London

Charlie Veitch und seine „Love Police“ rüsten sich für 9/11

Charlie Veitch in London.
Charlie Veitch in London. Foto: Alexei Makartsev

Sein Megaphon nennt Charlie Veitch „die Kalaschnikow des 21. Jahrhunderts“. Der Erfinder der „Love Police“ hat sich für den Jahrestag des 11. Septembers einiges vorgenommen.

Lesezeit: 4 Minuten
Anzeige

London – Am Sonntag will Charlie Veitch wieder verhaftet werden. Zusammen mit 50 Gleichgesinnten wird er am Trafalgar Square aus einer Stereoanlage laute Tanzmusik spielen, Reden halten und die Polizisten filmen, die ihn selbstverständlich abführen werden.

Charlie weiß, dass seine Party am zehnten Jahrestag des 11. September für Ärger sorgen wird. Er stört ihn nicht. „Wir wollen nicht respektlos erscheinen, aber es ist an der Zeit, alles Positive im Leben zu feiern“, sagt der junge britische Filmemacher. „Wir haben seit 2001 in Angst gelebt. Es reicht! Wir müssen uns gegen den Staat wehren“.

Angst wovor? Vor dem Terrorismus, den „bösen Muslimen“, den strengen Sicherheitsregeln, der Totalüberwachung, dem Verlust der Freiheiten, der Invasion der Politiker in die Privatsphäre der Menschen. Die Angst vor der eigenen Angst. Charlie Veitch war ein Produkt des „Systems“, ein Rädchen im Getriebe der Geldmaschine City of London. Jetzt führt er eine friedliche Rebellion dagegen an. Als Chef der „Love Police“ (Liebespolizei) ist der 31-jährige Anarchist eine Internet-Berühmtheit und ein Schreck der Sicherheitskräfte, die er bei seinen kreativen Protestaktionen zu „knuddeln“ versucht. Charlie wurde 13 Mal festgenommen. Er kriegt wütende Briefe von Menschen, die ihn töten oder in eine Heilanstalt einsperren wollen. Dennoch hält er es für seine Pflicht, die Briten „aufzuwecken“.

Es ist sechs Jahre her, seit der Ex-Premier Tony Blair der „fanatischen Minderheit“ in Großbritannien mit Repressionen gedroht hat. „Es gibt neue Spielregeln“, sagte Blair nach den Anschlägen im Juli 2005 in London. Dieser Satz markierte eine Verschärfung der Anti-Terror-Gesetze, die von vielen Bürgerrechtlern als „repressiv“ kritisiert werden. Tatsächlich hatte das Parlament die „Spielregeln“ bereits vor dem 11. September 2001 geändert. So bekam die Polizei das Recht, die Menschen auf der Straße kurzfristig festzunehmen und zu durchsuchen.

Später wurde die Dauer der Inhaftierung von Verdächtigen ohne Anklage auf 28 Tage verdoppelt, die Videoüberwachung wurde ausgeweitet, Fotoverbote von Polizisten und Gebäuden wurden durchgesetzt und die Innenminister erhielten das Recht, potenzielle Terroristen auch ohne Schuldsprüche unter Hausarrest zu setzen. Zwischen 1998 und 2009 zählten die britischen Menschenrechtler mehr als 50 neue Maßnahmen, die die Bürgerfreiheiten eingeschränkt haben, weswegen die frühere MI5-Chefin Stella Rimington das Königreich einen „Polizeistaat“ nennt.

Doch der Widerstand wächst. So versuchen Organisationen wie Liberty und Big Brother Watch, durch geduldige Lobbyarbeit die Gesetze aufzuweichen. Dagegen setzen die Anarchisten auf direkte Aktion. Seit 2009 hat London mehrere, nicht immer gewaltfreie Protestaktionen gegen Globalisierung, Staatswillkür, Banken, Politiker und Royals erlebt. „Ich habe eine spezielle Methode, um die Menschen wachzurütteln“, sagt Charlie Veitch. Statt die Obrigkeit mit Steinen und Molotow-Cocktails anzugreifen, setzt der Erfinder der „Love Police“ eine Videokamera und einen Megaphon ein, den er „die Kalaschnikow des 21. Jahrhunderts“ nennt.

Charlie ist halb Schotte und halb Brasilianer. Der groß gewachsene, bärtige Mann hatte nach seinem Uniabschluss in 2002 sieben Jahre lang als hochbezahlter Banker in der City die Vermögen der Superreichen verwaltet, ehe er zum Opfer der Finanzkrise wurde. 2009 landete Veitch auf der Straße und beschloss, als Dokumentarfilmer gegen die Anti-Terror-Willkür und das „unfaire“ Gesellschaftssystem zu kämpfen. Gemeinsam mit seinem Freund Danny Shine gründete er die „Liebespolizei“ – ein Team aus redegewandten „Wahrheitssuchern“, das durch provokante Auftritte für Unruhe sorgt. Auf Videos* im Internet sieht man Charlie und Danny vor der Börse, Banken und Botschaften stehen. „Alles in Ordnung. Denken ist harte Arbeit. Ihre Regierung hat alles unter Kontrolle. Bitte schauen Sie in die Überwachungskameras und gehen Sie weiter einkaufen“, verkünden die falschen Polizisten.

Sie bringen die Menge zum Lachen, indem sie die echten Ordnungshüter umarmen. Oder sie ziehen sich als „nackte Affen“ aus, um die Zensur bloßzustellen. Hinter den heiteren Aktionen stecke eine knallharte Botschaft, erklärt Veitch: „Die Politiker haben uns versklavt. Sie halten die Bevölkerung im Angst, um sie besser kontrollieren zu können. Dabei überfallen sie andere Länder und rauben ihre Ressourcen. Die ,Liebespolizei‘ will, dass nicht der Staat, sondern die Menschen selbst über ihre Leben entscheiden“.

Danny ist aus dem Projekt ausgestiegen, dafür wird Charlie Veitch immer berühmter. Seine Filme auf YouTube haben Millionen Menschen gesehen. Vor dem Jahrestag des 11. September bat die BBC den Anarchisten darum, eine Sendung über Verschwörungstheoretiker mitzugestalten. Charlie hat nach der „Befreiung“ der Briten ein neues Projekt vor: Er will für die unterdrückten Menschen weltweit einen Film über die Früchte des „arabischen Frühlings“ drehen, damit sie den Freiheitskämpfern in Tunesien folgen können. Alexei Makartsev

Videokanal von Charlie Veitch

The Love Police