AfD-Chefin Petry: Wir müssen über Grenzzäune nachdenken

Was ist das Programm der AfD? Frauke Petry im Interview mit Christian Lindner und Hartmut Wagner.
Was ist das Programm der AfD? Frauke Petry im Interview mit Christian Lindner und Hartmut Wagner. Foto: Weber

Die Alternative für Deutschland (AfD) kommt bei Umfragen inzwischen auf 12 Prozent. AfD-Chefin Frauke Petry begründet im Interview mit der Rhein-Zeitung den Aufwind für ihre Partei, erklärt, wie sie sich von Rechtsextremen abgrenzen will und sagt einen bemerkenswerten Satz: „Was dem Land jeden Tag schadet, meist durch illegale Einwanderung, das nützt der AfD parteipolitisch aktuell."

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„Wir müssen unsere Grenzen wieder kontrollieren und sichern. Das tun wir nicht ausreichend
„Wir müssen unsere Grenzen wieder kontrollieren und sichern. Das tun wir nicht ausreichend„, sagte Petry.
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Frau Petry, Deutschland im Jahr 2016. Wie sehen Sie unsere Republik?

Deutschland ist 2016 immer noch ein sehr erfolgreiches Land, ein wirtschaftlich starkes Land. Wir sind jedoch dabei, das Fundament aufzugeben, das nach dem zweiten Weltkrieg gelegt wurde – das Fundament an Rechtsordnungen, Bildungsstandards, Wirtschaftssystemen und Erfolgsrezepten, die uns über Jahrzehnte in Europa friedlich und erfolgreich haben zusammenleben lassen. Wir verlieren an Substanz, leben auf Kosten der Substanz. Und wir haben eine Regierung, die nicht mehr in der Lage ist, positive Visionen für unser Land zu entwickeln.

Zehn Jahre weiter, Deutschland im Jahr 2026. Wenn sich nichts in Ihrem Sinne, nichts im Sinne der AfD ändert, wie steht Deutschland dann da?

Deutschland würde zu einem der so genannten „failing states“ (Anmerkung der Redaktion: „gescheiterter Staat“). Das heißt, dass unsere Rechtsordnung durch terroristische Anschläge weiter bedroht wird, wie wir das aus dem Nahen Osten seit Jahrzehnten kennen. Dass wir zunehmend kulturelle Auseinandersetzungen in Deutschland erleben werden, weil nicht klar ist, wer sich hier an wen anpassen muss, wer sich integrieren muss und wer diejenigen sind, die letztlich Tradition und Werte vorleben. Und dass wir dadurch natürlich wirtschaftlich in die Bredouille geraten können, weil die Anforderungen, um ein friedliches, auf europäischen Traditionen beruhendes Zusammenleben zu gewährleisten, auch wirtschaftlich riesengroß sind.

Wer oder was hat uns die von Ihnen prophezeite Entwicklung eingebrockt?

Ich glaube, wir haben in Deutschland zu lange fundamentale gesellschaftliche Fragen nicht offen diskutiert und beantwortet. Dafür verantwortlich sind zuallererst die Regierungsparteien. Nicht nur die aktuelle Regierung, ich sehe da auch viele Vorgänger-Regierungen am Werk. Ich glaube, dass es ein entscheidender Fehler war, die Europäische Union – nach der sehr erfolgreichen Geschichte der Europäischen Gemeinschaft – mit einer viel stärkeren Integration zu forcieren, ohne die Bürger dabei mitzunehmen. Es war ein entscheidender Fehler, der auch Demokratiedefizite aufweist, weil mehr und mehr Entscheidungen nicht mehr da getroffen werden, wo sie hingehören, sondern eben in Brüssel. Das betrifft inzwischen die Hälfte aller gesetzlichen Regelungen. Die Einführung des Euros war ein schwerer Fehler, der uns möglicherweise über Jahrzehnte hinaus begleiten und noch weit mehr Geld kosten wird, als er bereits gekostet hat. Ich glaube, dass auch Fragen, wie wir zur Familie stehen oder Einwanderer integrieren wollen, viel zu lange nicht offen diskutiert wurden – aus Angst vor einer möglicherweise gesellschaftlich gefährlichen Debatte.

Wie nehmen Sie die deutsche Parteienlandschaft wahr?

