Expertin erklärt im Interview: Wie Patienten lernen, sich selbst zu helfen

Komplementärmedizin nutzt Heilmethoden, 
die klassische Therapieverfahren 
ergänzen und Krankheiten 
im Idealfall vermeiden.
Komplementärmedizin nutzt Heilmethoden, 
die klassische Therapieverfahren 
ergänzen und Krankheiten 
im Idealfall vermeiden. Foto: Fotolia

Wie finde ich Orientierung im Dickicht alternativer Heilmethoden und Heilmittel? Die Spezialistin für Komplementärmedizin, Prof. Dr. Jutta Hübner, sagt: „Alles, was mehr als 1 Euro pro Tag kostet, ist verdächtig.“ Wer Patienten verspreche, sie mit alternativen Verfahren zu heilen, sei ein Scharlatan. Deshalb sieht die Professorin für Integrative Onkologie am Uniklinikum Jena Globuli und Homöopathie skeptisch. Stattdessen empfiehlt sie Patienten, durch alternative Methoden zu lernen, wie sie sich selbst helfen können.

Lesezeit: 4 Minuten
Anzeige

Warum haben viele Menschen eine so große Sehnsucht nach Alternativen zur Schulmedizin?

Sehnsucht ist das richtige Wort. Viele Patienten wünschen sich, als Menschen und nicht als Erkrankung wahrgenommen zu werden. Der Schulmedizin gelingt das aus Sicht vieler nur selten. Das liegt aber mehr am Gesundheitssystem. Zweitens wünschen sich viele, dass alles getan wird, damit sie eine Krankheit überleben. Dabei fragen sie sich, was sie selbst tun können. Die Komplementärmedizin bieten ihnen dazu Möglichkeiten. Antworten sind aber auch gesunde Ernährung oder körperliche Betätigung. Die Amerikaner definieren Komplementärmedizin daher sehr treffend als alles, was die Patienten selbst machen können.

Was heißt komplementär?

Komplementär bedeutet eine Ergänzung zur Schulmedizin, die wir sehr wohl weiter brauchen. Es wird begleitend etwas getan, damit der Patient eine Krankheit möglichst gut übersteht. Alternativmedizin will die Schulmedizin hingegen ersetzen. Das ist Scharlatanerie. Es gibt keine natürlichen Heilverfahren, mit denen wir nachgewiesenermaßen etwa Krebs heilen können. Aber es gibt in der Natur durchaus starke Substanzen, die das schaffen können. Doch diese sind meist längst in die Schulmedizin integriert worden. Wir haben sie aber so modifiziert, dass der Patient die Einnahme überlebt und nur die Krankheit bekämpft wird. Ein Beispiel sind Eibenpräparate wie Taxane in der Chemotherapie. Wir brauchen Therapien, für die es wissenschaftliche Beweise gibt. Das sind wir den Patienten schuldig.

Der Gemeinsame Bundesausschuss von Krankenkassen und Ärzten ist für die Zulassung von Behandlungen und Medikamenten zuständig. Ihr Vorsitzender Josef Hecken hat sich sehr kritisch zum wissenschaftlichen Nutzen von Homöopathie geäußert. Hecken will Kassen verbieten, homöopathische Mittel zu erstatten. Widerspricht das nicht den Erfahrungen vieler?

Hecken hat recht. Es gibt keine einzige Studie, die zeigt, dass die Wirkung von Globuli der von Placebos überlegen ist. Doch ich gebe auch den Patienten recht, denen Homöopathie hilft. Was wirkt, ist der Placeboeffekt. Aber wenn ich Globuli einsetze, muss ich den Patienten darüber informieren, dass die Kügelchen nichts Substanzielles enthalten, dass es ihnen aber helfen könnte. Patienten dürfen von uns Ärzten auch Ehrlichkeit erwarten. Ich würde anders herangehen und Patienten sagen, dass sie ein Problem haben, das sie mit ihren Selbstheilungskräften gut bekämpfen können. Ich kann ihnen Kügelchen geben. Aber wenn sie herausfinden, dass sie ihre Krankheit selbst beeinflussen können, kommen sie genauso weit. Wenn Patienten das erkennen, bringt sie das viel weiter. Denn wenn das Problem wieder auftritt, können sie sich selbst helfen.

