Rheinland-Pfalz/Berlin

Immer mehr ADHS-Kinder schlucken Pillen

Experten schlagen Alarm: Immer mehr Kinder in Rheinland-Pfalz nehmen wegen der Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung) Pillen.

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Von unserem Redakteur Christian Kunst

Die Zahl der verordneten Tagesdosen des Ritalin-Wirkstoffs Methylphenidat (MPH) hat sich von 2004 bis 2011 verdoppelt. Das geht aus einer Statistik der Kassenärztlichen Vereinigung hervor, die unserer Zeitung vorliegt. Demnach wurden vor acht Jahren noch 1,8 Millionen Tagesdosen verordnet – 2011 waren es mehr als 3,6 Millionen Dosen. Die Zahl der Verordnungen stieg zwischen 2004 und 2011 von 91 000 auf 115 000.

Der Umsatz mit MPH und damit die Kosten für die Krankenkassen im Land erhöhten sich zwischen 2004 und 2011 um 1,5 Millionen auf 4,5 Millionen Euro. Schätzungen besagen, dass in Deutschland etwa 250 000 Kinder Ritalin nehmen. Seit Anfang der 90er-Jahre ist die verschriebene MPH-Menge um das mehr als 50-fache gestiegen: von 34 Kilo im Jahr 1993 auf fast 1,8 Tonnen im Jahr 2010.

Für Walter Bockemühl, Chef der AOK Rheinland-Pfalz, ist der drastische Zuwachs bei Ritalin-Verordnungen „extrem problematisch“. Er fühlt sich bestätigt: Schon früh habe er wegen der vielen Nebenwirkungen wie Bluthochdruck oder paranoiden Wahnvorstellungen vor der übertriebenen Verschreibung gewarnt. „Viele der Verordnungen sind medizinisch nicht notwendig. Es sind Verordnungen auf Wunsch der Eltern. Doch die Nebenwirkungen werden von den Ärzten oft nicht berücksichtigt. Das ist fahrlässig“, kritisiert Bockemühl. Er betont: „Es geht mir nicht um die Kosten für die Kassen, sondern um die Gesundheit der Kinder.“

Auch Gesundheitspolitiker von Union und Grünen beklagen, dass Hunderttausende Kinder wegen voreiliger Diagnosen mit Medikamenten wie Ritalin beruhigt werden. „Das Streben nach Leistung darf nicht durch Medikamente unterstützt werden“, sagte die CDU-Bundestagsabgeordnete Stefanie Vogelsang.

Widerspruch kam von der Mainzer Gesundheitsministerin Malu Dreyer (SPD): „Zu unterstellen, dass Hunderttausende Kinder fehldiagnostiziert werden, würde heißen, einem Großteil der Kinder- und Jugendpsychiater ihre fachärztliche Kompetenz abzusprechen. Diese Auffassung teile ich nicht“, sagte sie unserer Zeitung. Zwar sei es richtig, dass die häufige Diagnose ADHS „auch mit unserem modernen Lebensstil zusammenhängt“. Aber: „Die Kinder und ihre Eltern brauchen Hilfe. Aufgabe der Ärzte ist es, dieses Leiden zu beheben.“

Außerdem verweist Dreyer darauf, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte schon 2009 die Zulassung von MPH-Arzneimitteln verschärft hat. Die Behandlung mit dem Medikament setzt seitdem zum einen voraus, dass ADHS nach klaren Kriterien diagnostiziert wurde. Außerdem muss eine gewisse Schwere und Dauer vorliegen. Zum anderen müssen Behandlungsversuche mit anderen Therapieverfahren wie etwa Psychotherapie unternommen worden sein. Und tatsächlich ist die Zahl der verordneten MPH-Tagesdosen im Land zwischen 2010 und 2011 nahezu konstant geblieben.