Verbotene Liebe

Von DIRK EBERZ
Foto: markus dehlzeit

Bis 1969 ist Liebe unter Männern eine Straftat. Schwule werden schikaniert, ausgegrenzt, staatlich verfolgt. Auch in Rheinland-Pfalz. Die meisten Opfer schweigen. Ein Forschungsbericht des Mainzer Familienministeriums hat das dunkle Kapitel jetzt aufgearbeitet.

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Gerd E. hat das Briefkuvert mit seinem Büschel blonder Haare aufbewahrt. 50 Jahre lang. Eine Erinnerung an einen der fürchterlichsten Momente seines Lebens. Den Tag, als ein Mob seine Mainzer Szenebar stürmt, um auf Gäste und Wirt einzuschlagen. Die Kneipe ist in den 60ern ein stadtbekannter Schwulentreff. Gerd E. steht damals hinter der Theke. „Sie haben auf uns eingedroschen wie die Verrückten“, erinnert sich der heute 70-Jährige. Kunden werden verprügelt. Ihm selbst werden mehrere Zähne ausgeschlagen, die Haare ausgerissen. Gerd E. meldet den brutalen Überfall der Polizei. „Passiert ist nichts“, sagt er verbittert. „Keiner der Täter ist bestraft worden.“ Es sei wohl gar nicht erst ermittelt worden.

Kein Einzelfall im prüden Nachkriegsdeutschland, wohl eher die Regel. Wer einmal als „175er“ gebrandmarkt ist, wird ausgegrenzt, beleidigt, gedemütigt. „Das war der soziale Tod“, sagt Joachim Schulte von Queernetz Rheinland-Pfalz. Das Netzwerk, das unter anderem Schwule und Lesben vertritt, hat maßgeblich dazu beigetragen, Verfolgung und Diskriminierung von Homosexuellen in Rheinland-Pfalz aufzuarbeiten. „Da sind wir Vorreiter unter den Flächenstaaten“, betont Schulte. Ein kleiner Trost für Gerd E., der an dem Forschungsbericht des Mainzer Familienministeriums mitgearbeitet hat.

Die Historiker Dr. Günter Grau und Dr. Kirsten Plötz haben ein düsteres Kapitel aufgeschlagen. Homosexualität ist in der jungen Bundesrepublik nicht nur ein Stigma, das gesellschaftlich geächtet wird. Homosexualität ist auch ein Straftatbestand, auf den bis zu fünf Jahre Gefängnis stehen. In „erschwerten Fällen“ drohen schwulen Männern sogar zehn Jahre Zuchthaus. Den berüchtigten Strafrechtsparagrafen gibt's schon seit dem Kaiserreich. Doch 1935 ist er von den Nazis erheblich verschärft worden. „Er wurde dann praktisch eins zu eins von der Bundesrepublik übernommen“, sagt Schulte.

Und er wird konsequent angewandt. Auch und gerade in Rheinland-Pfalz. 2880 Männer sind im Land von 1948 bis 1969 verurteilt worden – darunter 630 Jugendliche. Viele müssen hinter Gitter. „Dort standen sie auf der untersten Stufe der Gefängnishierarchie “, sagt Schulte.

Für viele Betroffene hält das Trauma an – bis heute. So wie bei Gerd E. Er ist der einzige Zeitzeuge, der zum Gespräch bereit ist. Alle anderen, die sich auf den Aufruf der Historiker hin gemeldet haben, bleiben in dem Bericht im Hintergrund. Aus Scham. Aus Angst. „Sie wollen wohl nicht, dass das alles noch mal aufbricht“, erklärt Schulte. „Sie haben sich verkapselt.“ Ein Teufelskreis aus Unterdrückung, Selbsthass und Ausgrenzung.

Gerd E. steht beispielhaft für eine Generation schwuler Männer. Er wächst in einem kleinen Hunsrückdorf auf. Unehelich. Schon das gilt als Makel. Nach seiner Flucht in die Stadt wird er weiter schikaniert. Jetzt als „175er“. Immer wieder gibt's Razzien. „Personalausweise wurden kontrolliert, Fingerabdrücke genommen“, blickt er zurück. Irgendwann meldet sich die Polizei auch bei seinen Eltern. „Mein Leben ist regelrecht zerstört worden“, erinnert sich Gerd E. Der Stiefvater will nun nichts mehr von ihm wissen. Die Mutter schreibt ihm einen Brief, in dem sie ihn übel beschimpft. Gerd. E. erinnert sich an jede einzelne der schmerzenden Zeilen. „Ich durfte nicht mehr nach Hause.“ Auch die Verwandtschaft wendet sich ab. Für immer. „Das ist besonders jetzt im Alter schlimm, wenn man mal jemanden zum Reden braucht.“

Aus dem Räderwerk von Verfolgung durch Polizei und Justiz gibt es im Wirtschaftswunderland kaum ein Entrinnen. Penibel werden Schwule in den Sittendezernaten erfasst. „Die berüchtigten Rosa Listen“, sagt Schulte. Im Polizeijargon heißen sie Homodateien. „Die wurde immer auf dem Laufenden gehalten“, wird ein Koblenzer Polizist im Forschungsbericht zitiert. „Für uns war es eine Ermittlungshilfe.“ 1969 werden die Akten vernichtet. Ein Grund, warum die Quellenlage eher dünn ist.

