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Der Mahner – Ein Gespräch mit Joachim Gauck über die Probleme im wiedervereinigten Deutschland

Sind wir Migranten gegenüber zu tolerant? Und der AfD gegenüber zu intolerant? Ein Gespräch mit Altbundespräsident Joachim Gauck über die Probleme im wiedervereinigten Deutschland
Sind wir Migranten gegenüber zu tolerant? Und der AfD gegenüber zu intolerant? Ein Gespräch mit Altbundespräsident Joachim Gauck über die Probleme im wiedervereinigten Deutschland Foto: imago images / Eduard Bopp

Wie viel Andersartigkeit, wie viel Fremdes muss man ertragen in Politik und Gesellschaft? Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck ermuntert zu einer kämpferischen Toleranz – und hat darüber ein Buch geschrieben. Wir haben mit ihm darüber gesprochen.

Lesezeit: 10 Minuten
70 Jahre nach der Nazizeit haben Sie sich nicht vorstellen können, dass es jemals wieder notwendig sein würde, über Toleranz zu schreiben. Was war der Auslöser, der Ihnen deutlich machte, dass es sehr wohl Redebedarf gibt? Es gibt mehrere Auslöser. Einer ist die zunehmende Gehässigkeit in den öffentlichen Auseinandersetzungen, ganz besonders ...
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Joachim Gauck: Ein bewegtes Leben

Joachim Gauck wird 1940 in Rostock (Mecklenburg-Vorpommern) geboren. Nach dem Abitur studiert er Theologie. Von 1965 bis 1990 steht er im Dienst der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs und arbeitet viele Jahre als Pastor.

Schon als Jugendlicher tritt Joachim Gauck in Opposition zur Diktatur in der DDR. 1989 gehört er zu den Mitbegründern des Neuen Forums und wird in Rostock dessen Sprecher. Gauck ist vor allem Mitinitiator des kirchlichen und öffentlichen Widerstands gegen die SED-Diktatur. Er leitet die wöchentlichen Friedensgebete, aus denen die Protestdemonstrationen hervorgehen. Im März 1990 zieht er als Abgeordneter der Bürgerbewegungen, die sich im Bündnis 90 zusammengeschlossen haben, in die zum ersten Mal frei gewählte Volkskammer ein. Anschließend wird er zum Vorsitzenden des parlamentarischen Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit gewählt. Von 1991 bis 2000 ist Gauck Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Von 2001 bis 2004 ist er deutsches Mitglied des Verwaltungsrates der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Wien. 2003 wird er Bundesvorsitzender der Vereinigung „Gegen Vergessen – Für Demokratie“.

Nach dem Rücktritt von Bundespräsident Christian Wulff im Februar 2012 wird Gauck einen Monat später von der Bundesversammlung zum elften Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Gauck sieht die Bundesrepublik als „das beste Deutschland, das wir jemals hatten“. Er entscheidet sich allerdings gegen eine zweite Amtszeit als Bundespräsident und wird im März 2017 aus dem Amt verabschiedet.

Für sein Wirken ist er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, darunter die Theodor-Heuss-Medaille, der Geschwister-Scholl-Preis, der Europäische Menschenrechtspreis und der Ludwig-Börne-Preis. Er ist Ehrendoktor der Universitäten Rostock, Jena, Augsburg, der National University of Ireland/Galway, der Hebrew University of Jerusalem, der Université Paris-Sorbonne sowie der Maastricht University.

Joachim Gauck – wörtlich

Joachim Gauck fordert in seinem Buch mehr Verständnis im politischen Meinungsspektrum. Er beschreibt aber auch, wann Toleranz ins Naive abgleitet. Wir dokumentieren ausgewählte Zitate. Der frühere Bundespräsident sagt ...

über falsche Toleranz

„Als weiteres Problem sehe ich falsche Toleranz, die neben aller bewundernswerten Empathie etwa gegenüber Menschen aus Einwandererfamilien nicht frei ist von Naivität und allzu großer Nachsichtigkeit. Das, was divers ist, gilt einigen allein schon wegen seiner Andersartigkeit als schützenswert. Beispielsweise ist die Politik einiger Multikulturalisten von dem Diktum bestimmt, andere Kulturen, Sitten, Religionen seien pauschal als erweiternd, belebend, eben ,bereichernd' anzusehen. Wer nach konkreten Inhalten anderer Sitten und Religionen fragt und sich unter Umständen dagegen abgrenzt, gilt schnell als Rassist. Diversität gilt etlichen pauschal als das neue Leitbild.“