Da antworte ich gerne mit dem, was viele Parteienforscher konstatieren: Alle relevanten politischen Parteien in Deutschland, die in der Meinungsbildung eine Rolle spielen, sind nach links gerutscht. Kanzlerin Merkel hat die CDU sozialdemokratisiert. Der Raum zwischen politischer Mitte und einem rechten, nicht mehr demokratischen Rand ist leer geworden. Da gibt es ein großes politisches Vakuum – eben da, wo die CDU sich einmal gesehen hat. Zum Teil bedient die CSU diesen Raum noch, aber nicht sehr glaubwürdig. Eine Partei wie die AfD konnte nur entstehen, weil die FDP keine bürgerlich-liberale Politik mehr gemacht hat und die CDU/CSU ihre konservativen Werte in der praktischen Auslegung de facto verloren haben.

Da können Sie der CDU-Vorsitzenden Merkel ja zumindest in einem Punkt dankbar sein.

Das wäre parteitaktisch genau das Richtige, das stimmt. Was dem Land jeden Tag schadet, meist durch illegale Einwanderung, das nützt der AfD parteipolitisch aktuell. Das ist richtig. Aber wenn wir Politik für Bürger machen wollen, kann es für uns, da wir das Parteiensystem und die Verkrustung desselben kritisieren, ja nicht nur um Parteitaktik gehen. Es muss uns darum gehen, dass Bürger wieder aktiv in Politik einbezogen werden. Wir möchten auch dafür sorgen, dass es in Zukunft hoffentlich viel häufiger, auch in Deutschland, neue Parteien und politische Gruppierungen gibt, die das vorhandene Parteiensystem aufmischen. Ich hoffe, dass wir dabei als junge Partei standhaft bleiben. Ich glaube, der Demokratie tut frischer Wind immer gut, egal von welcher demokratischen Seite er kommt.

Sie stufen die CDU als sozialdemokratisch ein. Wo sehen Sie die AfD?

In einem breiten Spektrum. Dazu gibt es eine interessante Studie von infratest dimap aus dem letzten Jahr, die uns zwischen der einstigen liberalen FDP-Position und dem konservativen Rand der CDU/CSU verortet sieht. Wir halten uns außerdem für Politikrealisten, während die linken Parteien sich ja häufig als Utopisten bezeichnen.

Die AfD wird oft als rechtspopulistisch eingestuft. Das lehnen Sie ab. Beschreiben Sie die AfD mit einem Wort …

Ich erwarte, dass ein solches Etikett wegfällt. Sie schreiben doch auch nicht „die pädophile grüne Partei“! Wir erwarten einfach, dass Sie uns ohne Etikett bezeichnen, weil wir einen Parteinamen haben, der ausreicht.

Sie wollen die AfD nicht in einem Wort beschreiben?

Doch, gerne. Die AfD ist eine liberal-konservative Partei. Wir haben viele Positionen der CDU aufgegriffen. Sogar die Hanns-Seidel-Stiftung hat vor wenigen Tagen bestätigt, dass die AfD heute da steht, wo die CDU vor dem Jahr 1998 dagestanden hat. Wir decken also einen signifikanten Teil des Spektrums ab, das mal zu konservativen CDU-Positionen gehörte.

Ihr Spitzenkandidat in Rheinland-Pfalz, Uwe Junge, hat auf einer Wahlkampf-Veranstaltung in Koblenz gesagt, der Islam gehöre nicht zu Deutschland …

Dem stimme ich voll und ganz zu. Es gibt im Islam sehr verschiedene Strömungen, die allesamt, wenn man ihre Herkunftsländer betrachtet, abgesehen von der aufgeklärten und säkularen Türkei, mit dem Islam ein eigenes Staatsverständnis transportieren. Und das ist mit dem Grundgesetz und mit einer Demokratie definitiv nicht zu vereinen. Das sehen wir auch daran, dass es in Deutschland vermehrt Kinder von Einwanderern in der zweiten, dritten und vierten Generation gibt, die sich vom Rechtsstaat und der Demokratie abwenden und ihr Wohl in einem sehr traditionellen Islam finden. Das ist ein großes Problem.

Frauke Petry (AfD), RZ-Chefredakteur Christian Lindner und Redakteur Hartmut Wagner im Foyer der Rhein-Zeitung – am steinernen Redaktionsstatut.
Frauke Petry (AfD), RZ-Chefredakteur Christian Lindner und Redakteur Hartmut Wagner im Foyer der Rhein-Zeitung – am steinernen Redaktionsstatut.
Foto: Weber

Etwa fünf Prozent der Einwohner in Deutschland bekennen sich zum Islam. Und Sie sagen ihnen: Ihr gehört nicht zu uns!

