Schirrmacher gestorben: RZ-Interview aus 2010 über „Payback“

Frank Schirrmacher
Frank Schirrmacher ist tot. Foto: Fredrik von Erichsen

Frank Schirrmacher ist am Donnerstag an einem Herzinfarkt verstorben. RZ-Redakteurin Rena Lehmann traf den Autor und Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ 2010 in Frankfurt zum Interview. Unsere Computer zwingen uns so zu denken wie sie – behauptete Schirrmacher in seinem Buch „Payback“ und löste mit dieser These eine breite Debatte über die Folgen der Datenüberflutung aus. Hier das Interview:

Lesezeit: 6 Minuten
Anzeige

Frankfurt – Im Minutentakt poppt am Bildschirm eine E-Mail auf. Am modernen Arbeitsplatz ist Multitasking gefragt – mehrere Projekte fordern gleichzeitig unsere Aufmerksamkeit ein. „Das verändert unser Denken“, sagt der Autor und Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Frank Schirrmacher (50). In seinem Buch mit dem Titel „Payback“ fordert er, dass der Mensch die Kontrolle über sein Denken zurückgewinnen muss. Wir trafen ihn in Frankfurt. Das Interview:

Datenstrom
Datenstrom
Foto: Illustration: Kevin Rühle

Wer soll noch Ihre „FAZ“ lesen, wenn das Internet unsere Hirne zerstört hat?

Schirrmacher
Frank Schirrmacher, Herausgeber der FAZ, provoziert eine Debatte über die Folgen der Datenüberflutung.
Foto: DPA

Ich sage nicht, dass das Internet unsere Hirne zerstört, sondern dass das Multitasking sie zerstört. Eine Therapie dagegen ist zum Beispiel das Lesen der FAZ.

Das Internet fördert Multitasking. Ist es keine Konkurrenz für die Zeitung?

Wir befinden uns zurzeit in einer Versuchsphase. Die moderne Gesellschaft wird sich in Bewusstseinsströmen organisieren. Der Mensch lebt in einem Bewusstseinsstrom. Dieser wird gespeist von seinem Social-Media-Account, von Dingen wie Twitter oder dessen Nachfolger. Das heißt, der Mensch ist seine eigene Nachrichtenzentrale. Und darum ist es für Zeitungen natürlich wichtig, in diesen modernen Systemen aktiv zu sein. Es ist aber völlig absurd zu glauben, man könnte diese in irgendeiner Form erobern. Zeitungen sind ja schon da, wo die alle hinwollen. Sie haben einen Namen, sie sind eine Marke. Für die Zeitung ist es eine Verbreitungsplattform, aber nicht ihre Zukunft.

Was ist die Zukunft der Zeitung?

Es geht um Qualität. Sie sinkt, wenn immer mehr Zeitungen immer das Gleiche schreiben. Qualität heißt Eigenständigkeit – nicht Automatisierung. Es heißt Vertrauen in das größte Kapital, nämlich den einzelnen Redakteur und seine Fähigkeiten zu haben. Man darf sich nicht verwechselbar und abhängig vom Internet machen.

Wie sollen Verlage denn Ihrer Meinung nach auf das Internet reagieren?

Sie können Sparkonzepte auflegen, indem sie auf Automatisierung und Internet setzen und Stellen abbauen. Das geschieht bereits, und das halte ich für den Weg in den Untergang. Die andere Möglichkeit ist, dass wir alles, was auf Verlagsebene läuft, automatisieren, aber nicht an der Redaktion sparen. Das ist der Weg in die Zukunft. Das Schlimmste ist der Verlust an Selbstbewusstsein, insbesondere bei den Regionalzeitungen.

Es gibt eben doch Konkurrenz aus dem Netz, dazu eine Wirtschaftskrise ...

Aber es ist noch immer so, dass die Mehrheit der Informationen über den Filter traditioneller Medien läuft. Und ich sehe keinen Grund, warum sich das noch ändern sollte. Es gibt jetzt 15 Jahre das World Wide Web und fast 10 Jahre Web 2.0. Ich ich sehe bisher kein einziges Geschäftsmodell, das mit der Zeitung konkurrieren könnte.

