Donezk

Zwei Jahre nach der prowestlichen Revolution ist die Ukraine ein zersplittertes Land: Der Alltag ist hart

Mitten in der Kampfzone Foto: dpa

Europas schlimmster Konflikt droht in Vergessenheit zu geraten. Im Osten der Ukraine wird weiterhin gekämpft – und das mehr als ein Jahr nach dem Abkommen, das doch den Frieden bringen sollte. Wie ist die Situation? Unser Autor beschreibt Begegnungen mit ukrainischen Soldaten und dem Separatistenführer Alexander Chodakowski. Und er schildert, wie die Menschen den Niedergang ihrer Heimat erleben.

Lesezeit: 6 Minuten
Anzeige

Von Friedemann Kohler

Die Soldaten: Bei Matschwetter kämpft es sich schlecht. In tiefem Schlamm halten ukrainische Soldaten ihre Stellung am zerstörten Flughafen von Donezk. Sie haben sich auf dem sogenannten Ameisenhügel verschanzt, einem 15 Meter hohen Erdwall. Stiefel rutschen auf dem nassen Dreckhaufen. Unten in den Bunkern regieren die Mäuse. „Wir schlafen in Sturmhauben, damit die Mäuse uns nicht beißen“, sagt Nikolai, ein Freiwilliger aus Uschhorod in der Westukraine. Die Viecher fressen, was ihnen vor die Zähne kommt. „Hier, selbst an meinem Funkgerät sind die Tasten angenagt.“

An diesem Morgen schieben eine Schulbibliothekarin, ein Möbelhändler, ein Musikstudent und ein Barmann Wache für die Ukraine. Sie spähen mit einem Periskop aus ihrer Deckung. 400 Meter entfernt jenseits der Landebahn haben sich die prorussischen Separatisten eingegraben. „Separy“ sagen die Ukrainer abfällig. „Ukropy“ schimpfen die Separatisten im Schützengraben über die anderen.

An kaum einer Stelle im Kriegsgebiet Ostukraine stehen sich beide Seiten so dicht gegenüber, es ist Europas schlimmster Krisenherd. Nirgendwo wird so viel geschossen wie an diesem Flughafen, meist nachts – zur Abwehr, zur Provokation, vielleicht auch aus Angst. Die Freiwilligen hieven schwere Kisten mit Munition über eine steile Treppe nach oben. Dabei herrscht offiziell Waffenruhe, es gelten seit mehr als einem Jahr die Vereinbarungen des Minsker Abkommens für eine Friedensregelung, das am 12. Februar 2015 unterzeichnet wurde.

Aus dem nahen Dorf Pisky sind tagsüber Maschinengewehrsalven zu hören. Es ist unklar, wer schießt. Pisky war einmal ein Nobelvorort der Millionenstadt Donezk mit prächtigen Villen. Nun rüttelt der Wind an geborstenen Blechdächern, ein gespenstischer Klang.

Der Barmann Nikolai kämpft seit mehr als einem halben Jahr gegen die von Russland unterstützten Separatisten. „Das ist unser Land“, sagt er. „Wenn die Russen abziehen, dann räumen wir hier schnell auf.“ Die Bibliothekarin Julia ist seit einem Jahr an der Front, ebenso der Musikstudent Wassili, Tarnname „Skripka“ (Geige). Sie gehören zum Freiwilligenbataillon „Karpatska Sitsch“, benannt nach den Karpaten im Westen des Landes. Mittlerweile untersteht das Bataillon der 93. Brigade der ukrainischen Armee. Deren reguläre Einheiten mit schweren Waffen liegen weit hinter der Front.

„Ich bin hier, weil ich möchte, dass die Ukraine enger an Europa rückt“, sagt Taras, Deckname „Riks“, Möbelhändler aus Dnipropetrowsk. Wie seine Kameraden auf dem Ameisenhügel hofft er auf den Befehl zum Angriff, auf einen Sieg über die Separatisten. „Entweder wir gehen das bis zum Ende, oder der Konflikt friert hier auf Jahrzehnte ein.“

Die Gefahr eines Dauerkonflikts ist groß. Und doch dürfte es besser sein, wenn der Befehl aus Kiew zum Generalangriff ausbleibt. Der Krieg währt fast zwei Jahre. Im Frühjahr 2014 erklärten Separatisten die Abspaltung des Ostens von der Ukraine, riefen die Volksrepubliken Donezk und Luhansk aus, bekamen verdeckt Waffen und Soldaten aus Russland. Seitdem sind 9000 Menschen getötet worden. Moskau hat immer militärisch nachgelegt, sowie die Ukrainer die Oberhand bekamen.

