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„Ich möchte nicht mehr schweigen“: Das erste Opfer von Sharis Mörder K. meldet sich zu Wort

Von Gabi Novak-Oster
Foto: Gabi Novak-Oster

Ihr Name wurde nie öffentlich genannt. Das Verbrechen an ihr blieb anonym. Es gab nur wenige Worte und vage Umschreibungen für das, was vorher geschah. Vor dem Mord an Shari. Sie war das Mädchen, das K. 1984 brutal gequält hatte. Sein erstes Opfer. Die Neunjährige überlebte nur knapp. 33 Jahre später spricht die heute 42-Jährige erstmals darüber. „Ich möchte nicht mehr schweigen.“

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Die zierliche Frau wirkt ein wenig unsicher und nervös. Sie spricht schnell, so, als wolle sie in wenigen Stunden nachholen, was 33 Jahre für sie nicht möglich war. Ende Mai liest Yvonne, deren Nachname ungenannt bleiben soll, unsere Reportage über den Mord an Shari vor 25 Jahren und findet sich darin als erstes Opfer des Mörders erwähnt, allerdings nicht namentlich genannt. Sie steht für das, was acht Jahre vorher geschah und was das unmenschliche Handeln des Täters bekräftigt – 1992 an Shari und acht Jahre zuvor an Yvonne. Die hat im Moment des Lesens ihr Schicksal ganz nah vor Augen und weiß: „Man muss reden. Du musst reden. Egal, wie viele Jahre vergangen sind.“ Es dauert noch einmal mehrere Wochen, bis Yvonne völlig sicher ist: „Ich möchte nicht mehr schweigen.“ Wir treffen uns.

In manchen Dingen, sagt Yvonne, da ist sie vorsichtiger geworden. Genauer beschreiben kann sie eine mögliche Situation nicht. Nein, Angst ist es nicht, glaubt sie. Es ist halt die Erinnerung an die schlimmsten Stunden ihres Lebens, und die 42-Jährige vermutet: „Das wird so bleiben.“ Auch, wenn sie lieber der lebensfrohe Typ sein möchte und das inzwischen wieder öfter ist. Nur die Familie und wenige Freunde kennen ihre Vergangenheit. Zwei kleine Zeitungsausschnitte und einige Seiten aus der Akte des Anwalts dokumentieren die Geschehnisse, die Mutter hat die Blätter des Grauens aufbewahrt. Die grausamen Erinnerungen selbst trägt die Tochter.

Yvonnes Kindheit im Koblenzer Stadtteil Rübenach ist unbeschwert. Sie wächst als Einzelkind auf, die Eltern lassen ihr alle Freiheiten und verwöhnen die Tochter. Die liebt das Reiten und das Ballett, ist im Turnverein, mag in der Schule die Fächer Physik und Chemie. Tierärztin möchte sie einmal werden.

Den späteren Täter, einen 15-jährigen Jungen aus dem Stadtteil, kennt Yvonne nur vom Namen und vom Sehen, weiß, wo er wohnt. Zu ihrer Clique gehört er nicht. Weil er schwergewichtig ist, wird K. von einigen Kindern gehänselt. „Deutsche Panzer rollen“, wird ihm manchmal nachgerufen. Yvonne tut das nicht.

Was im Herbst 1984 geschieht, verändert ihre Kindheit.

Und ihr Leben. Am 30. Oktober hat ihr Opa Geburtstag. Die Enkelin soll die Eltern zum Gratulieren begleiten, doch Mutter Roswitha kann ihre Tochter dazu nicht überreden. Sie will lieber spielen, geht wie so oft durchs Wäldchen. „Da kam er mir entgegen.“ Diese fünf Worte klingen langsamer und härter als das vorher Gesagte.

Dem flüchtigen „Hallo“ bei der Begegnung der beiden Kinder folgt ein Martyrium, dessen Einzelheiten auch 33 Jahre später beim Opfer präsent sind. „Er nahm mich in den Schwitzkasten und hielt mir ein Messer an den Hals.“ Yvonne wird in einen Schuppen gedrängt, muss sich ausziehen. Sie hat Todesangst. „Das nächste mal hörst du auf deine Mutter“, schießt es ihr durch den Kopf. Gedanken, die ihr bis heute nachhängen.

