Moskau

Punk gegen Putin: Keine Gnade für Pussy Riot

Hinter Gittern: Die Mitglieder der politischen Band Pussy Riot werden im Gericht in Moskau vorgeführt wie Schwerverbrecherinnen.
Hinter Gittern: Die Mitglieder der politischen Band Pussy Riot werden im Gericht in Moskau vorgeführt wie Schwerverbrecherinnen. Foto: dpa

Die Rufe nach „Freiheit für Pussy Riot“ draußen von der Straße kann Nadeschda Tolokonnikowa im Gitterkäfig des Moskauer Gerichtssaals nicht hören. Die Gegnerin von Kremlchef Wladimir Putin schaut durch die Gitter in den Saal. Auch nach Monaten in Untersuchungshaft ist ihr Blick nicht gebrochen.

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Moskau. Die Rufe nach „Freiheit für Pussy Riot“ draußen von der Straße kann Nadeschda Tolokonnikowa im Gitterkäfig des Moskauer Gerichtssaals nicht hören. Die Gegnerin von Kremlchef Wladimir Putin schaut durch die Gitter in den Saal. Auch nach Monaten in Untersuchungshaft ist ihr Blick nicht gebrochen. „Wie soll es einem schon im Knast gehen“, sagt die 22-Jährige. Auf ihrem T-Shirt ist eine geballte Faust abgebildet.

Sicherheitskräfte bewachen Nadeschda und ihre Mitangeklagten Maria Aljochina (24) und Jekaterina Samuzewitsch (29). Die Frauen – zwei von ihnen sind junge Mütter – haben als Mitglieder der politischen Band Pussy Riot vermummt mit grellen Strumpfmasken immer wieder scharf gegen Putin angesungen. Auf dem Roten Platz in Moskau, rockend auf einem Bus – und schließlich in der Erlöserkathedrale des russisch-orthodoxen Christentums, dem Heiligtum dieser Kirche.

Aktivisten demonstrieren vor dem Gericht. Sie tragen T-Shirts, auf denen bunte Sturmmasken zu sehen sind, wie sie die Mitglieder der Band Pussy Riot bei ihrem Protest in der Erlöserkathedrale trugen.
Aktivisten demonstrieren vor dem Gericht. Sie tragen T-Shirts, auf denen bunte Sturmmasken zu sehen sind, wie sie die Mitglieder der Band Pussy Riot bei ihrem Protest in der Erlöserkathedrale trugen.
Foto: dpa

Es ist der 21. Februar. Die Frauen singen an diesem Wintertag wütend gegen den Ex-Geheimdienstchef Putin und tanzen dabei in der Kirche eine Art Cancan. „Heilige Muttergottes, treibe Putin davon“, schreit Pussy Riot. Die Punkerinnen springen im Altarraum umher, den eigentlich nur Würdenträger betreten dürfen. Sie fallen vor heiligen Ikonen auf die Knie und bekreuzigen sich.

Anwalt spricht von Skandal

Keine Minute dauert die Aktion, bis Sicherheitskräfte sie beenden. Aber der lärmende Punkrock setzt Moskaus Machtapparat samt der einflussreichen Kirche in Bewegung. Ein Filmmitschnitt des Auftritts wird später mit Bildern anderer Aktionen zu einem skandalträchtigen Video montiert – jetzt das wichtigste Beweismittel im Strafverfahren gegen die Musikerinnen.

Ihr Anwalt Nikolai Polosow hält es für einen Justizskandal, dass die Frauen aufgrund dieses Videos verurteilt werden sollen. „Es handelt sich um eine künstlerische Montage. Aber die Ermittler kümmern sich nicht darum, von wem das Video produziert und ins Internet gestellt wurde“, schimpft er.

Rowdytum und das Aufwiegeln zu religiösem Hass werden den Frauen zur Last gelegt. Darauf stehen im schlimmsten Fall bis zu sieben Jahre Straflager. Jurist Polosow sieht dagegen nur eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeld zu ahnden wäre. Der 31-Jährige nimmt zudem an, dass sich die Justiz lediglich drei Bandmitglieder vornimmt, um sich nicht zu verzetteln. Die anderen knapp 20 Mitstreiterinnen sind im Exil oder im Untergrund. Polosow vermutet, dass ein Gerichtsgutachten zu Pussy Riot offenkundig politisch bestellt ist und bereits fertige Thesen für das Urteil enthält.

