Stockholm

Schwedens Sex-Anklage gegen Assange: Farce oder Verschwörung?

Noli me tangere: Julian Assange
Noli me tangere: Julian Assange Foto: dpa

Schwedens Justiz ist seit drei Monaten wegen angeblicher sexueller Vergehen hinter Wikileaks-Gründer Assange her. Ausgerechnet jetzt startet die internationale Fahndung. Eine US-Verschwörung vermutet dahinter nicht nur Assange. In Stockholm allerdings sieht das kaum jemand so.

Lesezeit: 2 Minuten
Anzeige

Stockholm – Schwedens Justiz ist seit drei Monaten wegen angeblicher sexueller Vergehen hinter Wikileaks-Gründer Assange her. Ausgerechnet jetzt startet die internationale Fahndung. Eine US-Verschwörung vermutet dahinter nicht nur Assange. In Stockholm allerdings sieht das kaum jemand so.

Wer würde da nicht an Verschwörung denken: Parallel zu schwersten Vorwürfen aus Washington und anderen Hauptstädten wegen „Hochverrats“ lässt die schwedische Justiz jetzt weltweit nach Wikileaks-Gründer Julian Assange fahnden. Dabei haben seit August drei wechselnde Staatsanwältinnen Vorwürfe sexueller Gewalt durch zwei Schwedinnen komplett unterschiedlich eingestuft: Erst Haftbefehl für ein paar Stunden, dann monatelang gar nichts, und Mitte November plötzlich wieder ein Haftbefehl – mit massiveren Vorwürfen als zu Beginn.

„Die Staatsanwaltschaft hat eine Farce aufgeführt“, beklagte „Aftonbladet“. Weder Schwedens größte Zeitung noch andere Stockholmer Stimmen aber verschwendeten groß Gedanken daran, dass die heimische Justiz vielleicht „auf höhere Weisung“ handeln könnte, um der von Wikileaks gedemütigten US-Regierung zu einer Festnahme durch die Hintertür zu verhelfen. Vielleicht bis auf Assanges Anwalt Björn Hurtig: „Man kommt schon ins Grübeln bei dieser zeitlichen Nähe.“

Hurtig kennt – im Gegensatz zum kurzzeitigen Skandinavien-Besucher Assange – aus seinem Alltag die ungewöhnliche Härte, mit der Schwedens Justiz sexuelle Gewalt verfolgt. Seit über zehn Jahren steht hier der Kauf sexueller Dienste unter Strafe. Verfolgt und auch schon mal vor Gericht gestellt werden die Freier, nicht die Prostituierten. Marianne Ny, die für Assange jetzt zuständige Oberstaatsanwältin, ist ausgewiesene Expertin für häusliche und andere sexuelle Gewalt. Sie leitet in Göteborg ein eigens dafür eingerichtetes „Entwicklungsdezernat“.

Ny, die sich öffentlich zum Fall Assange nicht mehr äußert, dürfte eher von der markanten Entwicklung der schwedischen Feminismus- Debatte geprägt sein als von Sympathien für die Außenpolitik der USA. In Stockholm stufen sich auch führende männliche Politiker fast ausnahmslos als „Feministen“ ein – vom sozialdemokratischen Ex- Regierungschef Göran Persson, einem bullig wirkenden Macho-Typen, bis zum christdemokratischen Sozialminister Göran Hägglund, einem konservativen Softie.

Als durchaus selbstbewusste Feministinnen dürften sich auch die beiden Schwedinnen einstufen, die im August mit ihren Anschuldigungen gegen Assange zur Polizei gegangen waren. Sie wollten dem berühmten Mann aus Australien nach Medienberichten nicht einfach durchgehen lassen, dass er bei vier oder fünf Gelegenheiten ungeschützten Sex erzwungen haben soll, bei denen sie mit geschütztem einverstanden waren.

Vor diesem Hintergrund erscheint Beobachtern in Stockholm das seltsame Hin und Her der Justiz nicht als finstere Verschwörung, sondern eher als „wieder mal vermurkst“. Auch nach dem bis heute nicht endgültig geklärten Mord an Ministerpräsident Olof Palme 1986 ging die Fahndung dermaßen konsequent und teils grotesk schief, dass massiv Verschwörungstheorien aufblühten. Am Ende war es aber wohl einfach eine Anhäufung vieler Fehler.

Thomas Borchert (dpa)