Die Regenbogenhexe

In einem Land, weit, weit hinter dem Regenbogen, wo die Wiesen grau sind, die Bäume und die Blumen, die Häuser und die Menschen und sogar der Himmel grau sind, lebte eine kleine Hexe.

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Fröhlich und zufrieden wohnte sie in ihrem grauen Häuschen, schlief in ihrem grauen Bett und ritt auf ihrem Besen durch den grauen Wald. Sie hatte graue Haare und graue Augen, graue Lippen und graue Ohren, graue Hände und Füße. Ihre Kleider waren grau, ihre Schuhe, und sogar ihre Unterhosen, von denen sie immer sechs übereinanderzog, waren grau. Aber das störte sie nicht. Sie war eine fröhliche kleine Hexe. Nur manchmal, wenn es draußen regnete und die grauen Wolken alles noch grauer machten, saß sie am Fenster und war traurig. Sehr traurig. Warum? Das wusste sie nicht. Irgendetwas fehlte ihr. Was? Das konnte sie nicht sagen. Und je öfter es regnete, desto trauriger wurde sie – trauriger und grauer.

Es war ein bisschen neblig, als sie an einem Morgen aus dem Haus ritt, und es dauerte nicht lange, da hatte sie sich in dem dichter werdenden Nebel verirrt. Zu allem Unglück begann es auch noch zu regnen. Traurig und grau setzte sie sich unter einen Baum, der sie mit seinen Zweigen ein bisschen vor dem Regen schützte. Sie schloss die Augen, und ein paar Tränen rollten über ihre Wangen. Müde stützte sie ihren Kopf in ihre Hände und seufzte. Plötzlich spürte sie etwas Warmes auf ihrem Kopf, und als sie hochschaute, traute sie ihren Augen nicht: Ein großer, heller Ball stand da am Himmel, und ein riesengroßer, bunter Bogen spannte sich von einem Ende des Waldes zum anderen. Fassungslos saß die kleine Hexe da. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Und etwas Seltsames geschah mit ihr – sie war nicht mehr traurig! Nein! Sie spürte, wie ihr Herz ganz weit wurde – sie hätte singen können. „Jetzt weiß ich, was mir gefehlt hat“, dachte sie, „jetzt weiß ich es endlich.“ Sie ging ein paar Schritte hin und her und dachte nach: „So müsste es bei mir zu Hause aussehen – so schön.“ Dann glitt ein Lächeln über ihr kleines, graues Gesicht. Sie nahm ihr graues Kopftuch ab, flüsterte einen Zauberspruch – und auf einmal war der Bogen verschwunden. Vorsichtig faltete sie ihr Tuch zusammen, um nichts von dem kostbaren Bogen zu verlieren, und stieg auf ihren Besen. Der Nebel hatte sich gelichtet, so fand sie nach einigem Hin- und Herfliegen den Weg zu ihrem grauen Häuschen wieder. Dort schaute sie sich lange um, dann legte sie das Tuch wieder auf die Erde, faltete es behutsam auseinander und flüsterte wieder. Da wurden die Laubbäume lila, die Tannen rosa, der Himmel grün und die Wiese blau. Das graue Haus war plötzlich bunt, das Dach orange, die Fenster gelb, die Wände rosa. Und immer noch leuchteten Farben in dem Tuch! Da sagte die kleine Hexe noch einen Zauberspruch. Im Nu hatte sie nichts Graues mehr an. Ihre Kleider färbten sich bunt in allen Farben des Regenbogens. Jetzt war sie zufrieden.

Tja, und was war im Land vor dem Regenbogen? Die Kinder kamen nach dem Regen wieder nach draußen zum Spielen. Erschrocken blieben sie stehen. Was war denn das? Es regnete noch ein bisschen, die Sonne schien – aber wo war der Regenbogen? Weg, einfach weg! Das hatte es ja noch nie gegeben. Ratlos schauten sie sich an. Irgendjemand hatte einfach den Regenbogen gestohlen. Aber wer bloß? Die Kinder beschlossen, den Regenbogen zu suchen. Sehr lange liefen sie durch den Wald, bis sie auf einmal vor ganz komischen rosa Bäumen standen. Na, so was! Rosa Bäume, ein grüner Himmel, da stimmte doch was nicht! „He, sag mal“, riefen sie der kleinen Frau zu, die vor einem kunterbunten Häuschen saß, „hast du das hier alles so bunt gemacht?“ „Na klar, und ich habe den ganzen schönen Bogen dazu gebraucht. Sieht das nicht toll aus?!“ „Aber das ist unser Regenbogen, den kannst du nicht haben!“ Entsetzt hörte die Hexe den Kindern zu. Sollte jetzt alles wieder so werden wie vorher, so grau und traurig? „Ich weiß was“, rief ein kleines Mädchen, „wir laufen nach Hause und holen unsere Farben. Morgen kommen wir wieder und malen dir alles an, was du willst, aber richtig!“

Und das taten die Kinder auch. Der Wald wurde grün, der Himmel blau, die hellgrüne Wiese bekam bunte Blumentupfen, das Haus blieb kunterbunt. Die kleine Hexe bekam eine rote Bluse, ein kariertes Kopftuch und einen bunt gestreiften Rock. Die Strümpfe wünschte sie sich lila, die Schuhe blau, nur die Unterhosen blieben grau – zur Erinnerung. Ihre regenbogenblauen Augen und regenbogenroten Lippen durfte sie behalten. Glücklich bedankte sich die Hexe. „Und was passiert mit unserem Regenbogen?“, wollten die Kinder wissen. „Geht nur nach Hause, dann seht ihr es“, lächelte die kleine Hexe zum Abschied. Und richtig, genau auf der Grenze zwischen dem Land hinter dem Regenbogen und dem Land vor dem Regenbogen sahen sie ihn: Groß und bunt spannte er sich über den Himmel. Es regnete ein bisschen, und die Sonne schien. Alles war wie immer.

Beate Schaller aus Dierdorf hat die Geschichte 
(ab 4 Jahren) für ihre Enkel und 
Kindergartenkinder geschrieben.