Das Chamowni-Gericht in Moskau ist berüchtigt für seine umstrittenen Verfahren. Auch Michail Chodorkowski, der einst reichste Mann Russlands und immer noch schärfste Gegner Putins, erhielt hier seine Haftstrafe. Für Pussy Riot hat das Gericht zuletzt die Untersuchungshaft auf zehn Monate bis Januar 2013 verlängert. Auch deshalb hat die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sie als politische Gefangene anerkannt – wie Chodorkowski. Die Punkrockerinnen haben an jenem kalten Februartag in der Erlöserkathedrale auch gegen Tabus der Kirche verstoßen. Dem Patriarchen Kirill werfen sie dunkle Geschäfte und Korruption vor. Er lasse sich lieber in Limousinen chauffieren, als mit dem Kreuz voranzugehen, singen sie.

Die Erlöserkathedrale in Moskau, unter Sowjetdiktator Josef Stalin abgerissen, ist nach ihrem Neuaufbau heute wieder das Herz des Glaubens im größten Land der Erde. Dass Pussy Riot ausgerechnet hier die Kirche und Putin aufs Korn nehmen, gilt als Affront. „Ich glaube, dass Wladimir Wladimirowitsch das sehr verletzt hat“, sagt die prominente russische Schauspielerin Lija Achedschakowa. „Wenn jemand sich direkt an Gott und die Heilige Gottesmutter wendet mit der Bitte, Putin zu vertreiben, dann verletzt das religiöse Gefühle“, meint die 74-Jährige in einem Fernsehinterview. Der Strafprozess aber sei eine Schande für Russland.

Wie rund 200 weitere Intellektuelle unterschreibt Achedschakowa einen offenen Protestbrief gegen die „mittelalterliche Hexenjagd“. Es ist ein Protest gegen Justizwillkür und gegen das Ziel, die Kremlgegner als Feinde des russischen Volkes zu brandmarken.

Als Ausgeburt der Hölle und Gesandte des Satans verdammt dagegen die Kirche Pussy Riot. Gnade? Das russisch-orthodoxe Patriarchat lehnt das ab: kein Frieden ohne ein Schuldbekenntnis und Reue. Gott verurteile die Tat, behauptet der ranghohe Kirchenfunktionär Wsewolod Tschaplin. „Handlungen, die religiöse Gefühle verletzen, sind sehr, sehr gefährlich. Deshalb gibt es auf der Welt Blutvergießen“, sagt er der kremlkritischen Zeitschrift „The New Times“. „Gerade deshalb muss man mit aller Härte reagieren.“ Der Geistliche sagt, Pussy Riot wolle – wie einst die Kommunisten – Kirchen entweihen, Heiligenbilder schänden und den Glauben auslöschen.

Propagandaapparat läuft an

Auch Putin zeigt sich am 7. März nach seiner Wiederwahl öffentlich angewidert. „Ich hoffe, dass sich so etwas nie wiederholt“, sagt er. Viele nehmen dies als Indiz, dass an den Frauen ein Exempel statuiert werden soll. Die Staatspropaganda lanciert Hetzkampagnen und mobilisiert populäre Fürsprecher, die nach „Strafe“ rufen. Oscarpreisträger Nikita Michalkow („Die Sonne, die uns täuscht“, 1994) ist einer von ihnen. Der Regisseur warnt anders als der Großteil der Kulturelite vor einer „hysterischen Diktatur des Liberalismus“ in Russland.

Die Meinungen zu Pussy Riot gehen auseinander. „Das ist radikale Kunst. Das ist Jugendkunst. Sie hat das Recht, so zu sein, wie sie ist“, mahnt die Schriftstellerin Ljudmila Ulizkaja. Es sei ein „staatliches Verbrechen“, Künstler zu verfolgen. Doch viele Russen fragen sich, warum die Frauen nicht wenigstens aus Liebe zu ihren Kindern zu Kreuze kriechen und öffentlich um Vergebung bitten.

