Berlin/Erfurt

Grundsatzurteil: Gericht setzt Kirchen neue Grenzen

Die Religionszugehörigkeit darf nicht bei jeder Stellenbesetzung eine Rolle spielen, entschied das Bundesarbeitsgericht in einem Grundsatzurteil. Geklagt hatte eine konfessionslose Sozialpädagogin, die bei der Auswahl für eine Referentenstelle nicht berücksichtigt worden war.

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Die Kirchen sind große Arbeitgeber: Allein die Diakonie beschäftigt mehr als 525.000 Menschen in Deutschland. Ihre Freiheit, besondere Anforderungen an ihre Mitarbeiter zu stellen, wurde jetzt höchstrichterlich beschnitten. Das hat Konsequenzen. Die erfolgreiche Klage einer Sozialpädagogin wird die Praxis der Kirchen bei jährlich Tausenden Neueinstellungen verändern: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) verhandelte in Erfurt darüber, ob die Berlinerin diskriminiert wurde, weil sie als Konfessionslose nicht zu einem Einstellungsgespräch für einen Job der Diakonie Deutschland eingeladen wurde. Ihr Fall hat grundsätzliche Bedeutung für den Sonderstatus der Kirchen in Deutschland als Arbeitgeber. Wir beantworten die wichtigsten Fragen zu dem wegweisenden Urteil:

Worin liegt die besondere Bedeutung des Falls?

Er wurde zum Präzedenzfall für die Antwort auf eine Frage, die in Deutschland seit Jahren kontrovers diskutiert wird. Dabei geht es einerseits um das vom Grundgesetz geschützte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen bei ihren Angelegenheiten, also ihre Autonomie – auch als großer Arbeitgeber. Auf der anderen Seite steht das Diskriminierungsverbot, das für Religionszugehörigkeit, aber auch Alter oder Geschlecht gilt. Und: Es war die erste Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum kirchlichen Arbeitsrecht im April 2018. Die Herausforderung für die Erfurter Richter bestand nach Meinung des Bonner Arbeitsrechtlers Gregor Thüsing darin, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Kirchen mit der des Europäischen Gerichtshofs in Einklang zu bringen.

Warum hat sich die Berlinerin bis in die höchste Instanz geklagt?

Die Frau hatte sich im Jahr 2012 auf eine von der Diakonie ausgeschriebene, auf zwei Jahre befristete Referentenstelle beworben. Kandidaten sollten kirchlich gebunden sein und einen Bericht zur Umsetzung der Antirassismuskonvention in Deutschland schreiben. Sie machte in ihrer Bewerbung keine Angaben zur Konfession. Es gab 38 Bewerber für die Stelle, vier wurden zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Sie nicht. Die Sozialpädagogin sah sich wegen ihrer Konfessionslosigkeit diskriminiert und klagte sich seit dem Jahr 2013 mit der Forderung auf eine Entschädigung von insgesamt rund 9800 Euro durch die Instanzen.

Was entschied das Bundesarbeitsgericht nun?

Es fällte ein Grundsatzurteil, das den Sonderstatus der Kirchen im Arbeitsrecht enger fasst als bisher. Die höchsten deutschen Arbeitsrichter schränkten die Freiheit der Kirchen ein, besondere Anforderungen an ihre Mitarbeiter bei der Religionszugehörigkeit zu stellen. Sie legten quasi Kriterien fast. Danach ist es nur dann zulässig, eine bestimmte Religionszugehörigkeit bei Einstellungen zur Bedingung zu machen, wenn das für die konkrete Tätigkeit objektiv geboten, also wesentlich und entscheidend ist. Dies zu überprüfen, obliege den Gerichten.

Was wurde aus der Entschädigungsforderung der Berlinerin?

Sie bekam vom Arbeitsgericht Berlin eine Entschädigung zugesprochen, verlor aber vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, das jedoch eine Revision zuließ. Das Bundesarbeitsgericht entschied nun, dass die Frau wegen ihrer Konfessionslosigkeit benachteiligt worden ist. Ihr wurden zwei Bruttomonatsverdienste – insgesamt etwa 4000 Euro – als Entschädigung zugesprochen.

Warum hat sich der EuGH ebenfalls mit dem deutschen Fall beschäftigt?