Nein, das ist eine nicht zulässige Pauschalisierung, die Sie da vorgenommen haben. Der Islam in seinem Staatsverständnis gehört nicht zu Deutschland. Es gibt einen Lehrstuhl für islamische Theologie in Münster. Der dortige Professor ist bekennender Reformmuslim und wird deshalb von den eigenen Glaubensgenossen angegriffen. Sie halten ihn wohl für einen Ungläubigen. So geht es vielen. Der Islam hat nie eine Aufklärung erlebt. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Muslime, die in Deutschland leben, sich weiterhin zuallererst an unsere Rechtsordnung, das Grundgesetz und unsere Traditionen gebunden fühlen – nicht an die islamischen Traditionen, die mit unserer Rechtsordnung nicht vereinbar sind.

Soll heißen, Muslime, die sich integrieren, gehören zu Deutschland?

Ja, selbstverständlich. Wenn sie die deutsche Rechtsordnung für wichtiger und höher erachten, als die Scharia, selbstverständlich.

Trotzdem sagen Sie pauschal, der Islam gehört nicht zu Deutschland.

Verkürzte Aussagen sind fast immer problematisch. Ich habe Ihnen gerade dargelegt, warum der Islam problematischer ist als andere aufgeklärte Konfessionen. Und das ist kein Problem, das Deutschland alleine betrifft. Schauen Sie Frankreich an, schauen Sie Belgien an, wo die Probleme mit Parallelgesellschaften weiter fortgeschritten sind als in Deutschland. Wir sehen eine Hinwendung zum radikaleren Islam nicht nur bei Migranten, sondern wir haben sie in der dritten oder vierten Generation in Deutschland. Und wenn uns das nicht besorgt, dann sind wir blind für die Probleme, die auf uns zukommen.

Zum Thema Nummer eins derzeit, Asyl und Zuwanderung. Sie fordern, niemanden nach Deutschland einreisen zu lassen, der nicht dazu berechtigt ist. Wie wollen Sie das umsetzen?

Wir müssen unsere Grenzen wieder kontrollieren und sichern. Das tun wir nicht ausreichend. Frau Merkel hat das konstatiert, indem sie 3000 weitere Bundespolizisten gefordert hat, die wir aber gar nicht haben, weil die Polizeireform seit Jahren auf allen Ebenen für eine Reduktion der Polizeikräfte in Bund und Ländern gesorgt hat. Wir müssen wohl auch, wenn es nicht anders geht, über die Errichtung von Grenzanlagen nachdenken. Wir trauen der Türkei zu, 10.000 Kilometer Grenze zu schützen, schaffen es aber nicht, unsere knapp 1000 Kilometer Grenze zu Österreich zu schützen.

Grenzanlagen heißt?

Wenn es notwendig ist, müssen wir über Zäune nachdenken. Die Spanier tun das auch. Das ist nicht schön, ich bin kein Freund von Zäunen, ich bin selbst in der DDR bis zum 15. Lebensjahr hinter einer Mauer aufgewachsen. Wenn es jedoch darum geht, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung in Europa zu verteidigen, müssen wir auch über Grenzsicherungsanlagen nachdenken.

Zäune müssen bewacht werden, damit sie wirksam sind. Dann kommen wir ganz schnell in eine Situation, die wir in Deutschland nicht mehr erleben wollen. Die Frage ist, ob wir soweit überhaupt gehen müssen.

Noch einmal das Beispiel Spanien: Dort wurde an der Grenze ein relativ hoher bewachter Zaun errichtet. Es kommt dort zu sehr wenigen Vorfällen, weil das politische Signal, das durch den Zaun ausgesendet wird, lautet, dass es keine regellose Einreise mehr gibt. In Deutschland vermissen wir selbst dieses Signal. Im Gegenteil, Frau Merkel hat mit ihrer offenen Einladung geradezu dazu aufgerufen, Grenzen zu missachten.

Sie meinen den Zaun an den spanischen Exklaven in Afrika?

Ich meine den Zaun, den Spanien an seiner Außengrenze errichtet hat. Nicht nur in Afrika, sondern auch an seinen europäischen Grenzen.

Sie haben den Zaun sicher in Fotos gesehen.

Ja, 6 Meter hoch, Stacheldraht. Ich gebe zu, Zäune sind nichts Schönes. Grenzen aufzuzeigen, ist immer ein schmerzhafter Prozess, zum Schutz unserer freiheitlichen Gesellschaft aber unumgänglich. Frau Merkel hat die deutschen Grenzen de facto aufgehoben, was klar rechtsstaatswidrig ist.