Welche komplementären Heilmethoden sind empfehlenswert?

Es gibt eine sehr gute, wissenschaftlich fundierte Tradition beim Einsatz von Heilpflanzen. Sie können bei bestimmten Krankheitsbildern sehr wirksam sein: Weißdorn bei leichten Herzerkrankungen, Johanniskraut bei leichten Depressionen oder Ingwer bei Übelkeit oder Erbrechen. Zweitens wissen wir aus der klassischen Naturheilkunde, dass Wärme- und Kälteanwendungen helfen, Kälte bei rheumatischen Erkrankungen, Wärmeanwendungen bei Muskel- und Gelenkverspannungen. Drittens gibt es bei fernöstlichen Methoden sehr viele positive Studien zu Tai Chi, Yoga und Qigong. Sie zeigen aber nur, dass dies besser ist, als gar nichts zu tun. Spannend wird es, wenn die Vergleichsgruppe etwas Aktives macht. Einige Studien zeigen, dass Yoga keinen Vorteil gegenüber normaler Krankengymnastik hat. Das ist eine sehr wichtige Botschaft für Patienten: Yoga kann dir guttun, aber du kannst auch zu einer guten Krankengymnastik gehen.

Vielen Menschen helfen komplementäre Methoden, doch die Krankenkassen zahlen diese nicht. Eine gefährliche Schieflage?

Meistens haben wir keine Schieflage. Mein Tipp: Alles, was mehr als 1 Euro pro Tag kostet, ist verdächtig. Oder es ist so gut, dass es die Kassen nach einem Antrag zahlen. Finanzierungsdefizite haben wir bei Bewegungstherapie und guter Ernährungsberatung. Da wäre es sinnvoll, mehr zu investieren. Und: Ernährungsberatung im ambulanten Bereich wird auf Rezept nicht einfach verordnet. Dazu braucht es einen Antrag bei der Kasse. Und die kann so oder so entscheiden. Die Physiotherapie kann zwar verordnet werden. Dies lässt den Therapeuten aber einen sehr engen Spielraum und wenig zeitliche Möglichkeiten.

Zugleich haben die Kassen die Komplementärmedizin als Wettbewerbsinstrument entdeckt und übernehmen immer öfter bei bestimmten Verfahren die Kosten. Ist das problematisch?

Ja. Denn wenn die Kasse etwas bezahlt, ist das für die meisten Patienten ein Qualitätssiegel. Es ist für sie verwirrend, wenn sie einerseits hören, dass der Nutzen von Homöopathie infrage gestellt wird, diese aber andererseits von der Kasse bezahlt wird. Ich würde mir wünschen, dass die Kassen das Reden mit den Patienten besser bezahlen. Das ist wirksam. Die sprechende Medizin muss mehr Geld bekommen, in die apparative Medizin sollte weniger fließen.

Gesundheit und Armut hängen eng zusammen. Ist es da nicht problematisch, wenn sich nur einige komplementäre Behandlungen leisten können?

Es gibt durchaus ein soziales Gefälle. Doch das liegt eher im Bereich Gesundheitsprävention und -wissen. Daher ist es wichtig, alle Bevölkerungsschichten über einen gesunden Lebensstil zu informieren. Und wir müssen den Menschen dann auch die Möglichkeit geben, so leben zu können. Deshalb müssen wir Gesundheitswissen in die Schulen bringen. Wie funktioniert mein Körper, und was tut ihm gut? Wo bekomme ich gute Informationen, wenn ich ein Problem habe? Das ist auch mit Blick auf komplementäre Verfahren wichtig. Denn erste Studien belegen, dass Menschen, die sehr oft Homöopathie einsetzen, häufiger krank sind und höhere Kosten verursachen als die, die das nicht nutzen.

Woran liegt das?

Meine Hypothese ist, dass Menschen, die Homöopathie nutzen, eher gleich zum Arzt gehen, wenn sie ein kleines Zipperlein haben. Und dass sie das Vertrauen auf die Selbstheilungskräfte verloren haben.

Das Gespräch führte Christian Kunst