über das Grundgesetz

„In unserem Grundgesetz kommen unser politischer Wille und unser Wertebewusstsein zum Ausdruck. Es hat die Möglichkeit und die Kraft, eine humane Verbindlichkeit zu schaffen, die uns vereint, ohne uns gleichförmig zu machen. Fehlt dieses verbindende und verbindliche Element, dann fehlt eine Mindestloyalität gegenüber dem Staat, ja sogar gegenüber dem Mitbürger – und die Gemeinschaft fällt auseinander.“

über Intoleranz

„Denn Toleranz, in aller Konsequenz gelebt, führt zur Abschaffung der Toleranz. Deshalb ist Toleranz, will sie sich schützen, zur Inkonsequenz verurteilt: Sie muss intolerant sein gegenüber jenen, die die Toleranz abschaffen wollen.“

über Migration

„Migration ist wahrscheinlich nicht ,die Mutter aller Probleme', aber nirgends können Vorbehalte und Ängste so gut andocken wie an den ganz konkreten ,Fremden', die in den Straßen meist schon aufgrund ihres Äußeren erkennbar sind. Flüchtlinge und Migranten sind der sichtbare, fühlbare, gegenständliche Teil eines Wandels, der ansonsten oft noch eher diffus und abstrakt daherkommt.“

über Populismus

„So paradox es klingen mag: Populismus ist nicht zuletzt eine Antwort auf den Erfolg des Liberalismus. Die westlichen Staaten haben Gesellschaften hervorgebracht, in denen die Sensibilität für Diskriminierung und die Sorge um Minderheiten zugenommen hat. In ihrem Bestreben, auch noch kleinen und kleinsten Gruppen Anerkennung zukommen zu lassen und ihnen Teilhabe zu ermöglichen, haben die Progressiven aber oft den Kontakt zu Mehrheiten verloren.“

über die DDR

„Das Leben mit Pluralität und Differenz und damit auch mit Toleranz gegenüber dem Andersdenkenden haben wir in der DDR nicht gelernt, es passte nicht zum System. Eine strikte Eindimensionalität lässt Vielfalt und Toleranz gar nicht erst aufkommen. Um zu überleben und Erfolg zu haben, passen Mehrheiten sich dann an, sie folgen einer Ratio der Absicherung, die einen mehr, die anderen weniger. Aber alle miteinander haben nicht die Möglichkeit, Haltungen eines freien Bürgers zu lernen und zu leben und Eigenverantwortung einzuüben.“

über AfD-Wähler

„Weil ich überzeugt bin, dass viele Menschen die AfD primär aus Gründen der Enttäuschung und des Protests gewählt haben, habe ich auch die Hoffnung, dass zumindest eine gewisse Anzahl von ihnen einer populistischen, teils rechtsextremistischen Partei nicht mehr folgen wird, wenn andere Parteien sinnvolle und effektive Lösungen für Probleme anbieten, die zu lange vernachlässigt worden sind.“

über Nationen

„Die Bedeutung der Nation ist in den Bevölkerungen Europas in den vergangenen Jahren wieder größer geworden. Und es wäre grob fahrlässig, würden Liberale in einer Zeit, in der bei Menschen angesichts von Globalisierung, Auflösung von Grenzen und zunehmenden Wanderungsbewegungen das Bedürfnis nach Beheimatung wächst, den Nationalstaat generell als suspekten Anachronismus negieren. Dann bleibt das Feld des Nationalen weiter allein den Rechtsradikalen überlassen.“

über politische Vernunft

„Toleranz ist nicht allein eine Tugend. Toleranz zu leben, ist auch ein Gebot der politischen Vernunft. Sie legt uns nahe, den Raum, in dem wir leben, nicht voreilig in Gut und Böse zu unterteilen und die Bösen aus dem Diskurs auszugrenzen. Gerade in Zeiten des Umbruchs wachsen aufgrund der Verunsicherung von Menschen die Bandbreite der Meinungen und auch die Polarisierung von Meinungen. Toleranz hilft vor allzu schnellen Lagerbildungen.“

Chronologie des Mauerfalls

Vor fast 30 Jahren ist die Berliner Mauer gefallen – als Ergebnis unter anderem von großen Demonstrationen in der DDR und Massenausreisen in den Westen. Bereits ab etwa Mitte 1989 flüchten Tausende DDR-Bürger über Ungarn illegal nach Österreich. Viele suchen Zuflucht in den bundesdeutschen Botschaften in Budapest und Prag. Im Herbst spitzt sich die Lage zu.

