„Der Holocaust ist in mir“ – Zentralrats-Präsident Dieter Graumann über Eltern, Erinnerung und Frankfurter Eintracht

Dieter Graumann ist Präsident des Zentralrats der Juden.
Dieter Graumann ist Präsident des Zentralrats der Juden. Foto: epd, dpa

Wer einem Zeitzeugen zuhört, wird selbst zu einem, sagt der Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Eli Wiesel. An diese Wirkung glaubt auch Dieter Graumann, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland. Zum internationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar appelliert er im Gespräch mit unserer Zeitung: „Wer einmal im Leben eine Gedenkstätte oder ein Konzentrationslager besucht hat, der wird in der Regel ein Leben lang immunisiert sein gegen die Versuchungen von Rassismus und Ausgrenzung.“

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Dabei setzt er vor allem auf Jugendliche. Hier das Gespräch im Wortlaut:

Dieter Graumann ist Präsident des Zentralrats der Juden.
Dieter Graumann ist Präsident des Zentralrats der Juden.
Foto: epd, dpa

Herr Graumann, sollte der Besuch eines Konzentrationslagers fest in den Lehrplänen von Schulen verankert werden?

Die israelische Gedenkstätte Yad Vashem gibt den Opfern ein Gesicht.
Die israelische Gedenkstätte Yad Vashem gibt den Opfern ein Gesicht.
Foto: epd, dpa

Das ist ein Wunsch von mir, keine Forderung. Ich wünsche mir, dass jemand, der in Deutschland eine Schule besucht, am Ende seiner Schulkarriere möglichst ein KZ oder eine Gedenkstätte gesehen haben sollte. Gefühle kann man natürlich nicht herbeizwingen. Das wäre insbesondere bei jungen Menschen ein ganz falscher Ansatz. Dann würde man eher das Gegenteil erreichen. Trotzdem denke ich, dass den Schülern auf diese Weise ein neuer Zugang zur Geschichte, ein neuer Blickwinkel verschafft werden kann. Ich wünsche mir daher mehr Engagement und Sensibilität von denen, die in Schulen die Verantwortung tragen – bei Lehrern, Schulleitern, Kultusministerien. Ich denke –, das ist meine naive Hoffnung – wer einmal im Leben eine Gedenkstätte oder ein KZ besucht hat, der wird in der Regel ein Leben lang immunisiert sein gegen die Versuchungen von Rassismus und Ausgrenzung. Sie selbst sind als Kind in besonderer Weise durch das Schicksal Ihrer Eltern mit dem Holocaust konfrontiert worden.

Foto: epd, dpa

Ich bin aufgewachsen mit Eltern, die durch die Shoah gegangen sind, die in der Shoah fast ihre ganze Familie verloren haben. Meine Mutter hatte 40 Verwandte, davon sind ganze zwei übrig geblieben – ihre Schwester und sie. Mein Vater war in sechs verschiedenen Konzentrationslagern. Das hat das ganze Leben meiner Eltern geprägt. Ich bin also aufgewachsen mit tief traumatisierten Eltern. Deren Trauma ist auf mich übergegangen – so wie bei all meinen Schicksalsgenossen. Die Träume und Albträume unserer Eltern sind ein Stück in uns hineingeflossen. Darum ist in mir jeden Tag ein Holocaust-Gedenktag. Ich wäre doch selbst froh, wenn es anders wäre.

Sie sprechen aber nie von einer Kollektivschuld der Deutschen, sondern immer nur von massenweiser individueller Schuld.

Es gibt immer nur individuelle Schuld – die aber gab es hunderttausendfach in der Nazizeit: die Schuld der vielen Mitmacher, Mitläufer, Schreibtischtäter, die Schuld der Helfer der Tötungsmaschinerie, der Aktiven in den Konzentrationslagern. Es waren insgesamt sehr, sehr viele, die den Holocaust mit zu verantworten hatten. Aber sogar damals gab es keine Kollektivschuld. Heute kann man erst recht nicht mehr von Schuld sprechen. Die Menschen von heute tragen nicht den Hauch einer Schuld für die Verbrechen von damals. Alles andere zu behaupten, wäre sehr töricht und schädlich. Wohl aber gibt es eine Verantwortung. Dazu gehört, der Vergangenheit zu gedenken und vor allem daraus zu lernen, um so etwas nie wieder geschehen zu lassen.

Die Schulklassen heute haben mindestens zu einem Drittel Kinder mit Migrationshintergrund …

… das weiß ich. Und die fragen dann, was hat denn das alles mit mir zu tun. Damit muss man sensibel umgehen. Doch dürfen die Lehren aus der Shoah nicht an den Grenzen Deutschlands enden. Das größte Menschheitsverbrechen, wie auch heutiger Antisemitismus, gründet sich auf purem Menschenhass. Daher geht es uns eben doch alle an, egal, aus welchem Herkunftsland wir stammen. Zu lernen, dass die religiöse und kulturelle Vielfalt eine Bereicherung ist und Diskriminierung einer Gruppe unseren moralischen Werte widerspricht, ist Voraussetzung für ein friedliches Miteinander hierzulande. Aber insgesamt ist heute alles viel besser als früher. Ich selbst bin in Deutschland 13 Jahre zur Schule gegangen – und hatte nur eine einzige Schulstunde zum Thema Holocaust. Das ist heute zum Glück ganz anders.