Wer hätte diese Grenzanlagen bei uns zu bewachen?

Aktuell die Bundespolizei.

Bewaffnet?

Das ist geltende deutsche Rechtslage. Sie kennen die Gesetze wahrscheinlich genauso gut wie ich. Sie wissen, dass Bewaffnung zur Ausrüstung der Polizei gehört. Wenn die Regierung dieses Gesetz für falsch hält, hat sie das Möglichkeit, es zu ändern. Im Gegensatz zu uns.

Also notfalls schießen?

Alle Beamten im Grenzdienst tragen eine große Verantwortung, kennen die Rechtslage und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Im Herbst 2015 drängten aber täglich Tausende Flüchtlinge nach Deutschland.

Die Bundesregierung hat noch nicht einmal versucht, die Situation mit Worten zu entschärfen, im Gegenteil, Frau Merkel hat eine offene, unbegrenzte Einladung ausgesprochen. Das war ein großer Fehler, aber nicht der Beginn einer Fehlentwicklung. Denn es gibt bereits seit 2011 eine Asylverfahrensrichtlinie mit erleichterten Regeln zur Anerkennung als Flüchtling und als Asylant. Wer die Statistiken liest, der sieht, dass die Asylbewerberzahlen bereits seit 2011 ansteigen.

Hat Kanzlerin Merkel damit ihren Amtseid verletzt?

Viele Menschen sind der Meinung, dass sie das getan hat. Ich glaube das auch, aber dies ist offensichtlich nicht justiziabel.

Sie kritisieren, dass die Bundesregierung seit Jahrzehnten versäumt hat, ein geregeltes Gesetz für Einwanderung zu schaffen. Heißt das umgekehrt, die AfD ist für ein solches Einwanderungsgesetz?

Wir haben uns bereits 2013 für die Schaffung eines Einwanderungsgesetzes, womöglich nach kanadischem oder auch australischem Vorbild eingesetzt. Allerdings unter der Voraussetzung, dass zuvor das Gesetzeswerk für Asyl und Einwanderung klar voneinander getrennt wird. Wir erleben ja gerade, dass die Probleme durch die Vermischung entstehen. Darüber hinaus ist es gerade in der aktuellen Lage unerlässlich, dass wir eine breite gesellschaftliche Debatte über das Für und Wider von Einwanderung führen. Ich habe gar kein Problem mit Einwanderung, weil es viele positive Beispiele für Einwanderung nach Deutschland über die letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte gibt. Auch zu einem Zeitpunkt, als Deutschland als Nationalstaat noch gar nicht existiert hat. Doch all diesen positiven Entwicklungen war gemein, dass sie über einen recht langen Zeitraum stattgefunden haben, und dass Integration in die bestehenden Verhältnisse immer selbstverständlich war. Wobei uns auch klar ist, dass Integration nie 100-prozentige Assimilation bedeuten kann.

Was wären die Eckpunkte eines Einwanderungsgesetzes mit Ihrer Handschrift?

Das haben wir schon mehrfach in Wahlprogrammen konstatiert. Es geht zuallererst um den Bedarf, den es an Einwanderung gibt. Also auch um Einwanderung von Fachkräften, so wie das klassische Einwanderungsländer wie die USA, Kanada oder Australien seit Jahrzehnten erfolgreich betreiben. Daneben gibt es immer auch die Möglichkeit, einzuwandern, wenn gegebenenfalls Kapital mitgebracht wird wie z.B. in Kanada. Aber auch dort ist der multiethnische Staat nicht problemlos. Natürlich kann man sich auch dafür entscheiden, 50.000 Greencards pro Jahr zu verlosen, so wie die USA das machen – es gibt dort dafür faktisch keine Voraussetzung, man kann einfach eine Arbeitserlaubnis in einer Lotterie gewinnen. Über solche Modelle diskutieren wir offen, u.a. auch darüber, dass Kultur und Religion durchaus Kriterien sein können, die bei der Einwanderung eine Rolle spielen. Wobei unser Grundgesetz zu beachten ist. Es gibt Religionstoleranz im Sinne von Religionsfreiheit in Deutschland. Aber Religionsfreiheit und Religionstoleranz ist eben nicht mit Indifferenz gegenüber den Problemen gleichzusetzen.

Wie viele Neubürger in diesem Sinne verkraftet Deutschland pro Jahr?

