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Koblenz

Koblenz im Comicroman: Französischer Zeichner Jacques Tardi zeichnet Familiengeschichte nach

Von Michael Stoll

Zwei Weltkriege und in der Folge jeweils die französische Besatzung des Rheinlandes haben Menschen und Biografien aus beiden Nachbarländern geprägt. Das prominenteste Beispiel ist sicherlich Valéry Giscard d’Estaing, späterer französischer Staatspräsident, der am 2. Februar 1926 in Koblenz geboren wurde, wo sein Vater als Teil der Besatzungsverwaltung stationiert war. Ein Landsmann Giscards, der in seinem Heimatland sehr populäre Comiczeichner Jacques Tardi, kam als Kind nach Koblenz und Bad Ems, da auch sein Vater René nach dem Zweiten Weltkrieg als Besatzungssoldat hierhin abkommandiert war. Im jüngst erschienenen dritten Teil seines groß angelegten Comicromans „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB“ spielen beide Städte eine Rolle.

Lesezeit: 3 Minuten
Jacques Tardis Vater René zog als Panzerfahrer in den Krieg, wurde 1940 von den deutschen Invasoren gefangen genommen und in ein Kriegsgefangenenlager nach Hammerstein in Pommern (heute Czarne, Polen) verschleppt. Hier beginnt die Geschichte, die der Vater auf Bitten des zeichnenden Sohnes minutiös aufgeschrieben hat. Im ersten von insgesamt drei ...
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Ein Spiegel des 20. Jahrhunderts in Comicbildern

Comics sind Kinderkram oder reine Unterhaltung? Nicht so beim französischen Zeichner Jacques Tardi. Seine Arbeiten wenden sich dezidiert an Erwachsene, sind literarisch und spiegeln in realistischer Darstellung häufig historische Ereignisse wider. Tardi gehört zu den bekanntesten Vertretern der sogenannten Graphic Novel, des Comicromans, sein umfangreiches Werk ist in seinem Heimatland millionenfach verbreitet. Ganz anders im deutschsprachigen Raum, wo der Künstler trotz einiger Auszeichnungen und ihm gewidmeter Ausstellungen nach wie vor nur einem verhältnismäßig kleinen Publikum bekannt ist.

Foto: Illustration Jacques Tardi/ Edition Moderne

Der 1946 im Ort Valence geborene Tardi begann seine Karriere 1970 mit ersten Geschichten in der Comiczeitschrift „Pilote“, erlebte seinen Durchbruch Mitte der 70er-Jahre mit der mittlerweile auf zehn Episoden angewachsenen Reihe „Adeles ungewöhnliche Abenteuer“. In skizzenhaft-impressionistischer Manier wird hier eine Kriminal- und Abenteuergeschichte zur Endzeit der Belle Epoque, also vor dem Ersten Weltkrieg, erzählt, in der der Literaturwissenschaftler Horst Schröder gleichzeitig „Gerümpel“ zeitgenössischer Kolportageromane und Elemente „aus dem Kinderzimmer der Science-Fiction“ und Fantasy wie zum Beispiel Ungeheuer, verrückte Wissenschaftler und vorsintflutliche Flugobjekte erblickte (in: „Bildwelten und Weltbilder“).

Schon diese Serie ist quasi der Prolog zum ersten großen Gemetzel im 20. Jahrhundert, das die Jahre der Sorglosigkeit und des Optimismus für ein zu Wohlstand gekommenes Bürgertum in millionenfachem Sterben und Verstümmeln auf den Schlachtfeldern von Frankreich und Flandern jäh beenden sollte. Der Krieg wird für Tardi zur Obsession, zum großen Thema. Schon als Kind hatte ihm die Großmutter von Verdun erzählt, wo der Großvater in einer langen Bombennacht vor der verwesenden Leiche eines anderen Soldaten das Grauen überlebt hatte und seitdem wie paralysiert schwieg. Jacques, das Kind, aber erlebte die Gespenster und Albträume stellvertretend wieder und wieder: „Nachts trat ich in seinen Horror ein. Der völlig vergammelte Tote und Großvater, die beiden Hände drin in seinem Bauch“, wird Tardi vom Kenner Paul Derouet (in: „Comic-Jahrbuch 1986“) zitiert. Erst in den 1980er-Jahren findet er jedoch die Verleger und die stilistischen Mittel, um die Materialschlachten und die Sinnlosigkeit des Sterbens in eindrucksvollen Bildern festzuhalten. Der Band „Grabenkrieg“ und spätere Erzählungen wie „Elender Krieg“ sind laut dem Sprachwissenschaftler Klaus Schikowski „eine einmalige und überwältigende Anklage gegen den Krieg“ (in: „Die großen Künstler des Comics“). Dabei sind Tardis Akteure keine Helden, wie wiederum Paul Derouet erkennt, „nur einfach Soldaten, die wie Schlafwandler in den Tod gehen, aus ihrem Dorf gerissen und in den Gräben versunken wie die Ratten in der Kanalisation“. Tardi misstraut den Abenteuern und Heldentaten. Seine Helden sind Opfer. Immer. „Wer nicht daran stirbt, kehrt zerstört und verwandelt zurück“, sagt Derouet.

