Kommentar: „Blutige“ Wahrheit nach 38 Jahre Wartezeit

Endlich! Man hat fast nicht mehr daran geglaubt, diesen Tag erleben zu können. „Glaube an die Wahrheit“ steht auf dem Granitdenkmal für die Opfer des „Bloody Sunday“ in Derry.

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Endlich! Man hat fast nicht mehr daran geglaubt, diesen Tag erleben zu können. „Glaube an die Wahrheit“ steht auf dem Granitdenkmal für die Opfer des „Bloody Sunday“ in Derry. Diese Wahrheit kam im Schneckentempo: Zwölf Jahre hat Lord Saville für seine akribische Untersuchung des Blutvergießens gebraucht – so lange, dass viele Briten das Interesse an der Aufklärung einer der tragischsten Episoden ihrer jüngeren Vergangenheit verloren haben dürften.

Vielleicht war das beabsichtigt. Der Auslöser des blutigen Bürgerkriegs mag für die junge Generation bedeutungslos sein, doch die meisten Menschen in Nordirland haben ihn nicht vergessen. Das Erbe des Terrors entzweit weiter viele Gemeinden im irischen Norden. Die seelischen Wunden sind nicht verheilt. Immerhin trägt der Friedensprozess Früchte, und die politische Lage in der früheren Unruheprovinz ist stabil. Wäre der Saville-Report in den 90er Jahren veröffentlicht worden, wer weiß, ob er nicht die Öffentlichkeit polarisiert und die radikalen Gruppen gestärkt hätte.

Dennoch dürften die Hinterbliebenen der 14 getöteten Demonstranten über den verspäteten Abschluss der Mammut-Untersuchung nicht sehr glücklich sein. Erstens, weil das lange Warten die Brisanz der Wahrheit über den „Bloody Sunday“ weitgehend entschärft hat. Zweitens, weil diese Wahrheit eine Rekordsumme von 195 Millionen Pfund kostet. Wenn der Bericht wirklich rund 30 Millionen Worte enthält, macht das umgerechnet acht Euro pro Wort: Damit hat Saville jedes von ihnen auf die Goldwaage gelegt.

In Zeiten von strenger Sparsamkeit halten viele Briten diese gigantischen Ausgaben für einen schlechten Scherz. Zum Kummer der betroffenen Familien, die einzig an der Aufklärung der Tragödie interessiert sind, lenkt die Berichterstattung in den Medien über die bürokratischen Hindernisse und bizarren Anwaltshonorare bei der Untersuchung die Aufmerksamkeit weg von dem zentralen Schluss des Berichts. Danach ist das Militär verantwortlich für die Tode der Zivilisten, die vom Terrorverdacht freigesprochen werden.

Trotz aller Kritik über Saville war es für die Menschen in Nordirland wichtig, diese Wahrheit zu erfahren. Um das Trauma der Vergangenheit zu überwinden, brauchen sie den Glauben an die Gerechtigkeit. Der Bericht ist eine notwendige Therapie für das Geschwür des Misstrauens gegen den Staat und seine Justiz, das die Aussöhnung von Katholiken und Protestanten erschwert hat. Er wirft jedoch eine beunruhigende Frage auf: Ist es gerecht dass die Soldaten rechtlich verfolgt werden könnten, während die früheren Paramilitärs und IRA-Terroristen Straffreiheit genießen?

· Siehe auch die Reportage unseres Autors