„Sie stehen zu dem, was sie getan haben. Sie lassen sich von ihrer Meinung über Putin nicht abbringen“, sagt Verteidiger Polosow. Das sei auch eine Frage des Gewissens. Er will bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen – auch weil der Staat die Frauen wie Schwerverbrecher in einem Käfig vorführt. „Dieses Verfahren ist politisch. Es wird direkt von Putin oder seiner Umgebung gesteuert“, meint der Jurist. „Das Urteil wird wohl in letzter Minute direkt von höchster Stelle im Kreml gesprochen. Das Gericht hat nur die technische Aufgabe, die Entscheidung zu verkünden.“ Die Frauen jedenfalls bereiteten sich schon innerlich auf eine Haft im Straflager vor, sagt er.

Mindestens einmal pro Woche besuchen Polosow und seine Kollegen Violetta Wolkowa und Mark Fejgin das Untersuchungsgefängnis. Für die drei Gefangenen, die früher Philosophie und Journalistik studiert haben, sei das Leben in der Vierbett-Zelle mit 15 Quadratmetern schwer, aber erträglich. Wenn es Spenden gebe, könnten die Frauen zusätzlich einen Duschgang pro Woche und besseres Essen kaufen, sagt Polosow.

Sieben Aktenbände mit rund 3000 Seiten haben die Ermittler zusammengetragen – wegen rund einer Minute Protest gegen Putin und die Kirche. Richterin Natalja Konowalowa gibt einen Monat Zeit zum Lesen. Die Ermittler kommen zu dem Schluss, dass Pussy Riot an den „ewigen Grundfesten der russisch-orthodoxen Kirche“ gerüttelt hat. Als Zeugen und Nebenkläger für den Prozess werden dafür außer Frauen, die sich in der Kirche um die Opferkerzen aus Bienenwachs kümmern, auch Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma genannt.

Nadeschda und die anderen schauen während der jüngsten Anhörung aus dem Käfig in den überfüllten Gerichtssaal, der kaum größer als ein Wohnzimmer ist. Vor dem Gebäude patrouillieren Sicherheitskräfte in schwarzen Kampfanzügen mit Sturmmasken und Kalaschnikow-Gewehren. Religiöse Fanatiker, die harte Strafen fordern, und Anhänger von Pussy Riot, die Freiheit für die Frauen verlangen, haben sich versammelt.

Die Angeklagten werden später in der Zelle Fernsehberichte über die Verhandlung und die Straßenproteste sehen. Doch auch die Aktionen von Pussy Riot gehen weiter. In St. Petersburg hängt sich vor der farbenprächtigen Blutkathedrale ein Mädchen an einem Morgen im Juli mit einer Strumpfmaske vermummt an ein Holzkreuz wie Jesus. Auf dem Querbalken steht: „Hier könnte eure Demokratie hängen.“

Moskau. Die Rufe nach „Freiheit für Pussy Riot“ draußen von der Straße kann Nadeschda Tolokonnikowa im Gitterkäfig des Moskauer Gerichtssaals nicht hören. Die Gegnerin von Kremlchef Wladimir Putin schaut durch die Gitter in den Saal. Auch nach Monaten in Untersuchungshaft ist ihr Blick nicht gebrochen. „Wie soll es einem schon im Knast gehen“, sagt die 22-Jährige. Auf ihrem T-Shirt ist eine geballte Faust abgebildet.

Sicherheitskräfte bewachen Nadeschda und ihre Mitangeklagten Maria Aljochina (24) und Jekaterina Samuzewitsch (29). Die Frauen – zwei von ihnen sind junge Mütter – haben als Mitglieder der politischen Band Pussy Riot vermummt mit grellen Strumpfmasken immer wieder scharf gegen Putin angesungen. Auf dem Roten Platz in Moskau, rockend auf einem Bus – und schließlich in der Erlöserkathedrale des russisch-orthodoxen Christentums, dem Heiligtum dieser Kirche.

Es ist der 21. Februar. Die Frauen singen an diesem Wintertag wütend gegen den Ex-Geheimdienstchef Putin und tanzen dabei in der Kirche eine Art Cancan. „Heilige Muttergottes, treibe Putin davon“, schreit Pussy Riot. Die Punkerinnen springen im Altarraum umher, den eigentlich nur Würdenträger betreten dürfen. Sie fallen vor heiligen Ikonen auf die Knie und bekreuzigen sich.

