Nieder-Olm (dpa/lrs) – Der «hartnäckige Charme» von Gracia Schade hat Bürgermeister Ralph Spiegler «total überzeugt». «Ich habe das Thema Barrierefreiheit immer vor mir hergeschoben – und Gracia hat mich dann mit ihrer Art, Schritt für Schritt herangeführt», sagt der SPD-Politiker, der seit 1994 Bürgermeister der Verbandsgemeinde Nieder-Olm ist. «Sie ist der Spiritus Rector.» Schade nutzt seit ihrer Kindheit einen Rollstuhl.
Am Anfang stand ein Modellprojekt mit der Aktion Mensch, inzwischen hat die rheinhessische Verbandsgemeinde mit ihren gut 34.000 Einwohnern eine eigene Inklusionsstrategie entwickelt und zum zentralen Leitthema gemacht. «Das ganzheitliche Verständnis von Barrierefreiheit ist wegweisend», sagt der Geschäftsführer des Gemeinde- und Städtebunds, Moritz Petry.
Nieder-Olm gilt mit seiner verbindlichen Strategie als vorbildlich
Inklusion sei in Nieder-Olm Ausdruck von Teilhabe, Respekt und Gleichwertigkeit in der Gesellschaft – und die Verbandsgemeinde damit ein «echter Vorreiter», sagt Petry. Das Ziel: «Jeder kann überall dabei sein und mitmachen – ohne Anspannung und Angst», sagt Annette Hambach-Spiegler, Abteilungsleiterin Bürgerdienste, und Frau des Bürgermeisters.
Neben körperlichen Einschränkungen würden auch kognitive Hürden ernst genommen und etwa amtliche Schreiben in leichte Sprache übertragen, berichtet Petry. Es gibt auch Führungen in einfacher Sprache und einen Tisch der Vielfalt gegen Einsamkeit, wie die Koordinatorin Kommune Inklusiv, Nina Flick, sagt. Ihre Stelle ist auch in dem Prozess zur Inklusionsstrategie entstanden.
Bei den Bustouren für Senioren erleichtere eine Rampe das Einsteigen und die Teilnehmer achteten unterwegs aufeinander, berichtet Flick. So kämen immer ältere Menschen mit, die sich vorher nicht mehr rausgetraut hätten.
Sportplatz als Multifunktionsprojekt für alle
Der Sportverein in der kleinsten der acht Gemeinden von Nieder-Olm – der TUS Sörgenloch – hat Sport für alle zu einem Schwerpunkt entwickelt und seinen Sportplatz in ein Multifunktions- und Mehrgenerationenprojekt umgewandelt, wie Spiegler sagt. Auch Schade kann dort mit ihrem Elektrorollstuhl Boule spielen.
An den Ferienangeboten der Verbandsgemeinde nehmen Kinder mit Beeinträchtigungen selbstverständlich teil, wie Hambach-Spiegler berichtet. Eine Schülerin mit Down-Syndrom, die oft dabei war, ist inzwischen selbst Betreuerin.
«Für mich war immer wichtig, nicht zu einseitig zu sein, sagt Schade mit Blick auf die vielen Facetten von Barrierefreiheit. «Das ist nicht immer einfach, da muss man immer wieder vermitteln», berichtet sie und nennt das taktile Leitsystem im Rathaus als Beispiel. «Da kommt jemand mit Rollator, der ärgert sich über die Hubbel, aber für blinde Menschen sind sie eine Orientierung.»
Barrierefreiheit immer mitdenken
Wenn man von Anfang an mit Barrierefreiheit plane, gebe es oft keine Mehrkosten, sagt Spiegler und nennt ein Hallenbad mit mäandernder Steigung anstelle einer Treppe als Beispiel. Ein Aufzug für die Grundschule sei teuer, aber im Neu- oder Anbau immer noch deutlich preiswerter als die Nachrüstung. Trotzdem fehle vielen Kommunen dafür das Geld.
Die Umsetzung von Barrierefreiheit im Bestand sei in der Regel deutlich schwieriger und teurer. «Da muss man Kompromisse finden», sagt Schade. Manches sei mit Pragmatismus zu lösen: Ein paar Veränderungen machten eine Toilette noch nicht zu einer Behindertentoilette, aber für Rollstuhlfahrer besser nutzbar, nennt Spiegler als Beispiel.
Oder Behindertenparkplätze: Diese ließen sich oft einfach verlegen, wenn die eigentlich ausgewählten Flächen wegen eines Gefälles für Rollstuhlfahrer nicht gut nutzbar seien, sagt Schade. Es komme auch auf kleinere Dinge an wie Brailleschrift an den Büros oder eine mobile Induktionsanlage, sagt Spiegler. Sie ermögliche Menschen mit Höreinschränkungen an Diskussionen teilzunehmen oder ein Konzert zu besuchen.
Die Bewusstseinsbildung für Barrierefreiheit sei entscheidend, in allen Abteilungen würden Menschen gebraucht, die für das Thema sensibilisiert seien, betont der Bürgermeister. «Es ist wichtig, dass das so Stück für Stück in die Köpfe einrieselt.» Und: «Es ist Gesetz.»
Schade findet viele Gesetze nicht streng genug
Die Gesetzte seien allerdings nicht immer streng genug, sagt Schade. «Da heißt es, das Gebäude muss barrierefrei erschlossen sein. Es muss aber nicht der Haupteingang sein, sondern kann auch der Lieferanteneingang sein», weiß die Rollstuhlnutzerin aus eigener Erfahrung.
«Ich wünsche mir, dass Barrierefreiheit den Stellenwert von Brandschutz bekommt», sagt Schade und ergänzt mit Blick auf schwere Brandschutztüren: «Die beiden sind keine Freunde.»
Spiegler: Stück für Stück besser werden
«Stück für Stück versuchen wir besser zu werden. Wir sind noch lange nicht am Ende», sagt Spiegler nach fast zehn Jahren intensiven Einsatzes. «Inklusion ist ein Prozess. Es wird kein Ende geben», sagt Schade. Und Hambach-Spiegler ergänzt: «Wir machen drei Schritte vor und wieder zwei zurück.» Eine vergessene Unisex-Toilette nennt sie als Beispiel.
Vielen Menschen fehle aber noch immer das Verständnis für die Bedeutung von Barrierefreiheit, bedauert Spiegler. So wie einer Ärztin, die ihre Praxis nach Nieder-Olm verlegen wollte, das ausgesuchte Gebäude aber nicht barrierefrei nachrüsten wollte. Ihr Argument: Sie habe keine Patienten mit Behinderung. Der Bürgermeister bestand auf den vorgeschriebenen Umbau, die Ärztin kam nicht. «Barrierefreiheit ist ein wichtiger Gelingensfaktor auf dem Weg zu einer inklusiveren Gesellschaft», sagt der SPD-Politiker.
«Katastrophal ist die Situation auf dem Wohnungsmarkt für Menschen mit Beeinträchtigungen», berichtet Schade. Sie hätten oft ein niedriges Einkommen und «Wohnen ist Luxus geworden». Als Beispiel nennt Hambach-Spiegler Neubauwohnungen mit einem Quadratmeterpreis von 17,50 Euro kalt – plus Betreuungspauschale.
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