Entschleunigen auf der Formel-1-Rennjacht

In den 1990ern jagte die Maxi-Jacht „Fisher und Paykel“ mit dem Rennzirkus über die Ozeane. Heute teilt ihr Skipper dieses einmalige Erlebnis mit Touristen auf Fuerteventura.
In den 1990ern jagte die Maxi-Jacht „Fisher und Paykel“ mit dem Rennzirkus über die Ozeane. Heute teilt ihr Skipper dieses einmalige Erlebnis mit Touristen auf Fuerteventura. Foto: Nicole Mieding

Entschleunigen auf einer Rennjacht. Geht nicht? Geht doch! Unsere Reporterin war an Bord der Maxi-Jacht „Challenger 93“ zum Schnuppertörn für Segelinteressierte unterwegs.

Lesezeit: 9 Minuten
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Ein beherzter Schritt, der Käpt'n lächelt und streckt mir seine Hand entgegen. „Hallo, willkommen an Bord, ich bin Quino“, sagt er knapp. Das muss an Formalitäten erst einmal genügen, weil der Wind gut steht und Joaquín Quiroga Sartorious, III conde de Quiroga-Ballesteros, heute noch bis zur Nachbarinsel Gran Canaria kommen will. Eine Reportage von Bord der Maxi-Jacht „Challenger 93“.

Mein zweites Bein berührt noch die zusammengezimmerte Holztreppe am Kai, da wirft der spanische Graf im Freibeuterlook die Leinen los. Seine Passagierliste ist komplett, die Crew hat den halben Tag auf meine Ankunft gewartet. Und musste zusehen, welch fantastischer Wind ihr dabei durch die Lappen geht. Für Segler die Höchststrafe.

Netterweise lässt mich niemand spüren, dass ich Ursache dieses Übels bin. Stattdessen packen mich zwei Mitsegler beherzt am Ellbogen, um mich vollends an Deck zu ziehen. „Eine Koje haben wir dir schon zurechtgemacht, deine Reisetasche liegt drin“, begrüßt mich eine zierliche Frau und hält mir ein Geschirr aus Gurten hin. „Zieh das lieber an und hake dich mit der Sicherungsleine an der Reling ein. Der Atlantik kann ganz schön ruppig sein“, rät der rettende Engel, der sich als Brita vorstellt. Sicherheitsgurt? Keine schlechte Idee, wenn man als Segelneuling auf eine Rennjacht steigt.

Auf dem schwankenden Deck wird aus dem Versuch, das Gurtgeschirr anzulegen, ein Fesseltrick. Wankend klettere ich über den Niedergang nach unten und mache mich erst mal mit meinem neuen Zuhause vertraut. Der Überblick ist schnell verschafft, weil es weder Kabinen noch Küche oder gar ein Badezimmer gibt. Die „Challenger 93“ ist eine Rennmaschine. Sie wurde Ende der 1980er-Jahre als „Fisher und Paykel New Zealand“ für die Formel 1 auf den Ozeanen designt. Überflüssiger Ballast stört da nur. Was unnötig ist, wird einem klar vor Augen geführt: kein Tisch, kein Stuhl, die einzige Sitzgelegenheit gibt es am Kartentisch in der Technikkabine. Mit Navigationssystem, Radar und – ha! – WLAN. Die Schiffsküche ist eine offene Kochstelle samt Spüle (ein Schlauch mit See-, ein zweiter mit Süßwasser) und eigens so bemessen, dass nicht umfällt, wer bei Seegang darin hantiert.

Bordhunde: Die Golden-Retriever-Brüder Kimball und Rocco fühlen sich zwischen Segeln und Tauen pudelwohl.
Bordhunde: Die Golden-Retriever-Brüder Kimball und Rocco fühlen sich zwischen Segeln und Tauen pudelwohl.
Foto: Nicole Mieding

Gleiches gilt für die Schlafstätten. Die Privatsphäre der Passagiere beschränkt sich auf rund zwei Meter schmale Nischen an der Schiffswand mit jeweils zwei Rohrkojen übereinander. Diese „Betten“ bestehen aus einer mit Tuch bespannten Rohrkonstruktion, die an einem Seilzug hängt. Bei schwerer See zieht man dran, klappt die Liege hoch und verzurrt sich wie ein Päckchen gegen die Schiffswand. Die Bordtoilette: drei Wände und ein Vorhang. Eine Kabine, die so winzig ist, dass man sich schon aus ergonomischen Gegebenheiten mit den Füßen festklemmt, sobald man auf der Schüssel sitzt. Gewieft, denn so bleibt eine Hand frei, um den Vorhang zuzuhalten. Was verhindert, dass man dem Steuermann geradewegs in die Augen blickt. Ich nehme mir fest vor, meine Notdurft wann immer möglich in einem Hafen zu verrichten, und steige über die Gebirgslandschaft aus Tuchtaschen voller Ersatzsegel zurück nach oben. Schließlich bin ich hier nicht bloß zum Schlafen und will mal sehen, ob ich beim Ablegemanöver helfen kann.