Allmählich fehlen auch die Zeitzeugen, die jungen Menschen berichten können.

Ich finde, auch wir von der zweiten Generation sind in der Verantwortung und müssen unsere Erfahrung mitteilen. Wir haben einiges zu erzählen – und brauchen dazu Menschen, die zuhören wollen, damit sie verstehen. Es ist für uns schmerzhaft, über unsere Albträume und unsere Traumatisierung zu sprechen. Da müssen wir über unseren Schatten springen. Aber wir können Gefühle vermitteln. Sie sind oft noch mehr wert als noch eine Schulstunde mit Fakten. Zudem brauchen wir Vorbilder, die zeigen, dass es eine Selbstverständlichkeit ist, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen, und zwar nicht nur weil es sein muss, sondern weil man es selbst möchte.

Wer kann noch Vorbild sein?

Politiker, aber auch Sportler können Vorbild sein. Sportler sind doch die Idole gerade von jungen Menschen. Darum habe ich mir vergangenes Jahr so sehr gewünscht, dass die komplette Fußball-Nationalmannschaft bei der EM in Polen Auschwitz besucht und das öffentlichkeitswirksam macht – so wie Engländer, Franzosen und Italiener es uns so deutlich und berührend vorgemacht haben. Die deutsche Nationalmannschaft war zu einer solchen Geste leider nicht zu bewegen; nur wenige Spieler und die Trainer waren in der Gedenkstätte. Künftig wird es sicher besser sein. Wenn Idole von heute zeigen, dass sie berührt sind, erreichen wir viele junge Menschen. Bayern München und Schalke 04 werden am Wochenende an ihre einstigen jüdischen Vereinsmitglieder erinnern. Das sind wunderbare Gesten, wenn sich deutsche Fußballvereine dieser Verantwortung stellen. Wenn es jetzt auch noch der Verein machen würde, dessen Fan ich bin, wäre es sogar nicht auszuhalten!

Sie sind Frankfurt-Fan?

Ja, und wie! Und Eintracht Frankfurt war schon vor der Nazizeit ein Verein, der stark von jüdischen Mitgliedern und jüdischen Funktionären geprägt war. Er müsste sich seiner Verantwortung hier viel mehr stellen, als er es bisher tut – das wäre ein schönes Zeichen.

Ein historisches Vorbild ist nach wie vor Anne Frank.

Absolut. Anne Frank steht für mich aber immer für die 1,5 Millionen Kinder, die ermordet wurden, nur weil sie jüdisch waren. Das Besondere an ihrem Tagebuch ist, dass die Menschen ein Schicksal auf sehr berührende Weise nachvollziehen können. Das ist das Generalthema: aus abstrakten Zahlen individuelle Namen machen. Aus Opfern werden Menschen, die ihre eigenen Hoffnungen und Träume hatten. Dann erreichen wir die Köpfe und die Herzen junger Menschen.

Trotz Aufklärung sind Rechtsextremismus und Antisemitismus keine Randphänomene, sondern auch in bürgerlichen Kreisen anzutreffen.

Bei allen Umfragen sehen wir, dass es einen ganz stabilen Kern von einem Fünftel Menschen in diesem Land gibt, die gegenüber Juden feindselig eingestellt sind. Sie sind offenbar aufklärungs- und bildungsresistent. In anderen europäischen Ländern sind die Zahlen zum Teil noch deutlich höher. Man muss würdigen, dass man sich in Deutschland vorbildlich mit der Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Dennoch ist ein starker Ruck gegen rechts in der Gesellschaft wünschenswert. Bei Fragen des NPD-Verbots beispielsweise oder wenn es um die Teilnahmen an Demonstrationen gegen Antisemitismus und Rassismus geht.

Wie ist es, heute als Jude in Deutschland zu leben?

Juden leben heute gut hier und so sicher wie nie. Aber dennoch muss jüdisches Leben hier weiter gesichert werden. Unsere jüdische Gemeinschaft ist gerade dabei, neu zu erblühen und eine neue, positive jüdische Zukunft aufzubauen. Das liegt sicherlich auch daran, dass wir uns über einen unvermuteten Zuwachs freuen können. Rund 90 Prozent unserer Mitglieder kamen erst in den vergangenen 20 Jahren zu uns, vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Pluralität ist heute die neue jüdische Normalität in Deutschland. Und ich bin mir sicher, dass daraus ein in jeder Hinsicht positiver Beitrag für Deutschland resultieren wird.

Das Gespräch führte Birgit Pielen