 Jahren mit Freunden gegründet, um die Demokratie zu stärken. Mit einem „Wir packen das“ beendet sie ihren Auftritt.
Es ist eine zerrissene Partei, an deren Spitze Nahles jetzt steht. Die Nervosität im RheinMain KongressCenter in Wiesbaden ist enorm. Bei der Einlasskontrolle wird ein Delegierter mit einem großen Transparent erwischt, das er offenbar im Saal während des Parteitags entrollen will. „Mehr Demokratie wagen“ steht darauf. Das ist ein Zitat von Willy Brandt. Damit müsste man beim SPD-Parteitag also Einlass bekommen. Das Material sei aber brennbar, wendet die Sicherheit ein.
Beim Einlass überlässt die Parteiorganisation nichts dem Zufall. Ansonsten aber ist es ein Parteitag der Unwägbarkeiten. Vor Beginn sind nur wenige Delegierte sicher, dass Nahles ein gutes Ergebnis bekommen würde. Unter 70 Prozent seien durchaus möglich und eine Katastrophe, sagt ein Delegierter. Die Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange macht geschickt für sich Werbung. Sie bedient die Stimmung in der Partei, dass die Funktionärsschicht nicht immer alles bestimmen solle. Otto Schmallenberg aus Schleswig-Holstein läuft mit einem Schild herum: „Sei dabei. Schreib Geschichte, Wähl Simone Lange.“ Über Nahles sagt er: „Alte Garde, Funktionärsschicht, intrigant.“ Nein, eine Versöhnung könne es nicht geben, sagt Schmallenberg.
Im Saal brodelt es, bevor das Duell der ungleichen Kandidatinnen beginnt. Im Vorfeld gab es viel Streit, wie sich die Kontrahentinnen präsentieren. Am Ende einigte man sich darauf, dass nach dem Alphabet erst Lange, dann Nahles redet, jeweils 30 Minuten. Die Redezeit, um die Lange so hart gekämpft hatte, nutzt sie vor den Delegierten nicht aus. Nach knapp 20 Minuten endet sie. Lange kritisiert, dass es der SPD an Transparenz, an Offenheit und an Glaubwürdigkeit fehlt. „Ich bin heute eure Alternative.“ Inhaltlich ist sie dünn. Erst in der Fragrunde, vielleicht aufgeweckt von Nahles' starker Rede, dreht sie auf, fordert lautstark die „Rückabwicklung von Hartz IV“. Der Frage, ob sie denn als Flensburger Oberbürgermeisterin zurücktritt, wenn sie zur Vorsitzenden gewählt würde, weicht sie aus.
Nahles kündigt an, die Erneuerung jetzt voranzutreiben. Sie werde beweisen, dass das trotz der Regierungsbeteiligung möglich ist. Martin Schulz, der gescheiterte Kanzlerkandidat, gibt ihr recht. „Das geht“, sagt er am Rand des Parteitags. Wunden müssten bei diesem Parteitag nicht heilen, er sei ohne Groll gegangen. Und wer wird als Nächstes für die SPD ins Rennen um das Kanzleramt gehen? Hat Nahles nun – wie es bisher immer dem Parteichef zustand – das erste Zugriffsrecht? Eine Delegierte aus NRW meint, sie gehe fest davon aus, dass die Kanzlerkandidatenfrage zwischen Andrea Nahles und Olaf Scholz bereits geregelt sei. „Das haben die sicher schon besprochen und geklärt“, sagt sie.
Aus Wiesbaden berichten unsere Korrespondenten Eva Quadbeck und Jan Drebes