Das hat offenbar schon unser Skipper Fabio erledigt – wir segeln. Käpt'n Quino quittiert mein Erscheinen mit einem Nicken, deutet auf mich und zählt weitere Crewmitglieder ab. „Eins, zwei, drei – ihr macht mit mir die erste Wache, Nummer vier, fünf und sechs übernehmen mit Fabio die zweite“, sagt er in gebrochenem Englisch. Alle nicken. Falls wir wissen müssen, was das heißt, wird er's bestimmt noch erklären. Die nächste Anweisung ist eindeutig: Segel setzen! 32 gibt es an Bord, oben ist bislang nur eins. Zwei Freiwillige sollen helfen, das Vorsegel am Mast hochzuziehen. Mutig melde ich mich, Quino nickt und wählt zu meiner Unterstützung den augenscheinlich Stärksten. Ein kräftiger junger Mann, der seine Muskeln mit ärmellosem Shirt und Tattoos gekonnt in Szene setzt. Zielstrebig wanken wir gen Mast und versuchen herauszufinden, an welcher Strippe wir ziehen müssen.

„Nehmt das blau-weiße Fall“, springt uns Fabio auf Deutsch zur Seite und schaut unserem Bemühen, das Segel zu hissen, erst einmal zu. Fabio ist eine Art Schweizer Taschenmesser: zuverlässig und vielseitig einsetzbar. Klemmt das Großsegel, klettert er in voller Fahrt auf den Mast, ein Messer zwischen den Zähnen, um die verhakten Taue zu lösen. Als Smutje verhindert er, dass der Zuckerspiegel der Crew und damit die Laune an Bord gefährlich sinkt. „Ihr müsst im selben Atemzug ziehen“, erklärt er nun. Folgsam hängen wir uns in die Seile. Nach dem siebten Einatmen („Hau!“) – Ausatmen („Ruck!“) flattert das Vorsegel allerdings erst knapp über unseren Köpfen – gerade mal ein Drittel der Strecke ist geschafft. Ich pendle hilflos hin und her, und auch dem Kraftsportler geht die Puste aus. „Weg da, geht in Deckung!“, ruft Fabio, packt das Seil, stemmt die Füße gegen den Mast und hat mit ein paar kraftvollen Zügen das Segel bis zur Mastspitze gehisst. Die Crew ist kleinlaut geworden, unsere Skipper lächeln milde. „Hat doch ganz gut geklappt“, trösten die beiden drahtigen Männer und sehen über unsere Selbstüberschätzung höflich hinweg. Auf See werden Helden geboren. Oder vom Sockel geholt.

„Alle Mann ran“, heißt es auf der 25-Meter-Jacht, wenn ein Manöver ansteht.
„Alle Mann ran“, heißt es auf der 25-Meter-Jacht, wenn ein Manöver ansteht.
Foto: Nicole Mieding

Für Badewannenkapitäne ist der Atlantik jedenfalls nichts. Zu einer ersten unfreundlichen Begegnung kommt es, als eine Riesenwelle über die Reling steigt und mir in den Kragen schwappt. In solchen Momenten braucht der Käpt'n keine Anweisungen zu geben. Mit dem Karabiner an unserem Gurtgeschirr klinken wir uns ehrfürchtig an der Reling oder einem Decksbeschlag ein. Die Delfine scheint dieser Seegang wenig zu stören. Ganze Herden schwimmen in unserer Bugwelle mit. Die Euphorie, die ihr Anblick auslöst, währt nur kurz. Allmählich wird die Mannschaft stiller. Reihum bleiche Gesichter, bange Blicke und die stumme Frage: Wie lang dauert das hier noch? Unser Kapitän kennt das schon und offenbart seine mütterliche Seite: Er öffnet eine Tupperdose und teilt sorgsam trocken gehaltene Papiertüten aus. „Keine Sorge, am ersten Tag ist das normal“, tröstet er reihum und rät, sich flach auf den Rücken zu legen. Quinos Fürsorgepflicht besteht in den folgenden Tagen auch darin, dass an Bord niemals die Tüten ausgehen.