Foto: Illustration Jacques Tardi/ Edition Moderne

Seinem Großvater erging es so, Millionen anderer Soldaten auch. Für seinen Vater René hingegen war der Zweite Weltkrieg relativ schnell vorbei – die Deutschen überrannten ja in nur wenigen Wochen den französischen Gegner und dessen Alliierten, die Briten. Frankreich kapitulierte, rund 1,6 Millionen französische Soldaten gingen in Kriegsgefangenschaft, von denen gut zwei Drittel fast volle fünf Jahre in den Lagern und Arbeitskolonnen zubrachten. Zehntausende starben oder galten als vermisst. Derweil war Frankreich geteilt, die Deutschen hatten den Nord- und den Westteil besetzt. Im Süden des Landes etablierte sich im Kurort Vichy eine Regierung von Gnaden der Besatzer, die vom greisen Marschall Philippe Pétain als Staatschef und seinem Staatsminister Pierre Laval angeführt wurde, bis die Deutschen und Italiener auch diese Phase scheinbarer Selbstständigkeit beendeten. Vertreter der sogenannten Vichy-Regierung wurden später wegen Kollaboration und Hochverrat angeklagt.

Während also eine französische Marionettenregierung mit den Deutschen paktierte, hielten diese die Kriegsgefangenen als Geiseln. Als die Überlebenden zurückkehrten, wurde ihr jahrelanges Leiden in Frankreich keineswegs gewürdigt. Im Gegenteil: Sie standen im Schatten der mit Briten und Amerikanern verbündeten Truppen General de Gaulles und der Widerstandskämpfer, der Résistance, und mussten sich verspotten lassen, da sie ja den Krieg unrühmlich verloren hatten. Viele der Heimkehrer, wie auch Jacques Tardis Vater René, hatten die besten Jahre verloren, konnten ihre beruflichen und familiären Zukunftspläne nicht weiterverfolgen. Dies gepaart mit der Erkenntnis, dass das ganze Ausmaß der Kollaboration zunächst unter den Teppich gekehrt wurde und nicht wenige Kollaborateure wieder die Kriegsgewinnler waren, führte bei Idealisten wie René Tardi zu einer tiefen Verbitterung. Er verachtete die eigenen Politiker nun ebenso wie er zuvor Hitler gehasst hatte.

Foto: Illustration Jacques Tardi/ Edition Moderne

Wie sein Vorbild, der belgische Comiczeichner Hergé („Tim und Struppi“), arbeitet Jacques Tardi die Hintergründe und Requisiten seiner größtenteils schwarz-weiß und in Graustufen gehaltenen Bilder (Farbe wird nur punktuell eingesetzt) mit einer historischen Genauigkeit und Detailfreude aus, die verblüfft. Dagegen wirken die Figuren einfach, aber klar. Eine Mimik, ein Detail reicht, um den Leser emotional direkt anzusprechen. Und die historische Präzision vereinnahmt ihn umso mehr für eine Dramatik, die sich aus dem autobiografischen Erleben speist, lässt die persönlichen Gefühle und Kommentare des Verfassers zu, lässt selbst seinen Zorn, den er mit seinem Vater auf dessen Leidensweg teilt, verständlich werden.

Tardi hat sich im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild von den Geschehnissen in einer finsteren Zeit gemacht. Und dies vermittelt er seinem Publikum. Sein Gesamtwerk ist ein Spiegel des 20. Jahrhunderts aus der Sicht einfacher Leute – von den Jahren vor und während des Ersten Weltkrieges über die Zwischenkriegszeit bis hin zum Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit im Dreiteiler „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener“.

Foto: Illustration Jacques Tardi/ Edition Moderne

Das Comicepos macht nachvollziehbar, warum der Hass zwischen Franzosen und Deutschen immer wieder zum Brandbeschleuniger werden und dem Ersten unweigerlich ein Zweiter Weltkrieg folgte. Und es will Antworten auf die Fragen geben, wie hoffnungsfrohe Jungs zu ergrauten, verbitterten Männern und herzliche Familienväter zum Morden gebracht werden konnten.

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