Abstieg in Münchens bizarre Unterwelt

Vor zehn Jahren fiel Benjamin Tax das erste Mal in die Kloake. Er wurde getauft. Nicht in der Kirche. Benjamin Tax fiel in einen Kanal unterhalb der Ungererstraße im Münchener Stadtteil Schwabing. Seine Kollegen haben kräftig mitgeholfen. So machen sie das in der Familie.

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Vor zehn Jahren fiel Benjamin Tax das erste Mal in die Kloake. Er wurde getauft. Nicht in der Kirche. Benjamin Tax fiel in einen Kanal unterhalb der Ungererstraße im Münchener Stadtteil Schwabing. Seine Kollegen haben kräftig mitgeholfen. So machen sie das in der Familie. Eigentlich taufen die Münchener Kanalarbeiter die Neuen. Doch als die Kollegen Benjamin Tax vor 33 Jahren das erste Mal aufs Glatteis führen wollten, da rutschte er einfach nicht aus. Erst später erfuhr er, dass es nicht geklappt hatte mit der Taufe. In der Ungererstraße holten sie es nach. Deshalb ist das jetzt sein Kanal.

Willkommen in einer bizarren und für viele Besucher der Stadt München völlig unbekannten Welt: Dem 1200 Kilometer langen Kanalsystem im Münchener Untergrund

Amt für Stadtentwässerung, München

Hinein geht es durch die engen Gänge unterhalb der Akademiestraße nahe der Universität, entlang von schmierigen Wänden, an denen das Wasser wie Tau an Blättern klebt. „Rotzglocken“ nennen es die Kanalarbeiter

Amt für Stadtentwässerung, München

Dann öffnet sich der Blick auf den Kanal, in dem nicht nur die Abwässer der Wohnungen in München-Schwabing fließen, sondern auch das mit Hefe vermischte Brauwasser der anliegenden Brauereien „Spaten“ und „Löwenbräu“. Hier ist es warm und feucht.

Amt für Stadtentwässerung, München

Immer wieder müssen die Kanäle gereinigt werden. Dazu gibt es drei Methoden: Links zu sehen ist die Handreinigung mit der Kruck’n. Das Arbeitsgerät, halb Besen, halb Räumschild, wurde früher häufiger eingesetzt, vor allem in begehbaren Kanälen mit wenig Wasser und wenig Gefälle. Die in der Mitte zu sehende Huntreinigung hat die erste Methode weitgehend ersetzt. Der Hunt ist ein Spülschild, das sich durch den aufgestauten Wasserdruck vorwärts bewegt, eine kleine Öffnung im Sohlbereich bewirkt, dass Ablagerungen nach vorn weggespült werden. Und dann gibt es (rechts) die Hochdruckreinigung, die vor allem in kleineren Kanälen zum Einsatz kommt.

Amt für Stadtentwässerung, München

Zurück geht es nach oben…

Amt für Stadtentwässerung, München

Dieses Wunderwerk des Münchener Kanals befindet sich unterhalb der Ungererstraße, Hier verläuft parallel zum Kanal ein Überlaufkanal, worüber das Wasser direkt in die Isar oder in eine Kläranlage abgeleitet werden kann.

Amt für Stadtentwässerung, München

Die Kanäle unterhalb der Ungererstraße sind die zweite Station der Führung, die das Amt für Stadtentwässerung zweimal pro Woche anbietet.

Amt für Stadtentwässerung, München

Dieser Bereich des Kanalsystems ist gut begehbar, weil hier kaum noch Abwässer durchgeleitet werden. Es ist hier auch deutlich angenehmer, weil es kühl und trocken ist.

Amt für Stadtentwässerung, München

Und doch ist es ein geradezu idealer Ort, um Besuchern die Feinheiten der Münchener Unterwelt zu zeigen. Der bekannte Führer durch das Kanalsystem, Benjamin Tax wurde hier einst als Kanalarbeiter getauft. Das heißt, dass die Kollegen alles dazu beigetragen haben, dass er in die Kloake fällt.

Amt für Stadtentwässerung, München

Aus dem Kanal fischen die Arbeiter immer wieder die kuriosesten Dinge, wie Gebisse und Löffel

Amt für Stadtentwässerung, München

Aber auch Geld und Orden sind unter den Fundstücken.

Amt für Stadtentwässerung, München

Und auch Münzen werden aus dem Kanalwasser gefischt.

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Lumpen und Fetzen verstopfen die Kanäle natürlich immer wieder.

