Trotz Terror: Lächelnd durchs Ziel im Central Park

Der New-York-Marathon ist für jeden Läufer ein Traum. 
Locker zu bleiben trotz Terrorgefahr, ist die Devise. Unser 
Redakteur Armin Seibert hat sich den Traum erfüllt.

Lesezeit: 8 Minuten
Anzeige

Einmal beim größten 
Marathon der Welt dabei sein: ein Traum, der für unseren Redakteur Armin Seibert in New York in 
Erfüllung gegangen ist.

Armin Seibert

Am Vorabend des New-York-Marathon: Party der Nationen.

Armin Seibert

Musste sein: Flaggenparade im Central Park.

Armin Seibert

Das war eine muntere laute Party.

Armin Seibert

Ein fröhliches Spektakel mit Feuerwerk – hier hätte jederzeit ein terroristischer Anschlag verübt werden können.

Armin Seibert

Am Morgen dann: Polizei und Beton gegen Terrorangriffe beim New York Marathon

Armin Seibert

Die Zufahrt zum Start des Marathon ins Staten Island wurden mit Müllwagen zugestellt. Das brachte bei der Anreise der Läufer Dauerstaus. Die letzten Kilometer bis zum Start mussten die meisten deshalb laufen.

Armin Seibert

Stundenlange Wartezeiten mussten die Läufer in Staten Island überbrücken. Viele biwakierten einfach.

Armin Seibert

Mit einem ebenso preiswerten wie zweckmäßigen New- York Cape für die Wartezeit im Regen vor dem Start gerüstet: Redakteur Armin Seibert in der Vorfreude aufs große Lauffestival.

Armin Seibert

Unter den Strickmützen, die an jeder Ecke in Manhattan angeboten werden, schlummern tonnenschwere Betonklötze – Bremsklötze gegen Terrorangriffe mit Lastwagen.

Armin Seibert

Mit Schneepflügen gegen den möglichen Terror. Überall wurden Zufahrten blockiert.

Armin Seibert

Dauerpower: Hubschrauber kreisen über der Strecke.

Armin Seibert

Gleich geht's los. Während die Spitzenläufer schon auf die Strecke gehen, müssen Jogger noch ein paar Stunden warten.

Armin Seibert

Pacemaker aus München: Jürgen (rechts) läuft seinen 145. Marathon, hat in die New York die Aufgabe, in 4.50 Stunden im Ziel zu sein.

Armin Seibert

Raus aus den Klamotten und rauf auf die Strecke.

Armin Seibert

Selfie auf der 60 Meter hohen Narrows-Brücke gleich nach dem Start. etwas gequält

Armin Seibert

Noch locker an Meile 17. 27 Kilometer sind absolviert, aber ein paar Brückenrampen und 15 Kilometer liegen noch vor den Läufern.

Armin Seibert

Hallo Leute. An Meile 17 empfangen die „Fans“ von Ali Schneider, unserem Reiseveranstalter, jeden einzelnen Läufer. Dank APP wussten sie genau, wann wer gerade kommt.

Armin Seibert

Also dann bis später: Noch 15 Kilometer bis ins Ziel.

Armin Seibert

Noch ein Beweis

Im Central Park liegt das Ziel für 50000 Läufer. Nur ein verschwindend geringer Prozentsatz gibt auf.

Die Medaille und das Cape erhalten zu Hause einen Ehrenplatz.

Armin Seibert

Die Terrorgefahr ist allgegenwärtig. Täglich werden tödliche Angriffe erwartet, insbesondere dort, wo Menschenmassen ungeschützt weiche Ziele und weltweite mediale Aufmerksamkeit erzeugen können. Wie beispielsweise beim New-York-Marathon, dem größten Marathon der Welt durch Manhattan, wo sich die Erinnerung an die Anschläge vom 11. September 2001 tief in die amerikanische Seele eingebrannt hat.