Ich glaube, in der aktuellen Situation müssen wir darüber gar nicht sprechen. Bevor wir über das Einwanderungsgesetz reden können, brauchen wir erst eine Lösung der Migrationskrise. Wir haben 2015 in Deutschland über eine Million Asylbewerber gehabt. Ein Großteil derer sind Migranten, keine Flüchtlinge. Der Familiennachzug ist nach wie vor nicht geregelt. Wir müssen – selbst Regierungskreise sprechen davon – durch Familiennachzüge mit einer durchaus sehr großen Anzahl weiterer Menschen rechnen, mindestens dem Dreifachen aktuellen Asylbewerberzahlen. Insofern ist ein weiteres Einwanderungsrecht jetzt gar nicht das Thema. Wir müssen erst mal das aktuelle Problem lösen. Das wird uns jahrelang in Anspruch nehmen.

Wie würden Sie das deutsche Asylrecht in Kopplung dazu ändern wollen?

Ich erkenne an, warum Deutschland den Anspruch auf Asyl im Grundgesetz stehen hat. Das ist eine Lehre, die wir aus der Geschichte gezogen haben. Allerdings dürfen wir Schuld und Verantwortung nicht immer auf eine Stufe stellen. Das sagte selbst Charlotte Knobloch (von 2006 bis 2010 Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Anmerkung der Redaktion) in ihrer Rede vor dem sächsischen Landtag am 27. Januar. In der praktischen Politik werden Schuld und Verantwortung häufig miteinander verwechselt, woraus u.a. eine sehr defensive Haltung gegenüber Migrationsfragen in Deutschland resultiert. Wir sollten darüber nachdenken müssen, Artikel 16a des Grundgesetzes abzuschaffen und in eine einfache gesetzliche Regelung zu überführen, um sie besser handhaben zu können. Aber das ist derzeit nicht mehrheitsfähig, das ist mir klar. Wenn wir uns aktuell an die Dublin-Verträge 2 und 3 halten würden, bräuchten wir über die Abschaffung von Artikel 16a auch nicht zu reden.

Sie fragen die Besucher von öffentlichen AfD-Veranstaltungen gern: „Wer von Ihnen war noch nicht bei uns?“ Was ist das Ergebnis dieser Frage?

Es gibt in den letzten Monaten eine steigende Zahl von Besuchern, die zum ersten Mal zu uns kommen. Während in der ersten Jahreshälfte 2015 viele Veranstaltungen von der eigenen Klientel dominiert waren, weil wir auch parteiinterne Dinge zu diskutieren hatten, sehen wir jetzt viele Sympathisanten, aber auch Kritiker, die erst auf Grund der Medienberichterstattung zu uns kommen, um sich ein eigenes Bild zu machen. Der Anteil von Menschen auf AfD-Veranstaltungen, die noch nie eine solche besucht haben, beträgt zwischen 30 und 60 Prozent. Insgesamt haben die Veranstaltungen Besucherzahlen im niedrigen, aber auch höheren dreistelligen Bereich. In Koblenz waren es neulich, glaube ich, 150. In Sulz am Neckar waren über 600 Leute da. Das sind so die Veranstaltungen, die ich mache. Auf niedriger Ebene, auf Veranstaltungen in den Kreisen, erleben wir Ähnliches, dorthin kommen 80 bis 100 Besucher.

Auf AfD-Veranstaltungen sieht man ältere Herren mit Hüten oder jüngere Männer in Thor-Steinar-Jacken. Wir hören Verschwörungstheoretiker, die glauben, die Hochfinanz destabilisiere Deutschland gezielt mit dem Zustrom an Flüchtlingen. Sind Sie glücklich mit dem Klientel, das Sie auf AfD-Veranstaltungen antreffen?

Für mich gibt es keine Bürger erster oder zweiter Klasse. Theorien, egal, wie man sie nennt, hat es zu allen Zeiten gegeben. Sie resultieren aus dem Wunsch der Menschen, sich die komplexen gesellschaftlichen Prozesse zu erklären. Es gibt AfD-Veranstaltungen, bei denen ich Personen, die meiner Ansicht nach inakzeptable Ansichten vertreten, ganz klar sage, dass sie mit solchen Theorien bei der AfD keine Chance haben. Trotzdem darf daraus keine persönliche Diffamierung werden. Denn jede Person, die wir mit ihrer Wahlentscheidung im demokratischen Spektrum behalten und oder dorthin zurückholen, sollte uns ein sehr wertvoller Wähler sein. Das Herausgreifen einzelner Bekleidungsmarken halte ich für eine unzulässige verallgemeinernde Stigmatisierung. Vermummte Gegendemonstranten sind viel problematischer. Ich sehe auf AfD-Veranstaltungen viele ganz normale Bürger, leider oft zu wenige Frauen. Das ist aber ein Problem, das die AfD nicht alleine hat.