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Die Arbeit im Kanal ist harte Maloche. Die Jobs bleiben meist in der Familie. Oft sind die Verwandten auch wieder Kanalarbeiter.

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Lange Zeit hatte jeder Kanalarbeiter sein eigenes Revier. Dann löste die Stadt München die Reviere auf. Die Folge: Nicht alle Arbeiter kannten die Kanäle noch so gut wie ihre Westentasche. Doch bald soll es wieder feste Reviere geben.

Amt für Stadtentwässerung, München

Die Arbeit in Münchens Unterwelt mag wie ein Abenteuer wirken. Doch es ist eine riskante und knallharte Arbeit, wie dieses Foto zeigt.

Amt für Stadtentwässerung, München

Er ist so etwas wie der Urvater des Münchener Kanalsystems: Max von Pettenkofer. 1836 fand der Münchener Arzt und Apotheker die Ursache für die immer wiederkehrenden Seuchen in der 130 000-Einwohner-Stadt: Die Bürger ließen ihre Fäkalien einfach in Gruben und auf der Straße versickern. Irgendwann mischten sich die Keime mit dem Grundwasser und verseuchten das Trinkwasser. Deshalb entwickelte Pettenkofer ein komplexes Kanalsystem, das bis heute existiert. Es reicht vom höher liegenden Süden bis in den tieferen Norden Münchens.

Amt für Stadtentwässerung, München

Pettenkofers Zeitgenossen wollten nichts von seinen Ideen wissen. Denn wer Kanäle baut und sie nutzen will, der braucht dafür Geld – von den Anliegern. Es dauerte bis 1854, ehe die Stadt mit dem Bau begann. Damals starben bei einer Chlorea-Epidemie 3000 Münchener – darunter Königin Therese.

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Pettenkofer hatte auch die Idee, die Münchener kostenlos durch die Kanalisation zu führen, um sie von den Vorteilen seines Projekts zu überzeugen. Bis heute lebt diese Tradition fort.

Amt für Stadtentwässerung, München

Heute kümmern sich 120 Mitarbeiter des Amtes für Stadtentwässerung täglich um das 1200 Kilometer lange Kanalystems.

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Die einen sitzen oberhalb des Münchener Untergrund und durchleuchten das Kanalsystem mit Kameras.

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Die anderen sind direkt vor Ort und überprüfen die Kanäle täglich.

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Und treffen dabei immer wieder auch unliebsame Zeitgenossen an.

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Die letzte Station der Führung: Die riesigen Regenrückhaltebecken, hier das unterhalb des Hirschgartens im Münchener Westen.

Amt für Stadtentwässerung, München

Ist noch jemand zurückgeblieben? Auf Wiedersehen beim nächsten Besuch in der bizarren Münchener Unterwelt.

Amt für Stadtentwässerung, München

„23 Jahre bin ich trocken geblieben“, sagt Tax, als er die Stufen zur Ungererstraße hochstapft. 15 Besucher des Kanalmuseums München folgen dem Mann mit der Halbglatze. Zweimal pro Woche führt er Besuchergruppen durch das weitverzweigte Kanalsystem. Es kostet die Gäste nichts – nur Überwindung.

Wie nahe der Universität, wo die außergewöhnliche Führung beginnt. Als Benjamin Tax die schwere Falltür aus Stein am Rande der Akademiestraße mit einer Kette hochzieht, dringt ein modrig-warmer Geruch nach oben. Aber es stinkt nicht nach Scheiße. Der Mann mit der randlosen Nickelbrille stapft die 19 glitschigen Stufen mit festen Schritten hinunter. Die Besucher gehen entlang von Backsteinwänden, an denen das Wasser wie Tau an Blättern klebt. „Rotzglocken“ nennen es die Kanalarbeiter. Hinter einem engen Gewölbegang erreichen die Museumsgäste ihr erstes Ziel: einen Abwasserkanal aus dem Jahr 1884. Staunend blicken die einen auf die braune Masse, die sich unter ihnen durch den Kanal schlängelt. „Ist da auch Kacke drin?“, fragt ein kleiner Junge, der in einen Apfel beißt. „Ja“, antwortet Benjamin Tax, „aber hier kannst du ruhig Scheiße sagen.“

Ab und zu tänzelt ein Wattestäbchen auf dem Wasserstrom. In der Brühe wabern Klopapierfahnen. Da schwimmt ein Pilz aus Waschschaum. Einige Museumsgäste halten sich die Nase zu. Dabei ist heute ein guter Tag für einen Besuch in der Unterwelt: Die großen Brauereien „Spaten“ und „Löwenbräu“ am Stiegelmairplatz leiten massenhaft 36 Grad warmes Brauwasser mit einem Schuss Hefe in die Kanäle. „Wenn die brauen, ist es hier extrem warm und schwül. Und das Brauwasser übertüncht den Gestank. Da ist ein Besuch hier unten ein Vergnügen“, sagt Tax.

