Tokio

Twitter schreibt Geschichte(n): Buch zum Japan-Beben in sieben Tagen

2:46 Uhr - und Japan war erschüttert. Ein Buch versucht, das in Worte und Bilder zu fassen und zugleich zu helfen. Die Autoren fanden sich ausschließlich über Twitter.
2:46 Uhr - und Japan war erschüttert. Ein Buch versucht, das in Worte und Bilder zu fassen und zugleich zu helfen. Die Autoren fanden sich ausschließlich über Twitter. Foto: James White/Design: Edwar

2.46 Uhr am 11. März – das war die Uhrzeit, die alles änderte. 2.46, so heißt auch das vermutlich erste Buch, das es zum Erdbeben in Japan gibt. Geschrieben haben das „Quakebook“ Twitter-Nutzer. Ein britscher Blogger hatte die Idee, binnen sieben Tagen ein Buch zu machen. Jetzt kommt es als eBook und kann dann zeigen, ob es wirklich das Zeug zum Musterbeispiel für die guten Seiten des Netzes hat.

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Tokio – 2.46 Uhr nachmittags am 11. März – das war die Uhrzeit, die alles änderte. 2.46, so heißt auch das vermutlich erste Buch, das es zum Erdbeben in Japan gibt. Geschrieben haben das „Quakebook“ Twitter-Nutzer. Ein britscher Blogger hatte die Idee, binnen sieben Tagen ein Buch zu machen. Jetzt kommt es als eBook und kann dann zeigen, ob es wirklich das Zeug zum Musterbeispiel für die guten Seiten des Netzes hat.

Wie kann ein früherer britischer Journalist, der östlich von Tokio in seiner Wahlheimat Japan Englisch unterrichtet, den Menschen nach dem Beben und dem Tsunami helfen? Eine Woche zerbrach er sich den Kopf, dann fiel dem 40-Jährigen die Antwort beim Duschen ein. Und sie elektrisierte ihn nach der Machtlosigkeit zuvor so sehr, dass es seine japanische Frau stark irritierte. „Willst Du Dir nicht was anziehen?“, fragt sie den hageren Mann, der am 18. März nackt und aufgeregt in sein Smartphone tippt. Was er da twitterte, hat zumindest Menschen quer über den Globus beseelt. „Ich möchte ein Buch mit Erfahrungsberichten zum Beben zusammenstellen, binnen einer Woche veröffentlichen und alle Erlöse dem Roten Kreuz spenden. Die Technik haben wir.“ 250 Wörter möge man schreiben – und per E-Mail schicken.

Bis zur ersten Einsendung dauerte es 30 Minuten, 74 Rückmeldungen hatte er nach 15 Stunden – fertig war es auch nach etwas mehr als einer Woche – aber noch nicht bei Amazon für das digitale Lesegerät Kindle zu kaufen. Da schürt die Seite Quakebook bisher nur die Erwartungen. Die Konzerne werden die „Geschichten von Schock, Überleben und Hoffnung“ vertreiben, ohne vom Erlös etwas für sich abzweigen.

In dem Buch sind Beiträge von evakuierten Japanern, von Ausländern, die mitfühlen, aber auch von Yoko Ono oder dem Science Fiction-Autor William Gibson. „One man“ gab Gibson, der den Begriff Cyberspace geprägt hat, eine Frist von drei Stunden für 300 Worte – und wurde sich erst dessen richtig bewusst, als der Text dann auch pünktlich da war.

Der Englischlehrer, dessen Name herauszufinden ist, der aber lieber mit dem Pseudonym „Our Man in Abiko“, dem Namen seines Blogs auftritt, wurde überrollt von Rückmeldungen. Also fragte er wieder bei Twitter: „Kann jemand helfen.“ Der erste Helfer meldete sich aus Kalifornien, wenig später auch jemand aus Irland. Mehr als 200 Menschen kommen schließlich zusammen, die am Buch arbeiten, übersetzen, eine Pressekonferenz organisieren, Gespräche mit Amazon und Sony führen und auch Apple – bislang ohne Ergebnis – ins Boot holen wollen. Einen virtuellen Newsroom habe er von seinem Schlafzimmer aus gesteuert, sagte „Our man“ bei der Pressekonferenz. Mit Wildfremden, die ehrenamtlich mitarbeiteten.