Die geplante Vergewaltigung scheitert. Yvonne droht, nach Hause zu laufen und die Polizei anzurufen. Daraufhin ergreift der Junge ein Kantholz und schlägt es auf den Hals des auf dem Boden liegenden Mädchens. Allerdings bleibt der Balken in einer Leiter hängen, sodass die Gewalt des Schlages gemindert wird. Dennoch schreit Yvonne vor Schmerzen und ahnt nicht, zu was ihr Peiniger in den nächsten Minuten noch fähig sein wird. Er legt dem Mädchen einen Gürtel um den Hals, befestigt ihn an einem Nagel und stößt das Opfer von einer Erhöhung. „Ich war in Schockstarre“, schildert Yvonne diese Momente. Als der Gürtel reißt, hat sie ein zweites Mal überlebt, trägt Schürfwunden auf dem Rücken davon. Der Täter gibt nicht auf. Er kniet vor seinem Opfer und legt ihm den Gürtel um den Hals. „Wenn du was erzählst, sagte er zu mir, dann bringe ich dich um.“

Die heute 42-Jährige erzählt ruhig, hin und wieder stockend, dann wieder schnell. Es ist ihr nicht gleich anzumerken, was sie hinter sich hat – und noch immer mit sich trägt. Und so lässt sich nur erahnen oder vermuten, wie es in ihr wirklich aussieht.

Yvonne muss sich wieder anziehen, K. beendet sein Tun. Aus Mitleid, sagt er später vor Gericht. „Ich war geschockt“, reagiert sein Opfer auf diese Aussage und nennt den wahren Grund. „Eine Frau ging in der Nähe des Schuppens vorbei, das störte ihn.“ Die Neunjährige „darf“ gehen und weiß: „Ich hatte einen guten Schutzengel.“

Der Fußweg nach Hause dauert etwa zwei Minuten. Daheim ist niemand. Leere und Stille. Yvonne ruft bei ihrem Opa an: „Mama, kann mich jemand abholen?“ Vom Geschehen erzählt die Neunjährige nichts und bleibt zunächst einmal mit dieser Qual allein. Nur weinen und nicht reden können, das tut doppelt weh. Erst bei einem weiteren Anruf ahnt die Mutter: „Da stimmt was nicht.“ Sie findet ihre Tochter „heulend und hysterisch“ vor und nimmt Yvonne mit zu ihrem Großvater. Die Eltern gehen davon aus, dass ihre Tochter verprügelt wurde, fahren zur Familie von K. und stellen den Jungen zur Rede. Yvonne liegt derweil auf dem Sofa ihres Opas. Sie hat Schmerzen, der Hals schwillt an, er ist von Striemen gezeichnet. Der Hausarzt schickt das Mädchen ins Krankenhaus, dort wird eine schwere Kehlkopfverletzung diagnostiziert, Fotos werden gemacht. Die Neunjährige erzählt ihrer Mutter, was wirklich passiert ist.

Die Eltern verständigen die Polizei, eine Kripobeamtin unterhält sich mit Yvonne. Wie werden die Eltern reagieren, wenn sie die ganze Schwere der Tat erfahren? Natürlich sind Sie geschockt, vor allem Vater Karl-Heinz leidet. „Er kann heute noch nicht darüber reden. Er geht immer weg, wenn das Thema aufkommt. Er hat zu kämpfen.“ Die Tochter bei diesen Worten auch.

Zwei Wochen bleibt Yvonne im Krankenhaus. Eine Psychologin rät den Eltern: „Lassen Sie Ihre Tochter in Ruhe, fragen Sie nicht. Wenn Ihre Tochter reden will, kommt sie von allein.“ Das dauert. Wer von ihren Freunden von dem Geschehen erfährt, bekommt die Neunjährige nicht mit. „Einige wussten es, aber ich wurde nie darauf angesprochen.“ Yvonne hält inne, erinnert sich, dass ausgerechnet eine Freundin fragte, „ob ich das wollte und ob ich ihn angemacht hätte“. Das verletzt sie. „Da war ich einfach wütend.“

Einige Monate später beginnt der nichtöffentliche Prozess.