Anwalt spricht von Skandal

Keine Minute dauert die Aktion, bis Sicherheitskräfte sie beenden. Aber der lärmende Punkrock setzt Moskaus Machtapparat samt der einflussreichen Kirche in Bewegung. Ein Filmmitschnitt des Auftritts wird später mit Bildern anderer Aktionen zu einem skandalträchtigen Video montiert – jetzt das wichtigste Beweismittel im Strafverfahren gegen die Musikerinnen.

Ihr Anwalt Nikolai Polosow hält es für einen Justizskandal, dass die Frauen aufgrund dieses Videos verurteilt werden sollen. „Es handelt sich um eine künstlerische Montage. Aber die Ermittler kümmern sich nicht darum, von wem das Video produziert und ins Internet gestellt wurde“, schimpft er.

Rowdytum und das Aufwiegeln zu religiösem Hass werden den Frauen zur Last gelegt. Darauf stehen im schlimmsten Fall bis zu sieben Jahre Straflager. Jurist Polosow sieht dagegen nur eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeld zu ahnden wäre. Der 31-Jährige nimmt zudem an, dass sich die Justiz lediglich drei Bandmitglieder vornimmt, um sich nicht zu verzetteln. Die anderen knapp 20 Mitstreiterinnen sind im Exil oder im Untergrund. Polosow vermutet, dass ein Gerichtsgutachten zu Pussy Riot offenkundig politisch bestellt ist und bereits fertige Thesen für das Urteil enthält.

Das Chamowni-Gericht in Moskau ist berüchtigt für seine umstrittenen Verfahren. Auch Michail Chodorkowski, der einst reichste Mann Russlands und immer noch schärfste Gegner Putins, erhielt hier seine Haftstrafe. Für Pussy Riot hat das Gericht zuletzt die Untersuchungshaft auf zehn Monate bis Januar 2013 verlängert. Auch deshalb hat die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sie als politische Gefangene anerkannt – wie Chodorkowski. Die Punkrockerinnen haben an jenem kalten Februartag in der Erlöserkathedrale auch gegen Tabus der Kirche verstoßen. Dem Patriarchen Kirill werfen sie dunkle Geschäfte und Korruption vor. Er lasse sich lieber in Limousinen chauffieren, als mit dem Kreuz voranzugehen, singen sie.

Die Erlöserkathedrale in Moskau, unter Sowjetdiktator Josef Stalin abgerissen, ist nach ihrem Neuaufbau heute wieder das Herz des Glaubens im größten Land der Erde. Dass Pussy Riot ausgerechnet hier die Kirche und Putin aufs Korn nehmen, gilt als Affront. „Ich glaube, dass Wladimir Wladimirowitsch das sehr verletzt hat“, sagt die prominente russische Schauspielerin Lija Achedschakowa. „Wenn jemand sich direkt an Gott und die Heilige Gottesmutter wendet mit der Bitte, Putin zu vertreiben, dann verletzt das religiöse Gefühle“, meint die 74-Jährige in einem Fernsehinterview. Der Strafprozess aber sei eine Schande für Russland.

Wie rund 200 weitere Intellektuelle unterschreibt Achedschakowa einen offenen Protestbrief gegen die „mittelalterliche Hexenjagd“. Es ist ein Protest gegen Justizwillkür und gegen das Ziel, die Kremlgegner als Feinde des russischen Volkes zu brandmarken.

Als Ausgeburt der Hölle und Gesandte des Satans verdammt dagegen die Kirche Pussy Riot. Gnade? Das russisch-orthodoxe Patriarchat lehnt das ab: kein Frieden ohne ein Schuldbekenntnis und Reue. Gott verurteile die Tat, behauptet der ranghohe Kirchenfunktionär Wsewolod Tschaplin. „Handlungen, die religiöse Gefühle verletzen, sind sehr, sehr gefährlich. Deshalb gibt es auf der Welt Blutvergießen“, sagt er der kremlkritischen Zeitschrift „The New Times“. „Gerade deshalb muss man mit aller Härte reagieren.“ Der Geistliche sagt, Pussy Riot wolle – wie einst die Kommunisten – Kirchen entweihen, Heiligenbilder schänden und den Glauben auslöschen.