Blogger Sascha Lobo hat Ihnen vorgeworfen, Sie hätten Angst um die Informationshoheit der Journalisten …

Mein Buch ist in bestimmten Kreisen der Bloggerszene diskutiert worden, ohne gelesen worden zu sein. Es ist eine rein mechanistische Reaktion. Der Journalismus in Deutschland ist vielleicht schlechter geworden, aber es gibt kein einziges Indiz dafür, dass er seine Bedeutung im gesellschaftlichen Diskurs verloren haben soll.

Sie werden von einigen in die Ecke gestellt als einer, der Angst hat um seine Pfründe.

In diesen ganzen Debatten zeigt sich oft auch ein ziemlicher Hass auf die freie Meinungsäußerung. Da ist in der Internetszene immer die Rede von Holzmedien oder toten Medien. An wen sollte ich meine Pfründe denn verlieren? Ans Internet? Da sind wir Zeitungen auch drin. In meiner Debatte geht es um eine ganz andere Ebene.

Um welche?

Es geht darum zu erkennen, dass die digitale Revolution viel mehr ist als Medien. Diese Revolution betrifft die Arbeitsplätze, die Medizin, die staatliche Überwachung. Wir gehen in eine Phase der Vorausberechnung hinein, die unsere Freiheitsrechte beschränken könnte. Und wir haben in Deutschland wenige Experten, mit denen wir da〜rüber reden können. Es ist doch nicht schwierig, zu twittern oder sonst wie im Internet unterwegs zu sein. Wir tun hierzulande gerade so, als wäre es eine Elite, die damit umgehen kann. Das ist doch lächerlich, das kann jede Oma. Für mich sind Experten interessant. Das sind vor allem die, die sich leider selten äußern.

Sie beschreiben in Ihrem Buch ein Gefühl der Überforderung mit dem Datenüberfluss, dass sie mit vielen Menschen teilen. Woher kommt dieses Gefühl?

Es werden heute in einem Jahr mehr Daten gespeichert, als die ganze Menschheit an Worten gesprochen hat. Und jetzt ist es doch naheliegend zu fragen: Wer erfasst diese Daten noch? Meine gesamte Familie, meine Freunde, meine Mitarbeiter senden Daten. Wie soll man den Überblick behalten? Die Antwort der Technologie heißt: Das mache ich für dich. Ich wähle das alles aus.

Was ist denn so schlimm daran?

Es könnte sein, dass wir damit in eine Art Matrix hineinkommen. Wir produzieren ständig neue Daten, werden aber auch immer abhängiger davon, dass ein Filter, der technologisch strukturiert ist, uns etwas auswählt. Das heißt: Ich kann selbst gar nicht mehr beurteilen, welche Sachen für mich wichtig sind und welche nicht. Weil es eine Maschine für mich macht. Ich bin nur Teil einer Debatte, die längst begonnen hat. Und sie ist 2009 durch eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen erhärtet worden.

Was kam dabei heraus?

Das Kurzzeitgedächtnis leidet unter Multitasking. Wir haben eine Informationsüberflutung, es gibt die Unfähigkeit des Menschen zu filtern und müssen uns auf Maschinen verlassen. Je vergesslicher wir werden, desto stärker brauchen wir die Filter und desto schlimmer wird die Informationsflut.

Aber welche Folgen hat diese Flut?

Riesige wirtschaftliche Schäden. Der Computer hat uns zwar wahnsinnig viel abgenommen. Da muss viel Zeit und Geld eingespart worden sein. Aber den Produktivitätsgewinn sieht man gar nicht, sondern man merkt nur, dass es nur noch hektischer wird und man alles selbst übernehmen muss. Das kann zu einer total selbstausbeuterischen Gesellschaft führen. Sie denken: Oh Gott, alle können Multitasking nur ich nicht, also passen Sie sich an. Was im schlimmsten Fall passieren könnte, ist das, was Huxley in der „Schönen, neuen Welt“ beschreibt: eine Unterdrückung, die wir lieben.

