London

Wie das Netz gewoben wurde: Vor 20 Jahren veränderte “WWW” unser Leben

Ritter des Netzes: Tim Berners-Lee wurde für seine Idee vom Internet von der Queen zum Sir geadelt. Das Foto zeigt ihn 1994 bei CERN.
Ritter des Netzes: Tim Berners-Lee wurde für seine Idee vom Internet von der Queen zum Sir geadelt. Das Foto zeigt ihn 1994 bei CERN. Foto: CERN

Amy Taylor ist keine Frau, nach der sich die Männer umdrehen: klein und kugelrund, mit gerötetem Gesicht und kleinen Augen hinter einer unmodischen Brille. Dennoch schaffte es die 101 Kilo schwere Kellnerin aus London, die Liebe ihres Lebens zu finden – Dave, einen glatzköpfigen Ex-Clubinhaber aus Cornwall. Dass ihre Ehe zerbrach, liegt auch an einer Erfindung, die nun ihren 20. Geburtstag feiert: das Internet. http://swns.com/love-rat-hubby-cheated-in-the-virtual-world-101603.html 2008 sorgte Amy für Schlagzeilen, als ihre Ehe zerbrach. Die Britin ließ sich von ihrem Mann scheiden, nachdem sie ihn beim Liebesspiel auf dem Internet-Portal „Second Life“ mit einer computergenerierten Prostituierten erwischt hat.

Lesezeit: 4 Minuten
Anzeige

London – Amy Taylor ist keine Frau, nach der sich die Männer umdrehen: klein und kugelrund, mit gerötetem Gesicht und kleinen Augen hinter einer unmodischen Brille. Dennoch schaffte es die 101 Kilo schwere Kellnerin aus London, die Liebe ihres Lebens zu finden – Dave, einen glatzköpfigen Ex-Clubinhaber aus Cornwall. Dass ihre Ehe in die Brüche ging, liegt auch an einer Erfindung, die nun ihren 20. Geburtstag feiert: das Internet.

2008 sorgte Amy für Schlagzeilen, als ihre Ehe zerbrach. Die Britin ließ sich von ihrem Mann scheiden, nachdem sie ihn beim Liebesspiel auf dem Internet-Portal „Second Life“ mit einer computergenerierten Prostituierten erwischt hat. Womöglich wären beide heute noch glücklich verheiratet, hätte sich nicht ihr Landsmann Tim Berners-Lee Ende der 80er Jahre diese Frage gestellt: „Wie können wir Daten umwandeln, so dass sie ein imaginäres System bilden, welches jedermann lesen kann?“ Als Antwort erfand der damals 35 Jahre alte Physiker das „World Wide Web“ (WWW) und veränderte damit die Leben von Amy und weiterer 1,8 Milliarden Menschen (so viele nutzen das Internet). Es ist jetzt schwer vorstellbar, dass es eine Zeit gegeben hat, in der wir kein virtuelles Computernetz, sondern nur Fischernetze gekannt haben.

Netzwerkkabel
Das Internet kennt viele verschlungene Pfade – manche Inhalte finden sich plötzlich in ganz anderen Zusammenhängen wieder, die nie beabsichtigt waren.
Foto: DPA

Heute vor 20 Jahren hat Berners-Lee sein Projekt in die weite Welt entlassen. Am 6. August 1991 beschrieb der Mitarbeiter des europäischen Kernforschungszentrums CERN in Zürich die Prinzipien von WWW in der „alt.hypertext“- Newsgruppe, er erklärte die Funktionsweise eines Servers und verlinkte die Beschreibung zur ersten Webseite der Welt. Der Brite beendete seine Nachricht mit den Worten „Wir sind daran interessiert, das Netz zu verbreiten. Mitarbeiter sind willkommen“. Er konnte wohl kaum ahnen, welche gewaltige Revolution er damit lostreten würde.

Es ist eine Enttäuschung, Sir Tim live zu erleben. Der 2004 von der Queen zum Ritter geschlagene Engländer spricht schnell und holprig, er verschluckt Laute, fuchtelt aufgeregt mit den Händen und schaut unablässig zu allen Seiten, als würde er eine Verfolgung befürchten. Einen „Gott der Information“ stellt man sich anders vor. Dennoch erklärten 1999 und 2007 die US-Zeitschrift „Time“ und der „Daily Telegraph“ Berners-Lee zu einem der 100 größten Genies des 20. Jahrhunderts – sicher zu Recht. Er selbst schmückt sich ungerne mit Lorbeeren. Auf seiner Webseite erklärt der bescheidene Wissenschaftler beispielsweise, dass er nicht das Internet erfunden habe: „Damals war alles Nötige bereits da… Ich musste nur das Hypertext-Prinzip mit dem TCP-und DNS-Prinzip verbinden und – tataa! – fertig war das Netz“.