Auf Anraten des Anwalts verzichten die Eltern auf eine Nebenklage, Yvonne wäre ansonsten im Detail vernommen worden. So wird sie nur zu ihrer Person befragt. Genug für eine Neunjährige.

K. wird wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit sexueller Nötigung zu einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Yvonnes Eltern – und nicht nur die – sind entsetzt. „Was muss noch alles passieren?“ Das Wort Skandal macht die Runde und ist bis heute nicht verstummt.

Doch für die Familie des Opfers kommt es noch schlimmer. Die Großeltern und die Eltern erhalten mehrfach Anrufe. Der arme Junge, heißt es immer wieder. „Er ist noch ein Kind. Das kann er nicht getan haben. Und wieso hat sich das Mädchen nicht gewehrt?“, fragen sich einige im Dorf. Die Antwort gibt Yvonne heute: „In einer solchen Situation wehrt man sich nicht.“ Aus Angst, dass noch mehr passiert. Aus Todesangst. Viele Bürger des Stadtteils beeindruckt das nicht, sie starten eine Unterschriftenaktion, machen sich für K. stark. Sogar der Pfarrer ergreift Partei für ihn. Yvonne erinnert sich, einmal heulend aus der Kirche gelaufen zu sein.

Was immer im Dorf gesagt wird, Yvonnes Familie rückt eng zusammen. „Ich wäre weggezogen“, sagt die heute 42-Jährige. Sie hätte resigniert. Ihre Eltern bleiben – mit ihrer Tochter. „Das hat unser Verhältnis gestärkt.“ Die Großeltern möchten ihre Enkelin am liebsten in einen Glaskasten packen. „Das wäre ganz verkehrt gewesen. Die Eltern haben mich laufen lassen, und das war gut so. So bin ich stark geworden fürs Leben.“

Der Täter wird wegen guter Pro-gnose früher aus der Haft entlassen. „Und er kam ins Dorf zurück.“ Yvonne fasst sich an den Arm – Gänsehaut. „Aber ich glaube, ich bin ihm nie über den Weg gelaufen.“ Und seine Eltern seien immer auf die andere Straßenseite gegangen. „Die haben doch auch gelitten.“ Angst im Dorf zu leben, in der Nachbarschaft ihres Peinigers, das hat Yvonne nicht. Hatte sie sich wenigstens eine Entschuldigung erhofft? „Nee“, die Antwort kommt spontan und eindeutig. Und so ist und so bleibt es auch.

1992. Yvonne ist 16, als in Weißenthurm die sechsjährige Shari ermordet wird. Die Stimme des Täters wird auf einem Band veröffentlicht, doch auf Anraten ihrer Mutter hört die Tochter es nicht ab. Tage später wird K. gefasst und gesteht den Mord. „Meine Mutter und meine Patentante haben geschrien und geheult. Ganz schlimm.“ Das Verbrechen an Shari entsetzt natürlich, aber es wühlt auch die Erinnerung an das eigene Leiden auf. „Das alles hätte mir passieren können.“ Yvonne schüttelt den Kopf. „Ich war unter Schock.“ Und wie reagiert die Bevölkerung, die zuvor für K. auf die Straße gegangen war? Die einen wollen nicht mitgemacht haben, erinnert sich Yvonne. Andere stehen zu ihrer Fehleinschätzung und wissen jetzt: „Er tut es ja doch.“ Er hat es getan.

Das Verbrechen berührt die Bevölkerung weit über den Ort des Geschehens hinaus. Auch das Interesse an dem schon bald stattfindenden Prozess ist groß. Yvonne sitzt im Gerichtssaal, gemeinsam mit ihrer Mutter und einer Freundin. Natürlich wird nicht nur über den zu verhandelnden Mord gesprochen, sondern auch über das, was vorher geschah. Ausführlich über das erste Opfer also. „Das bist du“, merkt Yvonne plötzlich und erschrickt. „Da ist alles wieder hochgekommen.“ Im Prozess wird das Verbrechen an ihr ausführlich behandelt. Sie hört die Schilderung zum ersten Mal und ist fast überrascht: „Ja, das stimmte alles. So war es gewesen.“ Die Mutter bricht in Tränen aus, Yvonne ist entsetzt: „Wie viele Schutzengel hat man?“ Es müssen einige gewesen sein.