Die Minsker Vereinbarungen vom Februar 2015 haben das schlimmste Blutvergießen gestoppt. Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande hatten damals vermittelt. Doch Frieden bringt das Abkommen nicht, weil die Gewalt nicht völlig aufhört.

Der Park der Kinder: Auf der anderen Seite, im Zentrum der rauen Bergarbeiterstadt Donezk, lassen Eltern ihre Kinder gern im Skulpturenpark spielen. Die Kleinen freuen sich über geschmiedete Märchenfiguren. Ein Mann, ein Vater von Anfang 40, sieht zu, wie sein kleiner Nikita (2) auf eine Spiellokomotive klettert.

Kurz zuvor gab es noch Artilleriefeuer am Stadtrand. Doch mit zwei Jahren Kriegserfahrung im Ohr haben die Donezker gleich gehört, dass die Schüsse nicht ihnen galten. Wie erklärt man einem Kind diesen Donner? „Du belügst das Kind und sagst, das ist ein Gewitter“, erzählt Nikitas Vater. „Und erst den älteren Kindern, die mehr verstehen, sagt man die Wahrheit.“

Seinen Namen oder Beruf („Staatsangestellter“) will der misstrauische Mann wie viele andere in Donezk nicht nennen. In der sogenannten Volksrepublik herrscht Kriegsrecht. Anfang Februar hat die örtliche Staatssicherheit mehrere Mitarbeiter der Donezker Hilfsorganisation „Verantwortliche Bürger“ ausgewiesen wegen Kontakten zu ausländischen Nichtregierungsorganisationen und Medien. Der Vorwurf der Spionage steht im Raum.

Der Vater muss am helllichten Tag selbst die Runde mit Nikita drehen. „Wir haben Angst, ihn in den Kindergarten zu geben.“ Denn er ist überzeugt, dass die Ukrainer nicht auf Soldaten, sondern auf die Infrastruktur zielen – auf Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Heizwerke. „Die Ukraine schießt auf ihre Kinder“, sagt er und folgert: „Unsere einzige Hoffnung ist Russland.“

Die Dichterin: Der Verfall von Donezk, der einst fünftgrößten Stadt der Ukraine, ist bitter. Zur Fußballeuropameisterschaft 2012 hatte sich die Grubenstadt modernisiert und einen Hauch Leichtigkeit zugelegt. Nun sind nicht nur die frontnahen Außenbezirke zerstört; im Zentrum herrscht Stillstand auf den Baustellen, Läden sind mit Brettern verrammelt, Geldautomaten abgeschaltet. Die Donbass-Arena, das hypermoderne Fußballstadion wie von einem anderen Stern, steht leer. Im Fanshop des Klubs Schachtjor bekommen verarmte Bürger humanitäre Hilfe, gestiftet vom örtlichen Oligarchen Rinat Achmetow.

Den Niedergang ihrer Heimat spürt auch die Dichterin Anna Rewjakina. „Meine Stadt. Sei. Bitte. Vorsichtig“, schreibt sie in ihrer poetischen „Chronik der Stadt Do“, die bereits zwei Bände hat. Rewjakina ist ein eher kapriziöses Wesen, 32 Jahre alt und schon Vize-Dekanin der Erziehungsfakultät an der Universität von Donezk.

Die Stadt sei nie ein kulturelles oder literarisches Zentrum gewesen, sagt sie. Doch Donezk ist ihre Quelle der Inspiration. „In einer anderen Stadt, Berlin oder Moskau, könnte ich nicht so schreiben.“ In ihrer Wahrnehmung hat der Krieg ausgelöscht, was vorher war. In der Gefahr seien die Menschen enger zusammengerückt, sagt sie. „Man spürt den Atem des Todes.“

Als eine von wenigen in Donezk spricht Rewjakina tatsächlich von der Republik, doch zu ernst will sie das nicht nehmen: „Meine Liebe zu Donezk ist tiefer als die zu irgendeinem staatlichen Gebilde, das sich über Donezk erhebt.“ Trotzdem bereitet ihr die isolierte Volksrepublik Probleme. Die Diplome ihrer Studenten werden nirgends anerkannt, nur Russland will sie akzeptieren. Ärger droht Rewjakina auch mit den Ausweispapieren: „Bald laufen mein ukrainischer Pass und mein Schengen-Visum ab, dann kann ich nur noch ins nächste Dorf fahren.“

Der Separatistenführer: Wann Frieden kommt, kann auch Alexander Chodakowski nicht sagen, Sekretär des Sicherheitsrates der Volksrepublik. Wer ihn in seinem Büro am Lenin-Platz besucht, ahnt, dass darüber nicht in Donezk, Kiew oder am Verhandlungstisch in Minsk entschieden wird.

