Die Corona-Bürokratie: Die Überreglementierung lässt die Bevölkerung immer mehr ermüden

Von Anne-Beatrice Clasmann
Bundeskanzlerin Angela Merkel und der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (links) haben die Ergebnisse der Bund-Länder-Beratungen über das weitere Vorgehen in der Corona-Pandemie vorgestellt.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (links) haben die Ergebnisse der Bund-Länder-Beratungen über das weitere Vorgehen in der Corona-Pandemie vorgestellt. Foto: dpa

Stundenlang haben die Kanzlerin und die Regierungschefs der Länder gebrütet. Herausgekommen ist ein komplexer und komplizierter Beschluss. Manches wird hier bis ins Kleingedruckte hinein geregelt: zum Beispiel, dass in einem zweiten Öffnungsschritt wieder die Rasur beim Profi erlaubt ist – vorausgesetzt, der Kunde legt einen negativen Corona-Test vor. Auf andere Fragen gibt es dagegen gar keine Antworten – etwa, bei welcher Pandemielage und mit welchen Hygienekonzepten der Präsenzbetrieb an Universitäten wieder aufgenommen werden sollte.

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Zwar liegt jetzt endlich der lang angekündigte Stufenplan vor, der mehr Perspektive schaffen soll. Doch besteht die Gefahr, dass die Unübersichtlichkeit dessen, was beschlossen wurde, den Frust der Menschen im Langzeit-Lockdown zusätzlich befördert. Umfragen von Ende Februar zeigen jedenfalls schon deutlich weniger Vertrauen in das Krisenmanagement von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU).

In dieser Phase der Pandemie komme es umso mehr auf das Mitmachen der Menschen an, mahnt der Deutsche Landkreistag. Daher müsse der Staat die Ängste, Sorgen und Erschöpfungszustände der Bevölkerung ernst nehmen. „Die verabredete Öffnungsmatrix weist allerdings einen hohen Komplexitätsgrad auf, sodass wir damit an die Grenzen der Umsetzbarkeit gelangen“, kritisiert der Präsident des kommunalen Spitzenverbandes, Reinhard Sager. Ein zusätzliches Problem in der Kommunikation mit dem Bürger: Bei der Impfstrategie hat der Schutz der besonders gefährdeten Gruppen Priorität. Bei den Öffnungsschritten soll dagegen die Zahl der Neuinfektionen Richtschnur sein.

Der Frust entlädt sich

Besonders heftig entlädt sich der Frust in der Debatte um die Impfungen. Bei diesem Thema räumt inzwischen auch die Kanzlerin ein, „dass wir hier noch Steigerungspotenzial haben“. Während bereits Ende Februar die Hälfte aller Israelis und mehr als 15 Prozent der New Yorker mindestens einmal geimpft waren, haben in Deutschland bis Mittwoch nur 5,5 Prozent der Bevölkerung die erste Spritze erhalten. Auch bei der Verfügbarkeit von Schnell- und Selbsttests haben andere Staaten – zum Beispiel Österreich – die Nase vorn.

„Wenn der regelmäßige Test so normal wird wie das regelmäßige Zähneputzen, dann können bald fast alle Menschen normal weiterleben und wieder ihre Rechte ausüben“, sagt FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae. Dazu brauche es aber einen kostengünstigen oder kostenlosen, jederzeit und überall verfügbaren Schnelltest oder Selbsttest. Das sei außerdem „allemal billiger als die schwindelerregenden Milliardenhilfen, die wir derzeit über das Land kippen“.

„Überbürokratisiert und überreglementiert“ sei die von Bund und Ländern gemeinsam organisierte Covid-19-Impfkampagne, findet Nils Bandelow, Politologe von der TU Braunschweig. Anstatt auf pragmatische Lösungen zu setzen, habe man eine Impfverordnung aufgesetzt, die viele Probleme produziert und dadurch eine schnelle Immunisierung großer Teile der Bevölkerung verhindert habe. Außerdem sei entschieden worden, Impfstoffe aus Staaten wie China oder Russland aus politischen Gründen nicht zu beschaffen. Dabei stelle sich jedoch die Frage, „ob man sich das in der Krise leisten kann“.

So sieht nach Ansicht von Bund und Ländern ein einfacher Stufenplan zur Lockerung von Corona-Maßnahmen aus: Als überbürokratisiert und überreglementiert bezeichnen Politologen das Konzept. Auch deshalb macht sich aus Sicht der Experten zunehmend eine Corona-Lethargie breit.
So sieht nach Ansicht von Bund und Ländern ein einfacher Stufenplan zur Lockerung von Corona-Maßnahmen aus: Als überbürokratisiert und überreglementiert bezeichnen Politologen das Konzept. Auch deshalb macht sich aus Sicht der Experten zunehmend eine Corona-Lethargie breit.
Foto: Bundesregierung

Gefährdete Gruppen geschützt

Wer jetzt eine Zwischenbilanz zieht, stellt fest: Eine Überforderung des Gesundheitssystems haben die Verantwortlichen bislang verhindern können. Die besonders gefährdeten Gruppen wurden einigermaßen gut vor schwerer Erkrankung und Tod geschützt – auch wenn bei einigen Hochbetagten durch die Isolation der Lebensmut und die geistige Gesundheit Schaden nahmen. Der Datenschutz funktioniert super, dafür ist die Nachverfolgung von Infektionsketten weniger effektiv als in Staaten, wo man es damit nicht so genau nimmt.