Den New-York-Marathon hatte ich mir im vergangenen Jahr zum 60. Geburtstag gewünscht. Wenn alles gut ginge, wäre das dann mein Zehnter. Ein schönes Jubiläum, dort mitzumachen, in den Big Apple zu beißen. Die Sponsoren in der Familie zogen mit, das Event war also im September 2016 gesetzt, der Zugzwang aufgebaut, kein Zurück mehr möglich. Also auf nach New York im November 2017. Wenn mir nicht zuvor der Himmel auf den Kopf fällt oder irgendetwas passiert.

Der Anschlag in Boston beim Marathon, der Weihnachtsmarktanschlag in Berlin oder dann drei Tage vor dem Startschuss in New York ein tödlicher Kleinbusanschlag in Manhattan. Kann man, soll man da wirklich entspannt ein Lauffestival mitfeiern? Man kann. Und wie.

Hubschrauber kreisen im Tiefflug über Staten Island. Vom Hotel mit dem Bus dorthin haben wir drei Stunden gebraucht. Die letzten zwei Kilometer geht’s zu Fuß am Stau entlang. In den Querstraßen blockieren Müllautos die Zufahrten, Räumfahrzeuge mit Schneeschilden sollen Anschläge mit Lastwagen verhindern.

An den Zugängen zu dem Militärgelände werden alle Läufer gefilzt, abgetastet. Mehr als 50 000 Eliteläufer, Mittelklassejogger aus aller Welt und wohl auch einige Tausend blutige Marathonanfänger geben sich die Ehre und warten im Nieselregen, bis sie endlich dran sind. Blaue, orangefarbene und grüne Startnummern klassifizieren die Läuferfelder, die von 9 bis 12 Uhr auf die Verrazano-Narrows-Brücke geschickt werden. Als der erste Kanonenschuss donnert und die Spitzenathleten losfliegen, liegen im großen Militärgelände viele noch in Schlafsäcken. Sie machen es sich unter Ponchos gemütlich, stehen in Reih und Glied an den Klohäuschen an. Manche trinken Kaffee, essen Bananen, fachsimpeln, feiern sich und ihr Land. Italiener, Polen, Spanier, Brasilianer. Andere warten dick eingepackt mit alten Laufklamotten, die kurz vor der Startlinie oder auf den ersten Kilometern „gespendet“ werden.
Mein New-York-Cape für ein paar Cent leistet mir hervorragende Dienste. Es hält mich warm und trocken. Chris und Kay von unserem Marathonreiseveranstalter Ali Schneider hatten uns gewarnt: „Seid vorsichtig, schaut auf eure Füße. Viele schmeißen nämlich alles planlos weg. Nehmt warmes Zeug mit, bindet euch Plastiktüten um die Füße gegen den Matsch auf der Wiese und nehmt dicke Sitzkissen mit für die Wartezeit. Das wird lang und kalt beim Warten.“


Zum Glück ist die Militärbasis diesmal großflächig mit Stroh eingestreut. Kein Matsch weit und breit. Die Profis raten uns auch noch: Schaut immer auf die Straße, achtet auf kaputte Kanaldeckel und Schlaglöcher. Bei Stürzen drohen sonst Rippenbrüche.
Ja, ich habe verstanden. Ich versuche, auf der 60 Meter hohen Narrows-Brücke gleich nach dem Start Selfies zu schießen. Dabei fummele ich meinen Fotogürtel hektisch auf und zu, reiße dabei auch den Reißverschluss meiner ärmellosen Laufjacke ab. In dieser habe ich das Busticket für die Rückfahrt ins Hotel wasserdicht eingepackt und ein bisschen Kleingeld für den Ernstfall. Es regnet, und ein frischer Wind weht. Ich halte mir mit einer Hand den Kragen zu. Genusslaufen ist anders.

Auf geht’s nach Brooklyn. Mein Zeitplan gerät durcheinander, weil ich mit den Meilenangaben nicht recht klarkomme. Alles mal Faktor 1,6. Zehn Minuten pro Meile scheint mein Zeitmaß zu sein. Okay, das passt einigermaßen.