Propagandaapparat läuft an

Auch Putin zeigt sich am 7. März nach seiner Wiederwahl öffentlich angewidert. „Ich hoffe, dass sich so etwas nie wiederholt“, sagt er. Viele nehmen dies als Indiz, dass an den Frauen ein Exempel statuiert werden soll. Die Staatspropaganda lanciert Hetzkampagnen und mobilisiert populäre Fürsprecher, die nach „Strafe“ rufen. Oscarpreisträger Nikita Michalkow („Die Sonne, die uns täuscht“, 1994) ist einer von ihnen. Der Regisseur warnt anders als der Großteil der Kulturelite vor einer „hysterischen Diktatur des Liberalismus“ in Russland.

Die Meinungen zu Pussy Riot gehen auseinander. „Das ist radikale Kunst. Das ist Jugendkunst. Sie hat das Recht, so zu sein, wie sie ist“, mahnt die Schriftstellerin Ljudmila Ulizkaja. Es sei ein „staatliches Verbrechen“, Künstler zu verfolgen. Doch viele Russen fragen sich, warum die Frauen nicht wenigstens aus Liebe zu ihren Kindern zu Kreuze kriechen und öffentlich um Vergebung bitten.

„Sie stehen zu dem, was sie getan haben. Sie lassen sich von ihrer Meinung über Putin nicht abbringen“, sagt Verteidiger Polosow. Das sei auch eine Frage des Gewissens. Er will bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen – auch weil der Staat die Frauen wie Schwerverbrecher in einem Käfig vorführt. „Dieses Verfahren ist politisch. Es wird direkt von Putin oder seiner Umgebung gesteuert“, meint der Jurist. „Das Urteil wird wohl in letzter Minute direkt von höchster Stelle im Kreml gesprochen. Das Gericht hat nur die technische Aufgabe, die Entscheidung zu verkünden.“ Die Frauen jedenfalls bereiteten sich schon innerlich auf eine Haft im Straflager vor, sagt er.

Mindestens einmal pro Woche besuchen Polosow und seine Kollegen Violetta Wolkowa und Mark Fejgin das Untersuchungsgefängnis. Für die drei Gefangenen, die früher Philosophie und Journalistik studiert haben, sei das Leben in der Vierbett-Zelle mit 15 Quadratmetern schwer, aber erträglich. Wenn es Spenden gebe, könnten die Frauen zusätzlich einen Duschgang pro Woche und besseres Essen kaufen, sagt Polosow.

Sieben Aktenbände mit rund 3000 Seiten haben die Ermittler zusammengetragen – wegen rund einer Minute Protest gegen Putin und die Kirche. Richterin Natalja Konowalowa gibt einen Monat Zeit zum Lesen. Die Ermittler kommen zu dem Schluss, dass Pussy Riot an den „ewigen Grundfesten der russisch-orthodoxen Kirche“ gerüttelt hat. Als Zeugen und Nebenkläger für den Prozess werden dafür außer Frauen, die sich in der Kirche um die Opferkerzen aus Bienenwachs kümmern, auch Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma genannt.

Nadeschda und die anderen schauen während der jüngsten Anhörung aus dem Käfig in den überfüllten Gerichtssaal, der kaum größer als ein Wohnzimmer ist. Vor dem Gebäude patrouillieren Sicherheitskräfte in schwarzen Kampfanzügen mit Sturmmasken und Kalaschnikow-Gewehren. Religiöse Fanatiker, die harte Strafen fordern, und Anhänger von Pussy Riot, die Freiheit für die Frauen verlangen, haben sich versammelt.

Die Angeklagten werden später in der Zelle Fernsehberichte über die Verhandlung und die Straßenproteste sehen. Doch auch die Aktionen von Pussy Riot gehen weiter. In St. Petersburg hängt sich vor der farbenprächtigen Blutkathedrale ein Mädchen an einem Morgen im Juli mit einer Strumpfmaske vermummt an ein Holzkreuz wie Jesus. Auf dem Querbalken steht: „Hier könnte eure Demokratie hängen.“

Von Ulf Mauder