Das Bundesarbeitsgericht, bei dem die Klage der Sozialpädagogin 2016 landete, rief den EuGH an. Es wollte von den Richtern in Luxemburg klären lassen, ob kirchliche Arbeitgeber die Konfession von Bewerbern als Einstellungskriterium festlegen dürfen – und ob diese Praxis vereinbar mit europäischem Recht ist, insbesondere mit der EU-Antidiskriminierungsrichtlinie. Die Luxemburger Richter entschieden im April, dass kirchliche Arbeitgeber nicht pauschal und unbegründet die Zugehörigkeit zu einer Kirche verlangen dürfen. Die Anforderung müsse „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt“ sowie gerichtlich überprüfbar sein, urteilte der EuGH. Vor dem Hintergrund dieser Klarstellung aus Luxemburg musste das Bundesarbeitsgericht nun erneut verhandeln.

Welche Rolle spielte die Entscheidung aus Luxemburg für das jetzige Urteil?

Sie lieferte quasi eine Orientierung für das Urteil der Bundesarbeitsrichter. Die Richter in Luxemburg stärkten ebenso wie jetzt das Bundesarbeitsgericht die Rechte konfessionsloser Bewerber bei kirchlichen Arbeitgebern und setzten Maßstäbe, wann eine Kirchenzugehörigkeit verlangt werden kann. „Der EuGH hat sehr streng entschieden“, sagte der Arbeitsrechtler Thüsing, der die Kirchen in der Vergangenheit auch vor Gericht vertrat. Thüsing und andere Juristen messen dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts eine große Bedeutung für eine Neuausrichtung des kirchlichen Arbeitsrechts bei.

Gibt es auch andere Einschätzungen zu dem Urteil?

Ja. Der Kirchenrechtler Hans Michael Heinig ist skeptisch. Er geht eher davon aus, dass das Kirchenurteil des Bundesarbeitsgerichts die Einstellungspraxis der kirchlichen Arbeitgeber nicht grundsätzlich verändern wird. Arbeitsstellen mit Aufgaben in der Verkündigung und Glaubensvermittlung könnten nach der Rechtsprechung des EuGH weiter mit einem Konfessionserfordernis versehen werden, sagte der Göttinger Rechtswissenschaftler. „Auch für Leitungsfunktionen werden besondere Loyalitätsobliegenheiten einer gerichtlichen Prüfung standhalten.“ In vielen sonstigen Bereichen arbeiten in der evangelischen Kirche bereits bislang Menschen mit, die nicht Mitglied der evangelischen Kirche sind. Die Vorgaben aus Luxemburg, denen das Bundesarbeitsgericht folgte, werfen nach Ansicht des Kirchenrechtlers grundsätzliche Probleme auf. Unklar sei etwa, wie ein säkulares Gericht entscheiden soll, wann eine religiös begründete Anforderung bei der Stellenbesetzung angesichts des religiösen Ethos einer Organisation „objektiv erforderlich“ ist? „Hier droht Richtertheologie durch die Hintertür“, mahnte Heinig. Das Bundesarbeitsgericht versucht nach seiner Einschätzung zwar, das Problem zu umschiffen, indem es auf eine objektive Gefährdung des Ethos und damit letztendlich auf die Einbindung in eine Hierarchie abstellt. Das wird allerdings dem bisher gerichtlich akzeptierten Leitbild einer kirchlichen Dienstgemeinschaft in keiner Weise mehr gerecht, sagte Heinig. „Die Kirchen werden nun die Urteilsgründe genau analysieren müssen, um eventuell das Bundesverfassungsgericht um ein letztes Wort zu bitten“, prognostizierte Heinig. Die Hürden dafür lägen aber hoch, denn der Vorrang des Europarechts gelte nur dann nicht, wenn andernfalls der Identitätskern des Grundgesetzes ausgehöhlt würde.

Ist das Urteil für viele Menschen von Bedeutung?

Die Kirchen sind große Arbeitgeber in Deutschland. Jährlich werden Tausende Stellen allein bei der Diakonie neu besetzt, unter anderem Mitarbeiter in Kitas, in Altenheimen oder Krankenhäusern. Die Diakonie hat nach Angaben eines Sprechers mehr als 525.000 hauptamtlich Beschäftigte. In den Einrichtungen und Diensten der Caritas arbeiten rund 620.000 Menschen. Simone Rothe/epd