Würzburg

Ultras: Eigenleben zwischen Treue und Macho-Gehabe

Sie machen mit Fangesängen und aufwendigen Choreografien Stimmung in den Fußball-Stadien, wirken auf viele aber auch bedrohlich: die Ultras. Seit Mitte der 90er-Jahre hat sich die Bewegung zu einem festen Bestandteil der Fanszene in Deutschland entwickelt.

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In dem Buch „Ultras im Abseits? Porträt einer verwegenen Fankultur“, das von Montag an im Handel erhältlich ist, wird diese Form des Fanseins näher beleuchtet. Martin Thein, Fanforscher an der Universität Würzburg und einer der Herausgeber, erklärt im Interview mit unserer Zeitung das Phänomen der Ultras.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie die Welt der Ultras, das „Leben zwischen oberkörperfrei auf dem Stadionzaun und dem spießigen Bürojob bei Daimler“ immer fasziniert hat. Für Ihre Recherchen haben Sie sich mit Ultras getroffen. Wie sind Ihre Erfahrungen?

Es ist ein Eintritt in eine verborgene Welt. Man muss schon kämpfen, um Vertrauen aufzubauen und ein Interview zu bekommen. Bei den Gesprächen habe ich die Ul-tra-Vertreter als junge, hochintelligente Menschen erlebt, die bestens organisiert sind, logistisch und finanziell. Und die eine Art Eigenleben führen neben der restlichen Welt. Ultra-Gruppen haben ihre eigenen Lokale, ihre Jugendklubs und haben sich von der Gesellschaft quasi emanzipiert.

Ultra-Gruppierungen haben teilweise größeren Zulauf als etwa kirchliche Organisationen. Woran liegt das?

Weil sie Werte pflegen, die heute als verloren gelten: Freundschaft, Treue, Verbindlichkeit – und Rituale. Hinzu kommen ein bisschen Männer- und Macho-Gehabe. In der Jugendkultur ist es ja oft das Rebellentum, das junge Menschen anzieht. Die Ultras erweitern dies: Sie lassen auch alte Werte wieder- aufleben, das macht sie so attraktiv für Jugendliche.

Wobei im Gegensatz zu früher Idole keine große Rolle spielen.

Überhaupt nicht. Die Ultras sagen: Spieler sind Angestellte des Vereins, die kommen und gehen. Der Verein aber bleibt. Die Identifikation erfolgt nicht mehr über die Stars wie früher, sondern über den Klub und seine Geschichte.

Wie sieht der typische Ultra aus?

Letztlich gibt es ihn nicht, den typischen Ultra. Häufig kommen die Jungs relativ früh mit einer Gruppe in Kontakt, im Alter von 13 oder 14 Jahren, meist über das Internet und Facebook. Bei den ersten Stadionbesuchen finden sie schnell Gleichgesinnte. Bald erleben sie aus ihrer Sicht die ersten Ungerechtigkeiten – von Polizei- oder Vereinsseite aus, das fördert das Freund-Feind-Denken. Dann kann sich schnell ein Trend zur Isolation entwickeln: Man fühlt sich als Ultra, denkt als Ultra, arbeitet zwar nebenher noch in seinem Job, aber man ist zuallererst Ultra und dann Arbeitnehmer.

Sind Ultras politisch motiviert?

Man kann auch hier nicht von dem einen Ultra sprechen. Jede Gruppe entwickelt ihre Dynamik und Ideologie. Bei St. Pauli haben wir Ultras mit linken Tendenzen, in Frankfurt, Dresden oder Rostock tendieren einige zum Hooliganismus. Ul-tras sind eher links geprägt. Rassismus und Rechtsradikalismus gehen nur selten von ihnen aus.

Ein Vorwurf an die Ultras lautet, dass sie sich in den Stadien gern selbst inszenieren. Können Sie das bestätigen?

Das gehört fast schon zum Wesen der Ultras. Sie treten sehr selbstbewusst auf und nutzen die Bühne Bundesliga zur Selbstinszenierung. Sie sind sehr elitär und sehen sich als die wahren Vertreter des Fußballs – schließlich hängt die Stimmung im Stadion in hohem Maße von ihnen ab, und das wissen sie.