Wunderwaffe Twitter? Der Blogger verhehlt nicht, dass er großer Fan des Netzwerks ist, dass man dort wunderbare Menschen kennenlernen könne. Er sagt aber auch: „Social Media bringt Leute nur zusammen. Wenn sie Nonsens reden wollen, reden sie Nonsens.“ Wenn sie etwas Gutes tun wollten, könnten sie aber auch etwas Gutes tun. „Es ist ein Werkzeug. Man muss keine Sorge davor haben“, sagte er in der Pressekonferenz mit den Auslandsjournalisten.

Im Buch finden sich Fotos – bei Flickr gibt es ein eigenes Album, in das Bilder hochgeladen werden konnten, Kunst, und eben die Gedanken und Erlebnisse von Menschen, die das Geschehen nicht loslässt. Da ist der Bericht von Takanori Hayao, der mit Frau, Kind und schlechtem Gewissen das am Boden liegende Sendai verlassen hat und dann mit noch mehr Gewissensbissen seine Frau zurückfahren ließ. Nur eine Stunde entfernt hatte es all das gegeben, was in Sendai so dringend fehlt, also wollte seine Frau noch einmal mit einem Auto voller Hilfsgüter zürck. Und beide organisierten zwei Kleinbusse, um noch weitere Menschen aus Sendai zu holen.

Ein Mann in seinen Achtzigern mag nicht über das stundenlange Schlangestehen klagen, weil es ja für junge Mütter mit kleinen Kindern noch schwieriger sei – und Japan auch das überstehen wird. Nur knapp die Hälfte der Berichte sind von Japanern aus Japan. Eine Schwäche des Buches? „Our Man“ sieht das nicht negativ, sondern als Zeichen an Japan, dass das Beben die Menschen überall mitfühlen lässt. Symbolisch dafür könnte ein Foto stehen, dass ein Ehepaar in einem Flüchtlingslager zeigt, begleitet vom Text des im Ausland lebenden Kindes: Das Foto war das erste Lebenszeichen von den Eltern.

Es findet sich aber auch der Bericht eines Ausländers, der zu erklären versucht, warum er Japan verlassen hat – schweren Herzens. Aus Gajins, dem japanischen Wort für Ausländer, wurden angesichts der Massenflucht etwas geringschätzig „Flyjins“, die wegfliegenden Ausländer. Der britische Blogger Our Man und andere Helfer bei dem Buchprojekt wollen „Tryjins“ sein, Menschen, die geblieben sind und versuchen, zu helfen.

Mit dem Erlös aus dem Buch wollen sie helfen. Aber auch mit dem Projekt selbst: „Die Gefühle niederzuschreiben ist etwas Magisches, es zu teilen ist etwas Magisches und an etwas mitzuwirken, was zusammengenommen stärker ist als die Summe der Einzelteile, das sei großartig.“ Einen zweiten Band mit weiteren Einsendungen haben sie schon vor Augen, gerne dann auch mit 500 Seiten. Der bisherige Erfolg des Projekts hat den Machern erkennbar sehr viel Auftrieb gegeben. Auf Twitter nennen sie es einen „Weg, wie die Welt ihre Unterstützung zeigen kann, wie es das noch nie zuvor gab“.

Aber bei all der Begeisterung und Berichten bei CNN und Forbes: Noch ist völlig offen, wie sich das Buch verkaufen wird. Von 1000 Vorbestellungen schrieben sie am Freitag, und eigentlich verwunderlich wenige Menschen sind bislang Follower des Twitter-Accounts @Quakebook oder mögen bislang die Facebook-Seite. Selbst ein eingängiger Popsong einer japanisch-multinationalen Formation zur Unterstützung dümpelt bei YouTube noch vor sich hin:

Auch dazu hatte „Our Man“ den Anstoß gegeben. Seine eigene 2.46 Uhr-Schilderung wird man aber in dem Buch vergebens suchen. „Das war zu unspektakulär. Ich gab Englischunterricht bei mir Zuhause und bin mit meiner Familie aus dem Haus. Ich hatte meine Familie bei mir, das war das wichtigste.“

Lars Wienand