Das klingt ziemliche düster.

Aber es gibt Mittel, das zu verhindern. Viel wichtiger als Fakten zu lernen ist es heute, Heuristiken zu lernen, das Denken zu lernen, das Zweifeln zu lernen. Ein Beispiel: In Dänemark dürfen sie bei der Abiturprüfung das Internet benutzen, und das ist auch richtig. Jeder Mensch kann doch heute, wenn er gefragt wird, wie ein Verbrennungsmotor funktioniert, einfach im Netz nachsehen. Der Fakt ist nicht mehr das Wichtige. Wichtiger ist: Wie erkenne ich, was richtig ist? Wie weiß ich, was wichtig ist?

Sind wir dümmer als unsere Rechner?

Es gibt Leute, die das glauben. Ich glaube, dass es einen Zusammenprall zweier völlig verschiedener Intelligenzformen gibt. Die des Computer ist algorithmisch, das heißt nach Rezepten denkend: Mische A und B mit C, dann erreichst du D. Die menschliche Intelligenz ist viel mehr. Sie hat mit der Logik zum Teil große Probleme, ist sehr kreativ und unberechenbar. Die Computer sind nicht klüger als wir, aber man wird immer stärker reingesogen in ihre Version von Intelligenz. Darum muss genau das gestärkt werden, was Menschen können.

Was weiß das Netz über uns?

Google zum Beispiel weiß mehr als jede Psychologie. Nehmen wir mal Ihr Profil: junge Redakteurin, wir wissen, was Sie lesen, und wir kennen ein paar Ihrer Freunde. Nehmen wir an, Sie hätten eine besondere Vorliebe für einen bestimmten Wein oder eine bestimmte Musik. Und jetzt kommt der große Moment: nämlich die Vernetzung, der Vergleich. Welche Menschen kennen wir noch, die diese Vorliebe haben und die gleichen Daten? Siehe Amazon, wenn Sie dort ein Buch kaufen. Wenn Sie diese Daten haben, können sie unglaublich viel schlussfolgern. IBM macht das mit seinen Mitarbeitern: Sie haben eine Person, die ist 25, es gibt eine andere 45-Jährige, die mit 25 so wie sie war. Nun könnte der Computer warnen: Passt auf bei ihr, es könnte dies und das passieren. Das ist keine Science-Fiction.

Wollen Sie nur ein Bewusstsein dafür schaffen?

Ich will, dass es Konsequenzen gibt. Das Bildungssystem muss reagieren, alles stärken, was nicht-algorithmisches Denken ist. Das hat überhaupt nichts mit einer Anti-Internet-Haltung zu tun, sondern es ist eine Überlebensstrategie. Sonst entscheidet letztlich ein Automatismus darüber, wie eine Nachricht, ein Leben, ein Kredit oder ein Gesundheitszustand zu bewerten sind. Das halte ich für gefährlich, abgesehen davon, dass es irrsinnige Möglichkeiten der Manipulation bietet.

Wie gehen Sie selbst mit Ihren Daten um?

Ich bin völlig vernetzt, aber ich bin nicht bei Facebook oder MySpace oder so. Da habe ich mir in Amerika zeigen lassen, was damit möglich ist.

Aber wie sollte es eine Kontrolle über das Internet geben? Es ist doch uferlos, unkontrollierbar.

Das World Wide Web ist nur die Spitze des Eisbergs. Es geht nicht darum, es zu kontrollieren. Entscheidend ist, dass künftig alles – vom Heizungssensor bis zur Ampelanlage oder möglicherweise bis zur Kleidung – mit dem Netz verbunden sein wird. Das ist viel mehr als das Netz, das wir bisher kennen. Es wird so aussagekräftig sein, dass wir vom Stuhl fallen. Es geht darum zu sehen, dass diese Intelligenz unsere Gesellschaft neu definiert. Der Mensch aber muss Herr seiner Daten bleiben.

Das Gespräch führte RZ-Redakteurin Rena Lehmann.