An der Wand hängt ein schlechtes Ölgemälde der Basilius-Kathedrale in Moskau. „Ein Geschenk“, sagt Chodakowski – offenbar von einem Geber, den man nicht brüskieren darf. Daneben: Ein 2016er-Kalender der Eingreiftruppe Alfa des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB. Früher hat Chodakowski das ukrainische Gegenstück zur Alfa kommandiert, dann schloss er sich dem Aufstand gegen die Ukraine an.

Er geht mögliche Entwicklungen durch. „Wir würden gern ganz zu Russland gehören, aber dafür muss der Wunsch zumindest gegenseitig sein.“ Doch einen Anschluss wie bei der Halbinsel Krim plant der Kreml offenbar nicht, selbst wenn Moskau seit Herbst 2015 für Renten- und Gehaltszahlungen im Donbass sorgt. Die örtliche Wirtschaft hat weitgehend von der ukrainischen Griwna auf Rubel umgestellt.

Eine Rückkehr zur Ukraine zu alten Bedingungen schließt Chodakowski nach zwei Jahren bitterem Krieg aus. Als zweitschlechteste Variante sieht er einen eingefrorenen Konflikt. Derzeit zeige Moskau aber Anzeichen – so setzt er gewunden an – dem Minsk-Format zum Erfolg zu verhelfen und bestimmte Interessen der Ukraine zu berücksichtigen. Dem müssten die Separatistengebiete als Verbündete Russlands folgen.

Im Klartext: Verbleib bei der Ukraine mit einem Sonderstatus. Das steht so in den Minsker Vereinbarungen. Allerdings hat der ukrainische Präsident Petro Poroschenko Probleme, dies durch sein Parlament zu bringen. Ein kleines Extra erhofft sich Chodakowski: „Die Territorien könnten sich zu einer Freihandelszone entwickeln.“

Das zerstörte Dorf: Opytne heißt das letzte ukrainisch kontrollierte Dorf vor dem Donezker Flughafen. Am Horizont sieht man die Ruine des zerstörten Terminals, einer Hölle aus zerbombtem Stahl und Beton. „Poroschenko hat doch etwas unterschrieben, trotzdem wird noch jeden Tag geschossen“, ereifert sich eine alte Frau.

Alle Häuser im Dorf sind kaputt. Dächer, Wände, Fenster, Türen – zerschossen. Es gibt keinen Strom, kein Gas, kein Wasser. Trotzdem harren einige Dutzend Bewohner in den Trümmern aus. „Wohin soll ich denn gehen?“, fragt eine alte Frau namens Raissa. Und sie stimmt eine fast biblische Klage an: Wie sie beschossen wurde, als sie die Kuh melken wollte; wie ihre Hütte getroffen und ihr Mann verletzt wurde. „Und ich blieb allein zurück, um das Haus zu reparieren“, seufzt sie. Manchmal bringt eine Sondereinheit der ukrainischen Armee Hilfsgüter ins Dorf, gespendet unter anderem von der Diakonie in Deutschland. Es ist eine der wenigen Aktionen der Ukraine, die geplagte Bevölkerung des Donbass für sich zu gewinnen.

Im vordersten Gefechtsstand schiebt ein junger Ukrainer Wache, wobei Gefechtsstand ein großes Wort ist für das Sammelsurium aus Kisten, Sandsäcken und Segeltuch. Der 20 Jahre alte Schlosser kommt aus Pawlohrad im Westen des Donbass. Bevor er zwangsweise einberufen wurde, hat er sich lieber für drei Jahre zur Armee verpflichtet. Was sagt seine Familie dazu? „Natürlich habe ich gelogen, dass ich in der Kaserne sein werde, dass ich nirgendwohin gehe.“

Zu den Feinden auf der anderen Seite sagt er: „Es gibt aggressive Leute, es gibt normale.“ Und dann erzählt er, wie er im Internet auf einen Freiwilligen der Separatisten gestoßen ist. Der Mann aus Makijiwka saß im Schützengraben gegenüber. „Der hieß genauso wie ich.“ Die zwei telefonierten miteinander, wobei sie „die Arbeit“ – den Krieg – ausklammerten. „Vor Kurzem hat er eine Tochter bekommen.“