Plus
Atzelgift

Erfahrungen eines Hochbegabten: Der Weg zur passenden Schule war steinig

Von Nadja Hoffmann-Heidrich
Agnes und Andreas Tremmel freuen sich, endlich eine passende Schule für ihren hochbegabten Sohn Paul gefunden zu haben. Foto: Röder-Moldenhauer
Agnes und Andreas Tremmel freuen sich, endlich eine passende Schule für ihren hochbegabten Sohn Paul gefunden zu haben. Foto: Röder-Moldenhauer

Es ist schon eine ungewöhnliche Konstellation: Vier der fünf Kinder von Agnes und Andreas Tremmel aus Atzelgift sind als hochbegabt getestet.

Lesezeit: 5 Minuten
Bei der ältesten Tochter (24) weiß man es nicht, denn sie möchte sich nicht testen lassen, weil es für sie, wie sie selbst sagt, für ihren beruflichen oder privaten Werdegang nicht mehr relevant ist. Aus dem gleichen Grund verzichten auch die Eltern auf einen Intelligenztest. Dass ihre Kinder über ungewöhnliche Begabungen ...
Möchten Sie diesen Artikel lesen?
Wählen Sie hier Ihren Zugang
  • 4 Wochen für nur 99 Cent testen
  • ab dem zweiten Monat 9,99 €
  • Zugriff auf alle Artikel
  • Newsletter, Podcasts und Videos
  • keine Mindestlaufzeit
  • monatlich kündbar
E-Paper und
  • 4 Wochen gratis testen
  • ab dem zweiten Monat 37,- €
  • Zugriff auf das E-Paper
  • Zugriff auf tausende Artikel
  • Newsletter, Podcasts und Videos
  • keine Mindestlaufzeit
  • monatlich kündbar
Bereits Abonnent?

Fragen? Wir helfen gerne weiter:
Telefonisch unter 0261/9836-2000 oder per E-Mail an: aboservice@rhein-zeitung.net

Oder finden Sie hier das passende Abo.

Anzeige

Expertin fordert: Hochbegabung muss Thema in allen Schulen sein

Vor 18 Jahren gründete die Psychologin Helga Thieroff, selbst Mutter eines hochbegabten Kindes, in Neuwied das Kinder-College, das Begabtenzentrum Rheinland-Pfalz. Hier werden pro Halbjahr mehr als 500 Kinder mit ihren vielfältigen Begabungen in 80 außerschulischen Kursen betreut und unterrichtet. Ein Schwerpunkt der Arbeit liegt in der Frühförderung begabter Kindergartenkinder und junger Schulkinder.

Das Kinder-College finanziert sich – neben der Förderung durch das Land Rheinland-Pfalz und Spenden – im Wesentlichen über Elternbeiträge für die Förderkurse. Für begabte Kinder aus sozial schwachen Familien werden Stipendien angeboten (mit einem jährlichen Wert von rund 15.000 Euro). Die WZ hat mit der Gründerin und Leiterin Helga Thieroff gesprochen:

Ab wann ist ein Kind hochbegabt?

Ein Kind ist dann hochbegabt, wenn es einen Intelligenzquotienten (IQ) von 130 und größer aufweist. Es gibt Begabtenmodelle, da werden Motivation und Kreativität einbezogen.

Wie viele hochbegabte Kinder gibt es etwa in Deutschland? Können Sie auch sagen, wie viele es etwa im nördlichen Rheinland-Pfalz sind?

Allgemein spricht man von zwei Prozent hochbegabten Kindern der jeweiligen Altersstufe. In Deutschland sind das etwa 300.000. In Rheinland-Pfalz gibt es etwa 13.000 Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren, die hochbegabt sind. Theoretisch-statistisch betrachtet gibt es im Land rund 850 höchstbegabte Kinder und Jugendliche mit einem IQ von 145 und höher, etwa 50 Kinder erreichen in RLP einen IQ von 160. Auch Paul Tremmel erreichte in unserem Test einen Höchstwert. Seine Leistungen blieben unter seinem Vermögen. Wir mussten nach Sankt Afra ausweichen, da sich dort nach erneuten Testverfahren sein hohes Potenzial bestätigte. Die Schule hatte es sich zur Aufgabe gemacht, seine Leistungen zu verbessern. Die Hochbegabtengymnasien in Rheinland-Pfalz widmen sich dieser Aufgabe nicht ausreichend. Underachievern, wie diese 20 Prozent „Problemkinder“ genannt werden, wird in Rheinland-Pfalz in den Schulen nicht geholfen. Bei uns im Kinder-College hat diese Aufgabe einen hohen Stellenwert.

Wie groß ist der Einzugsbereich Ihres Kinder-Colleges?