Wirtschaftlich gesehen, kennt die Corona-Pandemie wie jede Krise Gewinner und Verlierer. Viele Menschen reagieren auf die Komplexität der Pandemie mit einer Verengung des eigenen Blickwinkels. Die einen schauen auf die verpassten Entwicklungschancen der Kinder. Die anderen nehmen die überlasteten Pfleger in den Blick. Der Blick über den eigenen Tellerrand fällt schwer.

Doch zur Wahrheit gehört auch: Manch einer hat sich im Corona-Biedermeier ganz gemütlich eingerichtet, während andere verzweifelt ihre wirtschaftliche Existenz oder die Bildungschancen ihrer Kinder davonschwimmen sehen. Wer die Pandemie als Beamter in einer geräumigen Wohnung am Waldrand erlebt, tut sich mit der Einhaltung von Corona-Regeln leichter als das junge Gastronomenpaar oder die fünfköpfige Familie aus der Hochhaussiedlung.

Politiker lassen sich in der Corona-Krise von Virologen und Epidemiologen beraten. Doch Wissenschaft ist keine Ideologie – und wenn es neue Daten gibt, ändern Forscher dann auch ganz selbstverständlich und ohne Gewissensbisse ihre Meinung. Die Aufgabe, politische Entscheidungen zu erklären, müssen andere übernehmen. Einer, der „ein gutes Näschen dafür hat, was man gut verkaufen kann“, sei Bayerns Ministerpräsident, sagt Bandelow. Söder sei „sehr flexibel in seinen Positionen“, konstatiert der Politologe. Nach der jüngsten Bund-Länder-Runde legte sich Söder nicht fest. Er sprach lieber von einer Übergangszeit und sagte: „Wir hoffen sehr, dass der März ein Chancenmonat wird.“

Anne-Beatrice Clasmann

Aus Verärgerung über das langsame Impfen: Großkonzerne wollen den Corona-Piks selbst setzen

Eine wachsende Zahl großer deutscher Unternehmen will wegen der lahmenden Impfkampagne den Schutz der Mitarbeiter vor dem Coronavirus in die eigenen Hände nehmen. DAX-Konzerne wie die Allianz und die Deutsche Telekom sind ebenso bereit, die eigenen Belegschaften durch Betriebsärztinnen und -ärzte impfen zu lassen, wie die chemische Industrie, der Mischkonzern Baywa oder die den Sparkassen verbundene Versicherungskammer. „Wir stehen zu unserem Angebot, die Impfstrategie durch einen koordinierten Einsatz von Betriebsärzten zu unterstützen“, sagte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger.

In vielen Unternehmen und Wirtschaftsverbänden löst der langsame Fortschritt der Impfkampagne wachsenden Ärger aus, da der Lockdown und die Corona-Beschränkungen des Alltags große volkswirtschaftliche Schäden bedeuten. Aus den auf dem Impfdashboard des Bundes veröffentlichten Zahlen geht hervor, dass bis Mittwoch knapp 10,4 Millionen Impfdosen nach Deutschland geliefert wurden, davon aber mehr als ein Drittel – 3,5 Millionen Dosen – bislang nicht verimpft war. Impfungen durch Betriebsärzte sind in der Strategie des Bundes zwar vorgesehen, aber nicht kurzfristig. Laut Statistikportal „Our World in Data“ war Großbritannien bis Dienstag mit 31,8 verabreichten Impfdosen pro 100 Einwohner viermal schneller vorangekommen als Deutschland mit 7,9. Effizienter als Deutschland impfen auch Polen, Griechenland oder Portugal.

Seinem Ärger Luft macht Baywa-Vorstandschef Klaus-Josef Lutz, der den Fortschritt der Impfungen in Deutschland als „skandalös langsam“ kritisiert und den Impfstoff für die gut 20.000 Mitarbeiter des MDAX-Unternehmens auf Firmenkosten beschaffen würde.

„Ich verstehe nicht, dass die Hausärzte, die jedes Jahr 20 bis 25 Millionen Grippeimpfungen durchführen, nicht in die Impfkampagne eingebunden sind“, sagte der Topmanager.

Lutz fordert den Rücktritt von Thomas Mertens, des Vorsitzenden der Ständigen Impfkommission.

„Wir bereiten uns aktuell darauf vor, unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an allen großen Standorten in Deutschland die Möglichkeit zu einer Corona-Impfung anzubieten“, heißt es bei der Allianz. „Dafür planen wir, bis zu 25 Impfstraßen auf unseren Betriebsgeländen einzurichten“, sagte eine Sprecherin des größten deutschen Versicherers. „Die Vorbereitungen treffen wir jetzt, damit wir loslegen können, sobald es genügend Impfstoff gibt und Mitarbeiterimpfungen gemäß der Nationalen Impfstrategie möglich sind.“ Die Chefetage der deutschen Allianz-Gesellschaft geht in ihren Überlegungen bereits darüber hinaus: „Weitergehende Unterstützungen wie zum Beispiel Impfungen von Familienangehörigen unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind derzeit bei uns in Diskussion.“

Allein der seit Dezember geltende Lockdown für Handel und Gastronomie bedeutet nach einer Schätzung des Münchner Ifo-Instituts für die deutsche Wirtschaft jede Woche verlorene Wertschöpfung von 2,5 Milliarden Euro. Sollte es wegen zu langsamer Impfungen zur befürchteten dritten Welle kommen und der Lockdown verschärft werden, könnten sich die wöchentlichen Verluste demnach sogar auf zweistellige Milliardenbeträge summieren.

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