Berners-Lee hat Physik an der Uni Oxford studiert. Dort bastelte er sich einen Computer aus einem kaputten Fernsehgerät. Nach dem Studienabschluss mit Auszeichnung entwickelte er Software, ehe er 1980 zum CERN kam. Dort baute der junge Ingenieur zunächst die auf dem Hypertext-Prinzip basierte Datenbank “Enquire“ auf, in der jede neue Seite mit einem existierenden Eintrag verlinkt wurde. Mitte der 80er Jahre stand Berners-Lee vor einer neuen Herausforderung: Er musste einen Weg finden, wie Forscher aus aller Welt ihre auf unterschiedlichen Computersystemen gespeicherten Informationen lesen und austauschen könnten. Alles musste mit allem verknüpft werden. 1989 schlug der Londoner die Idee eines globalen Hypertext-Systems vor.

Aber wie sollte es heißen? Berners-Lee favorisierte den Namen „The Information Mine“, verwarf ihn aber, weil es abgekürzt seinen eigenen Namen ergab: TIM. „World Wide Web“ klang dagegen uneitel und traf den Kern. Bis Dezember 1990 entwickelte der Brite alle nötigen Instrumente für das Internet: die Web-Sprache HTML, das Datenprotokoll HTTP, einen Browser und die Server-Software. Von Anfang an war klar, dass das „Surfen“ im Ozean der Information nichts kosten sollte. So faszinierend die Netz-Idee war, sie konnte nur funktionieren, wenn genügend Menschen eigene „Knoten“ knüpfen würden. „Das Schwierigste war, die Leute zur Teilnahme zu bewegen. Das mache ich heute noch“, sagt Berners-Lee, der unter anderem seit 1994 als Chef des „World Wide Web Consortium“ (W3C) über die globalen Internet-Standards wacht.

Binnen vier Monaten nach der Premiere des WWW entstanden die ersten Server Europas außerhalb des CERN. Am 5. November 1986 konnten die ersten Seiten mit .de-Endungen registriert werden, aus sechs Seiten im März 1988 sind bis Ende Juli mehr als 14,5 Millionen geworden.

Berners-Lee genießt großen Respekt, reich wurde er jedoch mit seiner Erfindung jedoch nicht. „Während andere im Internet Millionen verdienen, bezieht er ein bescheidenes Akademiker-Gehalt und fährt mit einem 20 Jahre alten VW Golf zur Arbeit“, schrieb 2004 die „Sunday Times“. Immerhin bejubelte die Zeitung den Netzpionier als „den wichtigsten Briten der Gegenwart“.

Berners-Lee weiß, dass er einen Dschinn aus der Flasche freigelassen hat, der auch dunkle Seiten hat. 20 Jahre nach der Geburt des WWW warnen manche Psychologen vor einer „Verkürzung der Aufmerksamkeitsspanne“ der Internetbenutzer und der Flucht vor realen Problemen in virtuelle Traumwelten. „Cyber-Verbrechen“ kosten Großbritannien mehrere Milliarden Pfund im Jahr. Die britischen Behörden werden jeden Monat im Schnitt von 20 000 E-Mails mit schädlichen Codes bombardiert. In den vergangenen Jahren haben mehrere Menschen im Königreich sich „live“ im Internet umgebracht oder in Webforen Absprachen zum gemeinsamen Selbstmord getroffen.

„Mr. WWW“ akzeptiert die Kritik an seiner Schöpfung und ruft ihre Benutzer dazu auf, das Netz zum Wohl der Menschheit zu nutzen. „Jede mächtige Technologie kann guten oder schlechten Zweck erfüllen“, schreibt Sir Tim auf seiner Webseite. „Die meisten schlimmen Dinge im Leben, auch Kriege, geschehen, weil die Menschen einander nicht verstehen. Darum lasst uns einander im Netz helfen“.

Von unserem Londoner Korrespondenten Alexei Makartsev