NSU-Ausschuss: Wusste der Verfassungsschutz vorher vom Mord?
Von unserer Mitarbeiterin Gisela Kirschstein
Sich selbst bezeichnet der 70-jährige, inzwischen pensionierte Beamte als „Faktenmensch“, vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags in Wiesbaden sagt er Sätze wie: „Warum fragen Sie mich, wenn Sie es doch in den Akten finden?“
Und doch entschied Hess nach eigener Darstellung am 9. Mai 2006 per „Bauchgefühl“, dass sein Mitarbeiter Andreas Temme mit dem Mord an Halit Yozgat im Internetcafé in Kassel „nichts zu tun haben könne“. Warum er das so entschied? „Was die Polizei vorgelegt hat, war nicht überzeugend, Punkt“, sagt Hess, und das mit dem „Punkt“ sagt er wirklich so. Fiel eine wichtige Entscheidung im Verfassungsschutz nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf?
Kaum zu glauben: Die Fakten
Andreas Temme ist jener Mitarbeiter des Hessischen Amtes für Verfassungsschutz, der 2006 am Tag des Mordes an dem türkischen Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat in Kassel am Tatort war – vermutlich sogar während des Mordes selbst. Trotzdem behauptet Temme bis heute, er habe von dem Mord nichts mitbekommen. Temme ist ein 1,90 Meter großer Hüne, er hätte mühelos über den Tresen im Internetcafé sehen können – und hinter dem Tresen lag Yozgats Leiche. Der Mord gilt als Nummer neun in der Serie des rechtsextremen NSU. Temme geriet deshalb unter Mordverdacht, auch, weil er sich nach dem Mord nicht als Zeuge bei der Polizei meldete.
Im Februar enthüllte die „Welt am Sonntag“ ein abgehörtes Telefonat zwischen dem wegen Mordverdacht vom Dienst suspendierten Temme und einem Vorgesetzten – Hess. In dem Gespräch ging es um eine dienstliche Erklärung, die Temme zu der Mordsache verfassen sollte – und es fiel ein seltsamer Satz: „Ich sach' ja jedem“, sagte da Hess, „wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert – bitte nicht vorbeifahren.“ Wusste der Verfassungsschutz, dass ein Mord passieren würde? „Es war eine ironische Einleitung“, behauptete Hess jetzt im Untersuchungsausschuss, doch der Ton des Telefonats ist keineswegs scherzhaft, vielmehr eher bedrückt. Und Temme reagierte in dem Telefonat auf die seltsame Anspielung überhaupt nicht. Tatsächlich sagt der Verfassungsschützer, der als V-Mann-Führer tätig war, während des Telefonats meist nur „Hm“.
„Hier hat jemand weniger die Verfassung geschützt als den Verfassungsschutz“, sagt Janine Wissler von der Linken. Hess betont, er habe Temme nur angehalten, die Wahrheit zu sagen, doch tatsächlich benutzte er die Formulierung, „so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben“.
Was aber war mit dem „Vorbeifahren“-Satz? Temme hatte am Tag des Mordes mit einer Quelle aus dem rechtsextremen Milieu telefoniert, mit Benjamin Gärtner, der heute als wichtiger Mann im Hintergrund des NSU gilt. Unmittelbar nach dem Telefonat stempelte sich Temme an seiner Dienststelle aus und fuhr zu Yozgats Internetcafé. Was wusste Temme?
Nah an der Wahrheit – und doch völliig daneben?
„Ich wusste, dass ich mit den Morden nichts zu tun hatte“, betonte Temme nun, doch als Wissler ihn explizit fragt, ob er das Café „ausschließlich privat“ besucht habe – da weicht Temme aus: Es könne sein, dass er in dem Café „mal eine Schreibweise im Internet nachgeguckt habe“, dienstlich also. Das aber lässt weiter die Möglichkeit offen, dass Temme von Gärtner gewarnt wurde, es werde an diesem Nachmittag an diesem Ort „etwas“ passieren. Temme ist ein gelehriger Schüler – er bleibt bei der Wahrheit, bei Hess' Wahrheit. Also „so nah wie möglich bei der Wahrheit“.