Aber New York ist anders als Mainz, Hannover oder Frankfurt. Da tobt der Bär. Du bist auch als Fünf-Stunden-Läufer nie allein auf der Laufstrecke, hast immer Gruppen vor und hinter dir. Schon beim ersten Verpflegungsstand werden Isogetränke angeboten. Ich vertraue auf Wasser, später Bananen, einen Powerriegel und freu mich auf ein paar Bierchen abends im Hotel. Ich schaue konzentriert auf den Boden, stakse durch ein Becherlabyrinth. Links und rechts jubeln Tausende Marathonfans. Alle wollen dich abklatschen – „hey man, 
give me five“. Du kannst nicht anders, machst mit. Die Hände brennen.

Parallel zu unserem orangefarbenen Läuferfeld laufen jetzt die Grünen, die sich mit uns nach acht Kilometern verschmelzen. Das ist gewöhnungsbedürftig und nicht ungefährlich. Denn viele langsamere Läufer blockieren plötzlich die Bahn. Beim Überholen von Gruppen mit blinden Läufern, die geführt werden, muss man höllisch aufpassen, die Lücke zum Überholen finden. Immer wieder überqueren auch Fußgänger die Strecke. Manche schieben Kinderwagen zwischen den Läufern, junge Leute tanzen sich durch.

Und dann wird es plötzlich Ernst: ein Feuerwehreinsatz. Das darf nicht wahr sein – der Albtraum. Der riesige rote Laster fährt quer durch die Zuschauer und Läufer von links nach rechts über die Rennbahn. 150 Meter vor mir. Ein Stau mit Hunderten Läufern baut sich auf, die Feuerwehrleute mit Atemschutzgeräten springen aus dem Auto, rollen Schläuche aus. Aber es ist kein Amok, kein Anschlag, kein Terror. Eine Würstchenbude raucht, vielleicht irgendein Kurzschluss. Was weiß ich, ich will es nicht wissen. Ich kann nach einigen Metern im Schritttempo wieder im alten Trott weiterlaufen – ich habe kaum Zeit- und Spaßverlust.

Aber die bange Frage kocht wieder hoch. Kannst du nach New York fahren und beim größten Marathon der Welt gefahrlos mitlaufen? Nicht auszudenken, was da passieren könnte. So ähnlich lauteten Kommentare aus dem Familienkreis. Ja, der drohende Terror ist da. Tags zuvor schon patrouillierten schwer bewaffnete Polizisten mit Hunden in Manhattan, Helikopter rotieren minutenlang über den Hochhäusern, von Scharfschützen auf den Dächern ist die Rede. Tonnenschwere Betonblöcke blockieren notfalls jede Kreuzung, auch wenn sie oft hübsch dekoriert als Werbefläche für Wollmützen getarnt sind.

Was alles passieren könnte! Alles, was mir passiert: Eine Dame schiebt mit samstags einen Rollstuhl an einer Kreuzung in die Hacken. Stunden später das Gleiche mit einer Kinderwagenschieberin. Zum Glück bleiben meine Joggerbeine heil. Nichts passiert. Glück gehabt.

Ich verdränge die trüben Gedanken, finde mein Tempo. Die Zuschauer an den Straßen, vor allem die vielen Kinder, stecken mit ihrer guten Laune an. Auch vor den offenen Kirchen stehen die Menschen dicht gedrängt, halten Jesus-Plakate, skandieren mit Flüstertüten. Ein paar Blocks weiter wird „Jesse“ gerufen. Der Schmelztiegel der Völker und Kulturen, alle feiern die Läufer. Der Regen kühlt die euphorische Stimmung nicht ab. Höchstens das Streckenprofil mindert den Laufgenuss. Die Brückenrampen von Brooklyn nach Manhattan, die folgenden beiden zur Bronx und zurück in den Central Park bringen die Mehrzahl der Fünf-Stunden-Jogger zeitweise zum Gehen. Warum auch nicht?