Die Erfahrung gibt ihm auch in Sachen Seekrankheit recht. Am nächsten Morgen haben die meisten Passagiere ihren Appetit wiederentdeckt. Seeluft macht hungrig. Und müde. Weshalb wir die meiste Zeit des Tages nur eins, nämlich Passagiere, sind. Tief in unserem Herzen sind wir willige Segler. Doch über weite Strecken finden sich unsere beiden Skipper allein in der Pflicht. Im Rennmodus braucht es bis zu 24 Mann, um dieses Schiff zu segeln, das als „Fisher & Paykel New Zealand“ für das Whitbread Rund-um-die-Welt-Rennen 1989/90 designt worden ist. Die 83-Fuß-Ketsch mit 900 Quadratmeter Segelfläche schafft bis zu 30 Knoten bei Starkwind. Zum Glück schaukeln unsere beiden Skipper das Schiff notfalls auch allein in den nächsten Hafen.

An die Bordroutine gewöhnen wir uns überraschend schnell. Bereits am zweiten Tag bewegen wir uns gefestigten Schritts über Deck. Immerhin wissen wir nun schon, wo beim Schiff vorn und hinten ist – oder besser, Bug und Heck. Vor der Einfahrt in den Hafen binden wir ungefragt die Fender an die Reling und freuen uns wie kleine Kinder, wenn wir jemanden finden, der uns einen Schlüssel für die Sammelduschen gibt. Segeln ist wie Camping auf dem Wasser: Der Alltag besteht in hohem Maß aus Improvisieren. Das schärft den Blick für die kleinen Dinge im Leben und führt dazu, dass aus üblichen Zwängen entspanntes Loslassen wird. Aufgestanden wird, sobald der Erste wach ist. Am Abend kehrt erst Ruhe ein, wenn der Letzte in seiner Koje liegt.

Der Atlantik kann Joaquin „Quino“ Quiroga nicht mehr aus der Ruhe bringen. Der Skipper hat schon unter widrigsten Bedingungen die Welt umsegelt.
Der Atlantik kann Joaquin „Quino“ Quiroga nicht mehr aus der Ruhe bringen. Der Skipper hat schon unter widrigsten Bedingungen die Welt umsegelt.
Foto: Nicole Mieding

So ergeben sich unausgesprochene Regeln. Nur Ordnung zu halten, fällt zunehmend schwer. Für Koffer gibt es keinen Stauraum. Die mitgebrachten Reisetaschen bleiben deshalb unausgepackt. Im immer bunteren Durcheinander vergeht zu viel Zeit mit Suchen. Seit Tag drei ziehen wir an, was oben liegt. Unser Kapitän schläft aus praktischen Erwägungen in Klamotten. Nach einer kurzen Einweisung überlässt er reihum das Ruder und ruft uns nur, wenn wir Mist bauen, kurze Kommandos zu. Segeln lernt man eben am besten durch Segeln. Quino hat genügend Gottvertrauen und Erfahrung, um regelmäßig in den Schiffsbauch abzutauchen. Er liegt dann in seiner Koje, liest oder hält ein Nickerchen mit halb geschlossenen Augen. Denn selbst im Schlaf hat der 56-Jährige immer den Kartenplotter im Blick. Brauchen tut er das Hilfsmittel, das unseren Kurs nachzeichnet, eigentlich nicht. Quino hört am Windgeräusch, ob die Segel richtig stehen, und fühlt im Steißbein, wenn wir auf Abwegen sind. Dann dauert es keine zehn Sekunden, bis er nach oben gesprintet ist und wieder selbst das Ruder übernimmt.

Quino ist ein „Salzbuckel“, er lebt, um zu segeln. Am liebsten sportlich, sodass das Schiff in Schräglage durch die Atlantikwogen pflügt. Dann sitzt er in seiner Lieblingsposition neben einem der beiden Steuerräder, lässig gegen den Seezaun gelehnt. Tief in der Hocke, während sein Hintern halb im Atlantik hängt. Mit dem Ozean ist er per du, er hat mehrfach die Welt umsegelt. Einmal wurde dabei ein Crewmitglied über Bord gespült. Die Rettungskräfte sahen sich außerstande, den Mann zu bergen. Quino gelang das Unmögliche, er fischte den Kameraden unter Einsatz seines Lebens aus dem Indischen Ozean. 1989/90 war das, beim legendären Whitbread-Rennen, aus dem das heutige Volvo Ocean Race hervorging. Auch diese Regatta um die Welt ist er gesegelt. Er ist Sieger des Rolex Cups und hält einen Weltrekord: Joaquin Quiroga hat es mit seiner Crew als Erster geschafft, 400 Seemeilen in 24 Stunden segelnd zurückzulegen. Aber er erzählt davon nur, wenn man ihn beharrlich danach fragt.