Homosexuelle können ihre Sexualität in den 50er- und 60er-Jahren somit kaum ausleben. „Man traf sich in speziellen Kneipen“, sagt Schulte. Die geben sich in der Regel bürgerliche Fassaden. Bei den Behörden sind sie dennoch bekannt. Auch öffentliche Parks und Toiletten sind beliebte Treffpunkte schwuler Männer. „Stellen Sie sich einfach mal bei Heterosexuellen vor, dass Männer und Frauen nur auf Toiletten zusammenkommen können“, sagt Schulte. „Das ist doch total gaga.“ Und immer spielt die Angst vor Entdeckung mit. Denn der Verfolgungsdruck ist groß. Am Friedrich-Ebert-Ring in Koblenz wird täglich patrouilliert, wie alte Protokolle beweisen. „Die Treffpunkte waren uns ja bekannt“, erinnert sich eine Koblenzer Polizistin. Bahnhof, Deutsches Eck. „Die Männer wurden übel beschimpft“, räumt sie ein. Auch ihr Kollege erinnert sich an die menschenunwürdige Behandlung. „Prostituierte, das ging ja gerade noch“, sagte er den Historikern. Generell könne man sagen, dass Homosexuelle in Polizei- und Justizkreisen ganz unten standen. „Es gab auch Festnahmen, vor allem von Männern, die uns aus den Karteikarten als homosexuell bekannt waren.“ Einmal überrascht die Koblenzer Polizistin bei einer Streife sogar einen Kollegen. „Das war ganz fürchterlich. Der weigerte sich. Drohte, sich umzubringen.“

Manchmal bleibt es nicht bei Worten. „Wir wissen, dass es Selbstmorde gab“, sagt Joachim Schulte. Andere wechseln den Wohnort, um den Anfeindungen der Nachbarn zu entfliehen. Nicht wenige verlieren ihre Jobs. Oder werden erpresst. Im Kreis Bad Kreuznach wird der Mitinhaber einer Handelsfirma von einem Teilhaber denunziert und unter Druck gesetzt. Am Ende zahlt das Opfer 2500 Mark.

Homosexualität gilt als Einfallstor für den Verfall von Moral und Sitte. Darüber herrscht gesellschaftlicher Konsens in der bleiernen Adenauerära. Vor allem die Gründergeneration von Rheinland-Pfalz wie etwa der Mainzer Justizminister Adolf Süsterhenn, Ministerpräsident Peter Altmeier und Bundesfamilienminister Franz-Josef Wuermeling pochen auf Sittlichkeit als Leitlinie der Landesverfassung. „Homosexuelle Beziehungen tragen schon als solche – man könnte fast sagen wie ein Ölfleck – die Tendenz der Ausbreitung in sich“, erklärte der Regierungsdirektor im Justizministerium, Karl Lackner, damals auf einer Tagung des Bundeskriminalamts. „Wenn zwei Menschen solche Beziehungen aufnehmen, (...) erhöhen sie die Gefahr weiterer Ausbreitung der Abartigkeit im Volke.“ Und auch die Kirchen machen sich für den Paragrafen 175 stark. Besonders heftig stemmt sich der katholische Volkswartbund gegen jede Liberalisierung.

Und so bleibt Schwulen nur, sich zu arrangieren. „Die meisten haben geheiratet“, sagt Schulte. „Die Frauen wussten meist, worauf sie sich dabei einließen.“ Es gibt aber auch weit dramatischere Schicksale. So lassen sich homosexuelle Gefangene kastrieren, weil sie auf Haftminderung hoffen – mit drastischen seelischen und körperlichen Folgen. In Rheinland-Pfalz sind solche Fälle bisher nicht bekannt. „Das bedeutet aber nicht, dass es nicht auch bei uns Betroffene geben könnte“, betont Schulte. Der größte Leidensdruck wird erst 1973 enden. Nach zwei Reformschritten werden nur noch sexuelle Handlungen von Männern mit Jugendlichen unter Strafe gestellt. Erst 1994 wird der Paragraf 175 gestrichen.

Entschädigungen haben seither nur die Opfer des Nationalsozialismus erhalten. Wer nach 1948 verurteilt wurde, geht bisher leer aus. Auch Gerd E. hat noch keinen Euro für das Leid erhalten, das ihm angetan wurde. Noch schlimmer findet er aber, dass er weiter diskriminiert wird. „Als schwuler Mann läuft man oft gegen eine Wand“, klagt er. Auch ohne Paragraf 175. Dass der Mainzer Landtag 2012 einstimmig beschlossen hat, die Geschichte der Repression gegen Homosexuelle aufzuarbeiten, ist für ihn immerhin ein Lichtblick. Und auch in die Entschädigungsfrage ist Bewegung gekommen. Das Bundeskabinett billigte am Mittwoch einen Gesetzentwurf von Bundesjustizminister Heiko Maas. Danach sollen alle Strafurteile wegen homosexueller Handlungen aufgehoben und die Verurteilten entschädigt werden.

Von unserem Redakteur Dirk Eberz