Jetzt endlich, nach acht Jahren, erfährt die inzwischen 17-Jährige im Detail, was mit ihr geschehen ist. Bei allem Leid, Yvonne ist froh, dass es zu keiner Vergewaltigung gekommen war, das erleichtert den Weg zu einem Partner. „Aber was ich bis heute nicht haben kann, wenn mich jemand in den Schwitzkasten nimmt.“ Da sind auch 33 Jahre noch zu kurz. Wie hat das Geschehen das Leben beeinflusst oder gar verändert? Darüber hat Yvonne oft nachgedacht. „Was wäre ich, wenn das alles nicht passiert wäre?“ Eine Antwort hat sie darauf nicht gefunden, und das wird wohl auch so bleiben. Die 42-Jährige hält inne, will unbedingt eine Antwort finden: „Vielleicht genieße ich das Leben mehr, als ich es sonst getan hätte.“ Längst ist sie in einen anderen Ort gezogen.

Manchmal gelingt es, nicht an die Vergangenheit und an das Verbrechen zu denken. Meist aber sind die Erinnerungen daran intensiv. Mit guten Freundinnen kann Yvonne immer reden, vor allem mit Mutter Roswitha. Yvonne bewundert sie: „Sie ist so stark.“ Vielleicht aber ist sie es nur für die Tochter. Wie dem auch ist: „Ich habe meinen Eltern viel zu verdanken.“

Nach 33 Jahren erzählt Yvonne ihre Geschichte. „Ich bin froh, dass Sie ein offenes Ohr für mich hatten“, sagt sie später. Das hat ihre Schilderung über das Verbrechen vorausgesetzt. Mehr noch: Das Reden soll ähnlich Betroffene ermuntern: „Macht den Mund auf! Traut euch!“ Ganz groß, diese zierliche Yvonne.

Gabi Novak-Oster

Offene Worte

Muss das sein? Nach 33 Jahren noch?

Eine Frau spricht über ein Verbrechen, das ihr als Neunjährige widerfuhr. 1984. Sie offenbart eine unvorstellbar brutale Tat, die vom Gericht mit einer milden Strafe geahndet wurde. Denn der Richter sah den Körper des Mädchens lediglich „gefährlich verletzt“, nicht aber mehrfach dem Tod nahe. Als die Haft für den Täter aufgrund günstiger Sozialprognose verkürzt wurde, folgte seiner Entlassung weiteres Unheil – bis hin zur Ermordung der sechsjährigen Shari 1992.

Yvonne war sein erstes Opfer. Sie litt, überlebte – und schwieg. Und ist damit keine Ausnahme. Viele Menschen, die Leid ertragen mussten oder müssen – ob im Krieg oder bei Katastrophen, ob im Kinderheim oder in der Familie –, sie schweigen über das Geschehen. Sie wollen nicht reden. Sie können es nicht. Nicht über das Gestern und nicht über das Heute. Nicht über körperliche Qualen und nicht über seelische Schmerzen. Nicht über die Täter. Die Opfer wollen vergessen und verdrängen, doch das gelingt nur selten. Das Trauma bleibt, meist lebenslang.

Yvonne schildert heute öffentlich und offen, was sie lange nur ihrer Familie und engsten Freunden anvertraut hatte. Es ist mutig, nach mehr als drei Jahrzehnten diesen Schritt zu tun. Doch Yvonne will gleichsam Betroffene ermuntern: Schweigen hilft den Tätern, nicht den Opfern. Das Reden kann nicht vergessen machen, aber es erleichtert.

Ja, es muss sein. Auch nach 33 Jahren noch.

E-Mail: gabi.novak-oster@rhein-zeitung.net

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