Wir haben einen Einzugsbereich von Kaiserslautern, Worms, Mainz bis ins Ruhrgebiet und Teilen Hessens. Man kann sagen, dass die Eltern bis zu zwei Stunden Fahrzeit in Kauf nehmen, um zu uns zu kommen. Besonders viele Kinder kommen aus dem Westerwald, Neuwied, Koblenz, Hunsrück, Lahnkreis, Ahrweiler usw. Die Mühe lohnt sich. Die Kinder sind glücklich und profitieren für ihre gesamte Persönlichkeitsentwicklung.

Gibt es deutliche Anzeichen, die auf eine Hochbegabung hinweisen?

Ein früher großer und vielfältiger Wortschatz, Beschäftigung mit hohen Zahlen, Kontakt mit älteren Kindern, nicht kindgemäße Interessen, Ausbildung von Domänen, oft wenig Freude im Kindergarten, Langeweile in der Schule. Es gibt aber auch Kinder, die nicht auffallen. Erst ein Intelligenztest bringt hier Klarheit. Mädchen passen sich oft so stark an, dass sie kaum auffallen.

Halten Sie die Förderung hochbegabter Kinder in Deutschland/in Rheinland-Pfalz für ausreichend? Wenn nicht, was könnte/müsste verbessert werden?

Ich halte die Förderung in Deutschland nicht für ausreichend. Das Land Rheinland-Pfalz gehört zu den vorbildlichen Ländern. Es gibt vier Hochbegabten-Gymnasien und den Entdeckertag in den Grundschulen. Hier im Norden des Landes, in Dernbach, ist der Raiffeisen-Campus eine sehr interessante Schule für Hochbegabte, die auch mit dem Kinder-College zusammenarbeitet. Auch fördert das Land unsere Einrichtung, die über die Grenzen Deutschlands hinaus anerkannt und geschätzt wird. Aufgrund der geringen Zahl hochbegabter Kinder ist es schwierig, flächendeckend Angebote anzubieten. Die Angebote werden nicht ausreichend frequentiert. Eine umfassende und dauerhafte Förderung ist nur in einem großen Einzugsbereich überregional möglich. Deshalb wäre es wichtig, das sich alle Schulen mit diesem Thema beschäftigen und mit uns zusammenarbeiten. Leider ist es zurzeit immer noch dem Zufall überlassen, ob ein Kind Förderung erhält oder nicht. Ein großes Problem ist, dass man Hochbegabung nicht auch als Lernhindernis sieht, weil es in einem normalen Klassenverband nicht zu einem sozialadäquaten Lernverhalten führt. So gibt es das Vorurteil: Das Kind ist hochbegabt, es muss alles können. Allerdings habe ich in den letzten Jahren auch viele bemühte Lehrerinnen und Lehrer kennengelernt, was zu einem positiven Abschluss führte.

Wie genau fördern Sie im Kinder-College Hochbegabte?

Wir fördern nach der Devise „Schwächen schwächen und Stärken stärken“. Wir kümmern uns ums Lernen lernen und können mit einem Coaching schlechte Noten verbessern. Wir fördern die Begabungen auf vielen Gebieten und ermöglichen den Kindern, Experten zu sein und zu werden. Kreativität, Kommunikation und Soziales haben ebenfalls einen hohen Stellenwert.

Wie können Eltern/Erzieher/Lehrer/Kinderärzte für das Thema sensibilisiert werden?

Wir haben in den vergangenen Jahren durch Vorträge, Veranstaltungen und auch durch Medienberichte und das Internet ein Netzwerk aufgebaut. Überwiegend Ärzte schicken uns Kinder, aber auch Psychologen, Kindergärten und Therapeuten. Schulen sind dabei die große Ausnahme.

Können Sie aus Ihrer Erfahrung bestätigen, dass Familien mit hochbegabten Kindern bzw. die Kinder selbst häufig gemobbt, ausgegrenzt oder falsch verstanden werden?

Ja das kann ich bestätigen. Etwa 20 Prozent der Kinder werden gemobbt und ausgegrenzt. Rund 80 Prozent werden falsch verstanden. Das ist ein alarmierendes Signal. Wir verzeichnen auch ein Ansteigen depressiver Verstimmungen der Kinder und Jugendlichen.

Ist Hochbegabung genetisch bedingt?

Es gibt einen hohen genetischen Anteil in Kombination vieler Umweltfaktoren.

Wie sollten Eltern vorgehen, wenn sie vermuten, dass ihr Kind hochbegabt ist?

Eine kompetente Beratungsstelle aufsuchen. Wenn die Eltern im Kinder-College anrufen, wird ihnen zu fast allen Bereichen professionelle Hilfe geboten.

Was halten Sie von Eltern-Kreisen, wie Agnes Tremmel ihn jetzt ins Leben gerufen hat?

Elternkreise sind sinnvoll. Sie sind im Netzwerk Hochbegabung integriert. Die Eltern fühlen sich nicht allein, können ihre Erfahrungen austauschen und erhalten Tipps.

Das Interview führte unsere Redakteurin Nadja Hoffmann-Heidrich