Bei knapp 900 Quadratmeter Segelfläche kommt die Amateurmannschaft an ihre Grenzen. Privater Rückzugsort sind die Rohrkojen, sie hängen in zwei Meter breiten Nischen an der Schiffsaußenwand, dahinter rauscht der Atlantik.
Bei knapp 900 Quadratmeter Segelfläche kommt die Amateurmannschaft an ihre Grenzen. Privater Rückzugsort sind die Rohrkojen, sie hängen in zwei Meter breiten Nischen an der Schiffsaußenwand, dahinter rauscht der Atlantik.
Foto: Nicole Mieding

Von seiner adeligen Familie ist schon gleich gar nicht die Rede. Nichts davon, dass König Alfonso XIII seinen Großvater, Staatssekretär der Justiz, 1931 in den Adelsstand erhob. Unter Francos Militärdiktatur stützte ein Teil seiner Sippe den General, während ein anderer die Kommunistische Partei aus der Taufe hob. Aus Ahnenbüchern kann man das über unseren Kapitän Joaquín Quiroga Sartorius, den dritten Grafen von Quiroga-Ballesteros, erfahren. Und aus der Klatschpresse, dass der Rest der Familie ein Jetsetleben in Marbella führt. Nur wenn die Sprache auf Quinos jüngsten Sohn kommt, fängt der stille Spanier plötzlich an, wie ein Wasserfall zu reden: Simbad ist 19 und auf einem Schiff geboren: „Avante“, eine Mahagonijacht, für König Juan Carlos' Großvater gebaut, auf der Quino mehrere Jahre lang wohnte. Simbad heißt nicht nur wie ein Seefahrer, er ist auch mindestens so segelverrückt wie sein Vater. Derzeit studiert er Schiffsbau auf Gran Canaria.

Als wir die Insel auf unserer Tour spät nachts erreichen, erwartet uns Simbad im Hafen. Er steht in Las Palmas am dunklen Kai, nimmt die Leinen entgegen, macht das Schiff mit schlafwandlerischer Sicherheit fest und springt an Bord. Vater und Sohn fallen sich glücklich in die Arme. Es ist der einzige Abend, an dem sich unser Kapitän zwei private Stunden abseits seiner Mannschaft gönnt. Die ist nach einem langen Tag auf See todmüde und fällt nach dem obligatorischen Anlegebier, diesmal aus der Dose, ungeduscht ins Bett.

Am nächsten Morgen hängen die Handtücher zum Trocknen an Deck, wir freuen uns über frisch gebrühten Kaffee. Die anerkennenden Blicke der Passanten sind wir inzwischen gewöhnt. Auf der anderen Seite des Hafenbeckens gibt es Restaurants, kleine Läden, dahinter lockt die Hauptstadt. Ein paar gehen von Bord, aber weit kommen sie nicht. Entspanntes Segeln und Menschentrubel vertragen sich nicht. Also nur kurz einen Cocktail im Hafen, vielleicht einen Salat mit Meeresfrüchten. Die Annehmlichkeiten einer Restauranttoilette genießen. Dann geht's zurück. Uns sind Seebeine gewachsen, fester Boden wirkt ungewohnt. Der Törn hat uns zu einer Mannschaft geformt. Und am wohlsten fühlt die sich auf ihrem Schiff.

Von unserer Chefreporterin Nicole Mieding

Wissenswertes für Reisende

Segeln: Der Heimathafen der „Challenger 93“ ist in Morro Jable auf Fuerteventura. Das ganze Jahr über gibt es mehrmals wöchentlich Schnuppertörns für Segelinteressierte. Wer mehr wagen will, meldet sich zu einem mehrtägigen Törn zwischen den kanarischen Inseln, nach Madeira oder Agadir an.

Anreise: Direktflüge nach Puerto del Rosario gibt es von Frankfurt, Köln-Bonn, Düsseldorf etwa mit Condor, Iberia, Tuifly und Sunexpress. Nach Morro Jable im Süden der Insel besteht eine Busverbindung.

Zielgruppe: Segelerfahrung ist selbst für einen längeren Törn nicht vonnöten. Die erfahrene Crew hat das Schiff im Griff. Um den Atlantik genießen zu können, sollte man einigermaßen seefest sein.



Reisezeit: Die Kanaren heißen auch „Inseln des ewigen Frühlings“. Das ganze Jahr über herrschen Temperaturen zwischen 20 und 30 Grad.

Auskunft zu den Marinas, Regatten, Segelkursen und Bootsverleihen in Spanien gibt es im Internet unter www.estacionesnauticas.info/en

Unsere Autorin ist mit Condor geflogen und hat eine Woche lang auf der „Challenger 93“ gelebt. Diese Reise wurde unterstützt von Condor und Maxi Sailing Fuerteventura.