An unserem Treffpunkt bei Meile 17 gilt es für mich natürlich, frisch und locker aufzusehen. Unsere „Fans“ von Ali Schneider sehe ich von Weitem. Sie haben mich erwartet. Sie haben eine App heruntergeladen, wissen also genau, dass ich komme. Küsschen für die Angetraute, kurzes Winken und weiter. Mein fröhliches Lächeln kann ich jetzt wieder einpacken, denn nach 27 Kilometern tut’s allmählich weh. Man kennt das ja. Bald kommt Kilometer 30, wo der Mann mit dem Hammer wartet: Das ist kein Terrorist, sondern mein innerer Schweinehund.
Beim Erklimmen der Brückenrampe zur Bronx spende ich endlich meine mangels Reißverschluss schlotternde Weste. Sie ist ohnehin patschnass. Meine Halbmarathonzeit von 2:10 Stunden war viel zu schnell. Für die Hügel auf den letzten Kilometern durch den Central Park will ich noch ein paar Körner sparen. Fürs Lächeln beim Zieleinlauf. Ich habe mir 4:45 Stunden vorgenommen, Das wäre genau die Mitte meiner bisher gelaufenen Marathonzeiten. Am Ende sind’s 4:42 Stunden.
Im Ziel werden Ponchos und Umhänge verteilt. Ponchos gibt’s für alle, die ihre Klamotten nicht vom Start ins Ziel bringen ließen. Ich finde meinen klammen Kleiderbeutel, ziehe mich um im Regen an einem Bauzaun. Alle paar Meter stehen jetzt Rotkreuzhelfer, kümmern sich um Finisher, die sich übernommen haben. Etliche liegen auf dem Boden, werden behandelt. Allmählich wird es schon dunkel. Die Spitzenläufer sind hier vorbeigekommen, als ich noch gar nicht gestartet war.

Gestern wurde hier ein fröhliches Fest der Nationen gefeiert mit Pastaparty, Flaggenparade und Feuerwerk. Jetzt ist es ruhiger, alle sind fertig, aber glücklich, alles schiebt in Richtung Parkausgang zur U-Bahn-Station. Ich komme mit einem Österreicher ins Gespräch, der mich als Deutscher identifiziert. Dabei habe ich gar nichts gesagt. Ach so, mein Trikot vom Oeffentlichen Anzeiger, der Bad Kreuznacher Lokalausgabe der Rhein-Zeitung, hat’s ihm verraten.

Die Finisher-Medaille berechtigt zum Eintritt in den U-Bahnhof. Die Wagen sind voll mit stolzen Marathonis. In wenigen Minuten rattert die Untergrundbahn in Richtung Port Authority, dem riesigen U-Bahn- und Busbahnhof. Ich steige um in den Bus nach New Jersey. Port Authority schluckt 70 Millionen Fahrgäste im Jahr. Was hätte beim Marathon alles passieren können? Unsere Ali-Schneider-Fangruppe wurde nirgends kontrolliert, Hunderttausende Fans an den Straßen ebenfalls nicht. Potenzielle Rohrbombenbauer oder Amokläufer hätten also alle Möglichkeiten gehabt.

Sollte mich das nun daran hindern, Großstadtmarathons künftig zu meiden? Ich entscheide mich für ein klares Nein, bin schon wieder im Training, will wieder dabei sein. Vielleicht in Barcelona am 11. März. Dort geht's unter anderem über die Flaniermeile Las Ramblas, wo es im vergangenen Jahr einen Terroranschlag mit 13 Todesopfern gab. Der Terror ist allgegenwärtig. Aber New York hat mir gezeigt, Hunderttausende konnten ihn ausblenden, ihren Marathon als Läufer und Fans genießen. Das gibt 
Hoffnung.
Armin Seibert