Tokio ist einzigartig anders

Tokios Einkaufsmeile Ginza wird am Wochenende für den Autoverkehr gesperrt, damit die shoppingfreudigen Japaner ungestört bummeln können. Rie Kuwahara (33) unterbricht ihren Einkaufsbummel gern, um spontan für unseren Fotografen zu posieren.
Tokios Einkaufsmeile Ginza wird am Wochenende für den Autoverkehr gesperrt, damit die shoppingfreudigen Japaner ungestört bummeln können. Rie Kuwahara (33) unterbricht ihren Einkaufsbummel gern, um spontan für unseren Fotografen zu posieren. Foto: Ulf Steffenfauseweh

Gerhard Passrugger steht in der Edelsuite des Andaz Tokio und lässt seinen Blick schweifen. Im 49. Stock hat er die beste Sicht auf die Neun-Millionen-Stadt, in deren Metropolregion 37 Millionen Menschen leben. Und dass die irgendwohin müssen, kann man sehen: Hochhaus steht an Hochhaus, eine für das Auge nicht endende Betonwüste.

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Von unserem Redakteur Ulf Steffenfauseweh

„Besonders hoch ist das alles nicht“, kommentiert Passrugger trocken. „Schanghai“, sagt der Österreicher, „Schanghai ist da eine ganz andere Hausnummer.“ Tokio sei doch fast beschaulich. Überhaupt: Alles so sauber, diszipliniert, geordnet. Und dann beginnt der 35-Jährige Küchenchef des Hotels zu philosophieren. Über Japaner und Chinesen: unterschiedliche Welten, unterschiedliche Menschen, auch in der Küche: „Die Chinesen haben gemacht, was man ihnen gesagt hat, aber man musste sie immer antreiben, weil sie schnell zufrieden waren. Die Japaner dagegen haben einen hohen Eigenanspruch, sind perfektionisch – und überhaupt nicht kritikfähig. Man muss da ganz vorsichtig sein“, erzählt er. Denn wer laut schimpft, verliert sein Gesicht, wer laut beschimpft wird, auch.

Dass Japan anders ist, kann man auch in der Stadt sehen. Tokio ist einzigartig, nicht vergleichbar mit asiatischen Metropolen außerhalb des Inselreichs. Es gibt an jeder Ecke Automaten für alles mögliche, nirgendwo stehen Mülleimer, und trotzdem sehen die Straßen immer wie frisch gefegt aus. Die Japaner stecken ihren Müll in die Tasche und nehmen ihn mit nach Hause.

Verkehrschaos gibt es nicht, Stau ist selten. Wer ein Auto besitzt, muss einen Parkplatz nachweisen können – und Platz ist teuer in Tokio. Dafür ist die U-Bahn die meistgenutzte der Welt. Fast acht Millionen Menschen fahren täglich mit einer der 13 Linien, und sie alle stellen sich ordentlich in Reih und Glied auf, bevor sie einsteigen. Auf den Bahnsteigen sind die Stellen, an denen die Türen sein werden, eigens markiert, die Fahrer stoppen exakt so, dass es passt. Vordrängeln? Bloß nicht! Es wäre grob unhöflich, und Höflichkeit steht über allem in einem Land, in dem sich im Supermarkt Kassierer wie Kunde beim Bezahlen lieber dreimal als nur einmal verbeugen und die Geldscheine natürlich immer mit beiden Händen entgegennehmen.

Die Kriminalitätsrate ist in Tokio niedriger als in allen anderen Großstädten der Welt. „Ich könnte mein Mobiltelefon unten auf die Mauer legen, und am Abend wäre es noch da“, ist Gregor Streun sicher. Der 28-jährige Executive Souschef der Andaz-Küche, eigentlich Bayer, aber über Schanghai mit seinem Chef Passrugger nach Tokio gekommen, hat seinen Wechsel nicht bereut. „In China konnte man ja fast nicht nach draußen gehen bei dem Smog. Hier fahre ich mit dem Fahrrad durch die frische Luft zur Arbeit“, erzählt er.

Richtig zu fassen sind die Japaner aber auch für ihn nicht. Selbst Menschen, die lange im Land gelebt haben, sagen, dass sie sie nicht durchschauen. Denn die Gesichtswahrung steht an oberster Stelle. Das macht vorsichtig. Bevor sich ein Japaner mit einem ausländischen Journalisten unterhält, geht er lieber in Deckung. Er könnte etwas Falsches erzählen oder noch schlimmer: etwas, das seinem Chef nicht gefällt.