Liebevolles Verhältnis

Benjamin Tax, 58 Jahre alt, hat ein fast liebevolles Verhältnis zu den 1200 Kilometer langen Kanälen in der Münchener Unterwelt. Er spricht gern von „unseren Kanälen“. Uns – damit meint er die 120 Mitarbeiter des Amtes für Stadtentwässerung, die sich um die Kanäle und das fast 1200 Kilometer lange Rohrsystem im Münchener Untergrund kümmern. „Wir waren mal wie eine Familie“, sagt Tax wehmütig. Früher, erinnert er sich, hat sich der Beruf in München quasi vererbt. Kanalarbeiter waren meist die Kinder, die Verwandten. Die Erfahrungen wanderten von Generation zu Generation. Jeder hatte sein Revier. Vor einigen Jahren löste die Stadt die alten Reviere auf, sagt Tax. Die Familie verlor ihre Heimat. Jetzt will die Stadt „zurück zum Alten“, sagt der 58-Jährige und schüttelt den Kopf. Die Kanalarbeiter seien ihrer Zeit eben immer schon voraus gewesen, ist er überzeugt.

So wie Max von Pettenkofer, im 19. Jahrhundert Arzt und Apotheker in München. Wenn Tax seine Gäste durch die Unterwelt führt, vergehen keine fünf Minuten, ohne dass der Name Pettenkofer fällt. Er trägt ihn vor sich her wie eine Monstranz. Im 19. Jahrhundert schuf er das Münchener Kanalsystem – trotz großer Widerstände.

Was für ein Visionär Pettenkofer war, zeigt sein Verehrer den Museumsgästen unterhalb der Ungererstraße, einige U-Bahn-Stationen weiter nördlich. Hier, wo es fern der Brauereien kalt und trocken ist, hat der schmale Abwasserkanal in dem riesigen Kellergewölbe einen großen Bruder zur Seite. „Pettenkofer hat sich gedacht: Wenn es stark regnet, könnte es sein, dass der Kanal überläuft“, sagt Tax. Damals rechnete niemand damit, dass München einmal die deutsche Großstadt mit den stärksten Niederschlägen sein würde. Heute fließt das Regenwasser nach starken Gewittern über den breiten Seitenkanal direkt in die Isar. Selbst an den Anschluss an eine damals noch nahezu unbekannte Kläranlage hat der Visionär gedacht.

Besucher haben Glück

Von der Ungererstraße geht es zu Fuß weiter zu den Säulen der Unterwelt. 42 Stufen sind es bis zu dem fußballfeldgroßen Raum unter dem Bezirkssportplatz Schwabing. Fünf Meter hohe Säulen zeigen, wie hoch das Wasser steigen kann. 20 000 Kubikmeter finden hier Platz. Die Besucher haben Glück: Vergangenes Jahr haben Tax und seine Kollegen das Becken gesäubert. Jetzt lassen nur noch das gluckernde Abwasser in weiter Ferne und Klopapierreste in den kleinen Kanälen, die den Raum durchziehen, die Kloake erahnen, die durch dicke Rohre in die beiden nahe gelegenen Kläranlagen fließt.

Vor zwei Jahren mischte sich ein Mitarbeiter des Musiksenders MTV unter die Gäste. Er suchte nach einem geeigneten Platz für eine Party nach der Verleihung der MTV Music Awards. Tax zeigte ihm das 90 000 Quadratmeter große Regenüberlaufbecken unter dem Hirschgarten im Münchener Westen. Dort, wo die Säulen wie Pilze aussehen, wollte MTV die Fans mit Madonna und Lady Gaga feiern lassen. Doch die entsetzten Chefs von Benjamin Tax stoppten die Pläne des Senders.

Als Benjamin Tax noch nicht Besucher durch seine Kanäle führte, schaute er zusammen mit seinem Chef Alfred Jäger oft durch eine kleine Öffnung am Fuß der Treppe runter zum Ungererkanal, um den Wasserstand zu kontrollieren. Vor einigen Jahren wurde er als erster Kanal in München getauft. Jetzt heißt er Jägerkanal – der Ort, wo Benjamin Tax vor zehn Jahren in die Kloake fiel.