Wenn man sich die Kommentare auf offiziellen Facebook-Seiten der AfD durchliest, wähnt man sich nicht in dieser Republik, sondern in einem geradezu apokalyptischen Land. Dort heißt es zum Beispiel: „Die Altparteien haben Deutschland in den Abgrund geführt“, „Merkel und Co. begehen Hochverrat am deutschen Volk“, „Die Deutschen werden ausgerottet“. Es muss Ihnen doch selbst Angst machen, wen Sie da anlocken, was Sie da entfesseln ...

Angst ist kein guter Ratgeber. Ich habe in meinem Leben schon manches erlebt, dazu gehören auch persönliche Niederlagen. Sie gehören dazu, um eine gewisse innere Freiheit zu erlangen. Deswegen finde ich nicht alle Kommentare immer gut, extreme schon gar nicht. Trotzdem gebietet es das Gebot der Meinungsfreiheit, Kommentare zuzulassen, wenn sie nicht offen verfassungsfeindlich sind. Die Meinungsfreiheit der Konkurrenz geht so weit, dass man uns als demokratiefeindlich, rechtsextrem, rechtsradikal und sonstiges beschimpft. Ich kann die Angst vieler Menschen verstehen, dass Europa in der Form, wie wir es kennen, perspektivisch aufhört zu existieren, weil viele politische Themen der vergangenen Jahrzehnte sträflich vernachlässigt wurden. Ich selbst bin Politiker geworden, um an der Situation etwas zu ändern.

In den Kommentaren heißt es auch: „Politiker oder Journalisten sollten entsorgt werden.“ Warum löschen Sie solche frevelhaften Dinge nicht?

Wir löschen viele Kommentare. Wir löschen aber sicherlich nicht alle problematischen Kommentare, da kommen wir zeitlich, personell und materiell nicht hinterher. Daher sind wir immer dankbar, wenn man uns als Parteivorstand im Land und Bund darüber informiert, wenn es offensichtliche Verstöße gibt. Miteinander zu reden ist besser als übereinander.

Es geht hier nicht um die Profession der Journalisten, es geht um die Verrohung des Klimas in unserem Land. „Entsorgen“, „ausrotten“, „Altparteien“ – solche Begriffe tun unserer Republik sicher nicht gut.

Da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Sie tun ihr genauso wenig gut wie „Deutsche als ein Stück Scheiße“ zu bezeichnen oder Bürger als Nazis zu diffamieren. Wir erleben diese Entgleisungen leider auf allen Ebenen. Ich bin sehr dafür, einen Gang zurückzuschalten.

AfD-Anhänger halten es für denkbar, dass die Landtagswahlen im März manipuliert werden. Teilen Sie diese Sorgen?

Ich bin Naturwissenschaftler und immer sehr dafür, faktenbasiert zu agieren. Anstatt zu spekulieren, fordern wir dazu auf, in allen drei Bundesländern mit Landtagswahlen möglichst viele Bürger in die Wahllokale zu schicken, um als Wahlbeobachter dabei zu sein. Jeder angeblichen oder tatsächlichen Manipulation oder Spekulation kann am besten begegnet werden, indem man Transparenz herstellt.

Der Stuttgarter AfD-Politiker Heinrich Fiechtner verglich den Koran mit „Mein Kampf“. Sein Kollege Dubravko Mandic soll US-Präsident Obama als „Quotenneger“ verunglimpft haben. Der thüringische AfD-Chef Björn Höcke schwadroniert gern von „1000 Jahre Deutschland“ oder der angeblichen „Reproduktionsstrategie“ der Afrikaner. René Augusti, AfD-Politiker aus Salzwedel (Sachsen-Anhalt) forderte, Mitglieder der Bundesregierung wegen ihrer Flüchtlingspolitik an die Wand zu stellen. Warum engagieren sich solche Leute ausgerechnet in der AfD? Warum suchen die sich keine andere Partei?

Warum Bürger zur AfD kommen, das müssen Sie diese selbst fragen und bitte dabei eine repräsentative Anzahl befragen. Ich vermute, wir können am glaubwürdigsten vermitteln, dass wir die offene und kontroverse Diskussion nicht scheuen. Allgemein erfahren junge Parteien immer einen rasanten Zustrom von allen möglichen Bürgern. Am Ende ist entscheidend, wie die Partei mit ihnen langfristig umgeht. Das ist eine sehr zeitraubende Angelegenheit, wenn man sich an Recht und Gesetz hält. Das müssen wir, und das machen wir.