So bleibt dem Besucher in Tokio vor allem zu beobachten und zu staunen. Menschen, die sich wie Roboter durch die Straßen bewegen und arbeiten bis zum Umfallen. Für den Tod durch Überarbeitung gibt es in Japan einen eigenen Namen: Karoshi. Nachts dagegen sind die Spielhöllen voll: Aufgereiht sitzen erwachsene Menschen im Anzug vor blinkenden und piependen Automaten und spielen um kleine Metallkügelchen, die später getauscht werden können. Und im Vergnügungsviertel Odaiba läuft die Jugend so bunt verkleidet herum, dass viele aussehen wie Figuren in den so beliebten Mangas.

Andaz-Restaurantchef Gerhard Passrugger (rechts) mit seinem Executive Souschef Gregor Streun auf dem Fischmarkt.
Andaz-Restaurantchef Gerhard Passrugger (rechts) mit seinem Executive Souschef Gregor Streun auf dem Fischmarkt.
Foto: Ulf Steffenfauseweh

Auf der einen Seite sind die Japaner stolz auf ihr Land, sehen ihre Kultur als unübertroffen an und blicken auf Gaijin (Ausländer) ein wenig herab. Auf der anderen Seite können sie sich für Europäisch-Amerikanisches begeistern. Als H & M 2008 auf der Shoppingmeile Ginza seine erste Filiale in Japan eröffnete, standen rund 5000 Menschen in einer fast unendlichen Schlange geduldig an. Daran erinnert sich auch Rie Kuwahara. Die 33-Jährige geht wie viele Tokioter in ihrer Freizeit am liebsten shoppen, verehrt Dortmunds Shinji Kagawa und findet es ganz offensichtlich wirklich wichtig, dass dem Gast aus Deutschland ihre Stadt gefällt. Der Besuchstag ist gut geplant und durchdacht. Kein Einzelfall.

Die Japaner treiben ihren Perfektionismus in vielen Bereichen auf die Spitze, am auffälligsten vielleicht beim Essen. Der „Guide Michelin“ hat fast doppelt so viele Tokioter Restaurants mit Sternen ausgezeichnet wie Pariser. Und 13 Drei-Sterne-Häusern sind mehr als ganz Deutschland hat (11). So erzählt auch Gerhard Passrugger, dass er in Schanghai noch für sich selbst gekocht hat, in Tokio nicht: „Hier gibt es 125 000 Restaurants, die so, so gut sind“, sagt er und schwärmt von der Qualität der Lebensmittel, die auch in seiner Küche landen: „Gigantisch. Als der Händler zum ersten Mal kam, hab ich gedacht, ich träum.“

Wer so etwas beobachten will, muss früh aufstehen und zum Tsukiji-Market, dem größten Fischmarkt der Welt, fahren. Auf dem riesigen Areal gibt es alles, was im Wasser schwimmt, in riesiger Auswahl, wobei die Japaner stark darauf achten, dass das, was sie essen, Saison hat. Davon ausgenommen ist die Leibspeise der Japaner: Thunfisch gibt es ganzjährig. Ab 5 Uhr werden die Kolosse versteigert, und sie erzielen bei guter Qualität Höchstpreise. „Bis zu 100 US-Dollar pro Kilo“, sagt Passrugger und fügt an: „Die besten Fische können 120 Kilo haben.“

Natürlich findet man auf dem Markt auch Fugu, den Kugelfisch, dessen Genuss tödlich sein kann, wenn er falsch zubereitet ist. Ihre Eigenarten geben die Japaner eben nicht auf. Und so findet man auch in einer Stadt, in der etwas praktisch schon alt ist, wenn es gerade fertiggebaut ist, kleine Oasen des traditionellen Japan. Der prächtige Asakusa-Tempel ist vielleicht die bekannteste Attraktion in dieser Hinsicht.

Rund um den Atago-Schrein ist es ruhiger. Anfang des 17. Jahrhunderts errichtete ihn der erste Tokugawa-Shogun auf der höchsten Stelle des jungen Tokio. Heute muss man ihn zwischen den Hochhäusern suchen. Aber wer die 85 Stufen erklimmt, soll Glück im Job haben. Und oben kann man sich einen kleinen Blick in seine Zukunft erkaufen. Gefällt, was auf der Vorhersage steht, nimmt man den Zettel mit. Gefällt es nicht, knotet man ihn an eine Leine und lässt das Pech einfach zurück. So kann man unbeschwert weiter eine Stadt mit vielen Gegensätzen erkunden. Eine Stadt, in der es unheimlich viel zu entdecken gibt.