1989

4. September: In Leipzig versammeln sich an einem Montag rund 1000 Menschen vor der Nikolaikirche und fordern unter anderem Reisefreiheit. Daraus entstehen die Montagsdemonstrationen.

10. September: Ungarn kündigt an, seine Grenze nach Österreich für DDR-Bürger, die dort teilweise seit Wochen ausharren, zu öffnen. Bis Ende Oktober gelangen so etwa 50.000 Menschen in die Bundesrepublik.

30. September: Vom Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag überbringt Außenminister Hans-Dietrich Genscher Tausenden auf dem Gelände zusammengepferchten DDR-Bürgern die erlösende Nachricht: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ...“ Der Rest des Satzes geht im Jubel unter. Der Andrang auf die Botschaft reißt nicht ab. Mehrfach fahren Züge mit insgesamt 17.000 Flüchtlingen von Prag über die DDR in die Bundesrepublik.

7. Oktober: Zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung kommt es in mehreren Städten zu Protesten, die Sicherheitskräfte reagieren teilweise brutal.

9. Oktober: Bei der bislang größten Montagsdemonstration mit 70.000 Menschen in Leipzig setzt sich der Ruf „Wir sind das Volk – keine Gewalt“ durch.

18. Oktober: Staats- und Parteichef Erich Honecker wird von seinen Ämtern entbunden. Sein Nachfolger wird Egon Krenz.

3./4. November: Erneut sind rund 5000 Menschen in die Prager Botschaft geflüchtet. Wohl auf Druck der Tschechoslowakei gestattet die Ost-Berliner Führung ihren Bürgern die direkte Ausreise aus dem Land in den Westen. Für die DDR-Bürger öffnet sich endlich der Eiserne Vorhang. Innerhalb von vier Tagen flüchten auf diesem Weg 62.500 Menschen in die Bundesrepublik.

4. November: Zwischen 500.000 und einer Million Menschen demonstrieren auf dem Berliner Alexanderplatz.

7. November: Die DDR-Regierung tritt zurück. Tags darauf wird das SED-Politbüro, das höchste Führungsgremium der Partei, umstrukturiert.

9. November: Politbüromitglied Günter Schabowski kündigt auf einer Pressekonferenz eher beiläufig an, die DDR werde ihren Bürgern künftig Reisefreiheit gewähren. „Das tritt ... nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich“, sagt er auf die Nachfrage eines Journalisten. Bis in die Nacht strömen Tausende über die offenen Grenzen. Nach 28 Jahren fällt die Berliner Mauer.

1990

18. März: In der DDR finden erstmals freie Wahlen zum Parlament, der Volkskammer, statt.

21. Juni: Bundeskanzler Helmut Kohl sagt in einer Regierungserklärung vor dem Bundestag, nur die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen den beiden deutschen Staaten biete „die Chance, dass Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen bald wieder blühende Landschaften sein werden, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt“.

31. August: In Ost-Berlin wird der deutsch-deutsche Einigungsvertrag unterschrieben. Bundestag und Volkskammer billigen ihn am 20. September mit Zwei-Drittel-Mehrheiten.

3. Oktober: Hunderttausende feiern in Berlin und in vielen anderen Städten die deutsche Einheit.

2. Dezember: Das erste gesamtdeutsche Parlament wird gewählt. Klarer Sieger ist die bisherige Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP. Auf die Union entfallen 43,8 Prozent der Stimmen, auf die FDP mit ihrem populären Außenminister Hans-Dietrich Genscher 11 Prozent. Die SPD stürzt dagegen von 37 auf 33,5 Prozent ab. Noch härter trifft es die Grünen in Westdeutschland: Mit 3,8 Prozent scheitern sie an der Fünf-Prozent-Hürde. Die Einteilung in zwei Wahlgebiete sichert aber immerhin der östlichen Listenverbindung Bündnis 90/Grüne, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit den Grünen im Westen vereinigt ist, den Einzug in den Bundestag mit insgesamt acht Abgeordneten. Auch die SED-Nachfolgepartei PDS/Linke Liste hat von der getrennten Sperrklausel profitiert und erhält trotz der bundesweit erzielten 2,4 Prozent der Stimmen 17 Sitze im Parlament. Für einen Fraktionsstatus ist dies allerdings zu wenig.