Ich erwarte für viele politische Themen auf unserem Programmparteitag am 30. April und 1. Mai eine klare politische Positionierung meiner Partei. Ich bin nicht glücklich über diverse Äußerungen von Parteikollegen, vor allem, wenn sie wissenschaftlich nicht zu halten sind.

Sie meinen die angebliche Reproduktionsstrategie der Afrikaner?

Ja. Ich habe ein paar Jahre in der Genetik gearbeitet, ich weiß, wovon ich rede. Auch Thilo Sarrazin verbreitete in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ zum Teil ähnliche Theorien. Hier zeigt sich das Spannungsfeld, in dem sich jede demokratische Partei bewegt, wenn sie demokratisch agieren will.

Der frühere AfD-Promi Hans-Olaf Henkel ist der Meinung, dass Sie und Ihr Lebenspartner, der nordrhein-westfälische AfD-Chef Marcus Pretzell, die AfD zu einer „NPD im Schafspelz“ machen …

Herr Henkel sollte die AfD gut genug kennen, um zu wissen, dass er sich leider einer ähnlichen Propaganda bedient wie die politische Konkurrenz. Gleichzeitig hat die Alfa (Henkels neue Partei Allianz für Fortschritt und Aufbruch, Anmerkung der Redaktion) das AfD-Parteiprogramm im Stadium des Sommers 2015 de facto kopiert und nutzt es weiter. Herr Henkel ist an dieser Stelle total unglaubwürdig. Die AfD hat sich ganz klar als unabhängige demokratische Kraft etabliert und braucht dazu weder Pegida noch andere Demonstrationsbewegungen.

Muss sich die AfD noch eindeutiger von Rechtsextremen abgrenzen?

Unser Maßstab ist der Maßstab des Parteirechts und damit das Einhalten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Die Definition für Extremismus ist sehr klar und deutlich. Extremistisch ist, wer das pluralistische demokratische System abschaffen, die Demokratie beseitigen will. Sollten solche Positionen in der AfD vorkommen, werden wir entsprechend handeln. Solange das nicht zu beweisen ist, und es gilt im Rechtsstaat im Normalfall die Unschuldsvermutung, gilt diese auch für uns. Deswegen ist dieser Vorwurf einfach lächerlich.

Reicht es der AfD auf Dauer, durch ihre Existenz indirekt auf die anderen Parteien zu wirken, oder wird Ihre Partei irgendwann an der Regierungspolitik mitwirken wollen?

Jede Partei, die gemäß ihrem Programm etwas verändern möchte, will irgendwann auch Regierungspartei werden. Die Frage ist nur: Wie realistisch ist es, zu glauben, dass das bereits in der ersten Legislaturperiode im Parlament der Fall sein kann? Ich persönlich glaube, dass wir uns als Oppositionskraft etablieren und profilieren müssen, bevor wir regierungsfähig werden. So wie die Grünen das in den 80er-Jahren gemacht haben. Den Rest der Ereignisse bestimmt dann am Ende die aktuelle Lage im Land und auch der Zustand der anderen Parteien.

Wenn Sie mit anderen Parteien in einer Regierung koalieren würden, mit wem derzeit am ehesten?

Diese Frage kann ich aktuell nicht beantworten und würde es aus wahltaktischen Gründen auch nicht tun, so wie das auch keine andere Partei tut. Wir sollten in Deutschland weniger über Koalitionen reden, sondern das Schweizer Modell adaptieren, in dem sowohl auf Kantons- als auch auf Bundesebene sehr häufig parteiübergreifende Mehrheiten zustande kommen, ohne dass es einen Koalitionsvertrag gibt. Das ist in Deutschland leider unüblich, weil in Koalitionsverträgen generell ein Verbot der Koalitionäre drinsteht, mit Oppositionsparteien zu stimmen. Das verhindert meiner Ansicht nach sehr oft parteiübergreifende Lösungen, die viel schneller zum Ziel führen könnten, als das derzeit der Fall ist.

Ihre Partei behauptet, öffentlich-rechtliche Sender haben genug abgezockt. Die AfD will deren Zwangsfinanzierung abschaffen zugunsten eines kleinen Senders. Wie klein soll dieser Sender werden, und was soll er dann noch senden?