Wie überall gibt es auch hier schwarze Schafe. Distanzieren sich die Ultras, wie in der Öffentlichkeit oftmals dargestellt, zu wenig von Gewalttätern und Randalierern?

Die Ultras haben das Problem, dass sie auch für gewaltaffine Jugendliche attraktiv sind. Eigentlich müsste ein Selbstreinigungsprozess einsetzen, um positiver wahrgenommen zu werden. Doch der findet häufig nicht statt. Man nimmt es billigend in Kauf und schafft es nicht, sich von diesen Gewalttätern abzusetzen, weil sie eben auch nicht immer wirklich dazugehören. Wir stellen leider auch den Trend zu einem Gewalttourismus fest. Da fahren Dritte einfach mit den Ul-tras zu den Spielen – da ist schließlich was los, da ist Polizei.

Schaffen es die Ultras nicht, sich von dieser Minderheit abzugrenzen, oder wollen sie es nicht?

Viele Ultra-Gruppierungen sind einfach noch nicht so weit. Sie brauchen diese Leute auch in gewisser Weise, wenn sie anderen Ultras oder der Polizei gegenüber- stehen, zum Macho-Gehabe, zum sogenannten Posen. Aber viele Ul-tra-Gruppierungen merken, dass der Druck auf sie nun zunimmt. Sie müssen sich stärker abgrenzen.

Es gibt immer wieder Vorfälle zwischen rivalisierenden Fangruppen. Schwappt denn eine Welle der Gewalt durch Fußball-Deutschland, wie gern behauptet wird?

Absolut nicht. Die Zuschauerzahlen sind in den vergangenen Jahren explodiert. Wenn man diese Zahlen in Relation zu der Anzahl der Vorfälle setzt, hat die Gewalt nicht zugenommen. Man muss auch sehen, bei welchen Spielen es zu Ausschreitungen kommt: Gladbach gegen Köln, Rostock gegen St. Pauli, Frankfurt gegen Kaiserslautern. Da sind über Jahre Feindschaften entstanden, das kann nicht auf Ul-tras beschränkt werden. Auch unter „normalen“ Fans herrscht bei diesen Spielen eine deutlich aggressivere Stimmung.

Im Konflikt zwischen Ultras und den Verbänden wird derzeit vom offenen Dialog als einzigem Ausweg gesprochen. Sehen Sie einen anderen Lösungsansatz?

Die Fronten sind so verhärtet, es kann keine andere Lösung als den Dialog geben. Der Deutschen Fußball Liga geht es in erster Linie um Geld und Kommerz, den Ultras um Verein und Ehre. Das Band ist zerschnitten, in der Mitte gibt es ein Vakuum. Dort herrscht eine große Ruhe, eine trügerische Ruhe.

Wer trägt im Konflikt zwischen Ordnungsmacht und Fans die Schuld? Die Polizei, die in den Augen der Ultras zu aggressiv auftritt? Oder die Ultras, die in den Augen der Polizei provozieren?

Das Problem ist: Wir haben keine Schaltstelle dazwischen. In unserem Buch lassen wir sowohl Polizei als auch Ultras zu Wort kommen, um zu zeigen, wie weit diese Welten auseinanderliegen. Ein Ultra wird sich nie mit einem Polizisten an einen Tisch setzen. So weit sind wir. Das macht uns nachdenklich.

Aus Sicht eines Experten: Wie sicher ist derzeit der Besuch in einem deutschen Fußballstadion?

Wir haben mit die sichersten Stadien weltweit. Wenn wir von Gewalt in Stadien sprechen, müssen wir vorsichtig sein: Pyrotechnik ist nicht gleich Gewalt. Wenn es zu Vorfällen kommt, verlagert sich das meist in den Vorraum, auf umliegendes Gelände oder Autobahnraststätten. Aber eines ist sicher: Der Vater kann mit seinem Sohn ganz genüsslich und ohne Bedenken ins Stadion gehen.

Von unserem Sportchef Jochen Dick

Martin Thein/Jannis Linkelmann: Ultras im Abseits? Porträt einer verwegenen Fankultur, Verlag Die Werkstatt, 14,90 Euro, ISBN 978-3-89533-847-2