Hier handelt es sich um eine Initiative einzelner Landesverbände, die noch einer Bestätigung des Bundesparteitags bedarf. Es gibt eine sehr kontroverse Diskussion in der AfD darüber, ob man einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit einer Finanzierung über den Rundfunkbeitrag komplett abschaffen oder eine sehr starke Reform der öffentlich-rechtlichen Rundfunkfinanzierung vornehmen will. Wir müssen im April darüber entscheiden.

Zum Schluss ein paar persönliche Fragen: Sie lieben die Kontroverse?

Das ist korrekt.

Sie wirken dabei so wenig barmherzig. Versöhnen statt spalten, sagte einst Johannes Rau. Das ist nicht so Ihr Ding?

Ich glaube, wir erleben in Deutschland in den letzten Jahren, dass der Wert der Kontroverse zu häufig unterschätzt und der Wert des diskussionslosen Konsenses um jeden Preis überschätzt wird. Wer mich persönlich kennt, weiß, dass ich durchaus harmoniebedürftig bin. Ehrlichkeit und Transparenz in einer Demokratie sind aber ebenso ein Wert an sich, der Harmonie und Barmherzigkeit überhaupt nicht ausschließt. Wer aber Moral und Harmoniebedürfnis über Transparenz, Ehrlichkeit und Geradlinigkeit stellt, nimmt eine Wertung vor, die uns in der Politik nicht guttut, und die uns gerade, wenn wir über Demokratie reden, auf einen falschen Pfad führt.

Was halten Sie von den vielen tausend Menschen, die sich auch im Verbreitungsgebiet unserer Zeitung für Flüchtlinge engagieren?

Barmherzigkeit und Hilfsbereitschaft sind wunderbare Charakterzüge, die jedoch nicht mit staatlichem Handeln gleichgesetzt werden sollten und immer nur ein Teil der Staatsräson sein können.

Sie haben sich selbst einmal als „schwer krippengeschädigt“ bezeichnet. Was haben Sie damit gemeint?

Das war blanke Ironie.

Sie wollten damit nicht darauf anspielen, dass es nicht gut sein kann für unsere Familien, wenn Kinder zu früh in Krippen und in Kindergärten kommen?

Wir erleben in der AfD gerade eine sehr lebendige Debatte über das Für und Wider von Betreuung von Kleinkindern in Kindertagesstätten. Ich selbst bin mit acht Wochen in die Kinderkrippe gekommen, weil es in der DDR damals völlig normal war, wenn die Eltern arbeiten wollten. Meine Mutter entschied sich, als sie vor der Wahl stand zu arbeiten oder nicht, für die Arbeit, weil das auch aus wirtschaftlichen Gründen notwendig war.

Sind Ihre vier Kinder in eine Kinderkrippe gegangen?

Ja, wenn der Betreuungsschlüssel akzeptabel ist und das Betreuungskonzept stimmt, halte ich sehr viel davon, wenn Kinder sehr früh mit anderen Kindern zusammenkommen. Das ersetzt die Familie zu keinem Zeitpunkt, aber bei einer gut konzipierten Krippenbetreuung ist das auch gar nicht geplant. Ich verstehe aber auch Familien, die sich für ein anderes Modell entscheiden. Wir sollten es auch hier unterlassen, in ein Schema von richtig oder falsch zurückzufallen. Ich habe es immer verurteilt, dass man arbeitende Mütter gerade in den alten Bundesländern als „Rabenmütter“ bezeichnet. Genauso wenig möchte ich die heutigen Mütter, die zu Hause bleiben, als „rückständig“ bezeichnen. Es bleibt eine individuelle Entscheidung, und der Staat sollte die Wahlfreiheit für beide Erziehungsmodelle ermöglichen.

Die AfD setzt sich für den Erhalt der klassischen Familie ein. Sie haben vier Kinder, Ihr neuer Partner, Marcus Pretzell, ebenfalls. Sie leben beide getrennt von Ihren Ehepartnern. Ein Widerspruch zwischen Programm und Realität?

Die AfD hat in der Tat das politische Leitmotiv der klassischen Familie. Dieses Familienmodell halten wir politisch für förderwürdig. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass wir nicht andere Lebensmodelle akzeptieren und respektieren. Wir alle sollten lernen, zwischen individuellen Lebensmodellen, die Entscheidung jedes Einzelnen sind, und dem Anspruch auf unmittelbare staatliche Förderung ausgewählter Lebensmodelle zu unterscheiden.

Das Interview führten Chefredakteur Christian Lindner und Hartmut Wagner