Berlin/Unkel

Würdigung: Willy Brandt, der Vordenker und Aussöhner

Am 18. Dezember wäre Willy Brandt 100 Jahre alt geworden. Der langjährige Vordenker der SPD könnte heute in der Partei nicht präsenter sein. Seinen Anspruch „mehr Demokratie wagen“ haben Genossen beim Mitgliederentscheid immer wieder beschworen, nicht nur Mitglieder seiner Enkel-Generation, die er fasziniert und politisiert hat, für die er auch nach der Kanzlerzeit ein wichtiger Kompass als Vorsitzender geblieben ist.

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Von unserer Redakteurin Ursula Samary

Wenn sich Deutsche an Brandt erinnern, denken sie an einen Politiker, der umjubelt und wie eine Ikone verehrt, aber auch bekämpft und verraten wurde, mitten im Spionagetriller des Kalten Kriegs (Guillaume-Affäre) auch noch als Lockvogel dienen musste. Willy Brandt, der als Emigrant für viele Nachkriegsdeutsche lange Zeit der andere Deutsche ist, hat als Regierender Bürgermeister von Westberlin, Außenminister der Großen Koalition und Kanzler Deutschland verändert – nicht nur mit seiner Ostpolitik, die der Berliner Mauer erste Risse zusetzte.

Zeitzeugen haben Fotos vom Friedensnobelpreisträger oder dem Erfurter „Willy, Willy“-Empfang vor Augen. Besonders eingeprägt aber hat sich der Kniefall: Der von Nazis verfolgte Brandt gedenkt am Ehrenmal der Helden des Gettos in Warschau der Opfer der Nazis in einer um Vergebung bittenden Geste. Der Kniefall des Kanzlers symbolisiert aussöhnend auch die Verantwortung von Deutschen für das von Deutschen begangene Grauen.

Dass der 1992 im Rheinstädtchen Unkel gestorbene Brandt einmal zur Jahrhundertfigur wird, gilt in seiner Zeit als Wunder: Er wird 1913 in eine zerrissene Lübecker Familie geboren – als Herbert Ernst Karl Frahm, unehelicher Sohn einer Verkäuferin. Die Arbeiterbewegung wird zur Ersatzfamilie. Als Mitglied einer linken Abspaltung der SPD flüchtet er 1933 vor der Nazi-Diktatur nach Oslo.

Unter dem später weltweit bekannten Decknamen Willy Brandt erfindet er sich selbst – und wird doch in sich zerrissen bleiben. In Skandinavien arbeitet das Sprachtalent für Zeitungen und im Widerstand, informiert Alliierte früh über Konzentrationslager, ohne dass – wie erhofft – Eisenbahnlinien nach Auschwitz zerbombt werden. Als Beobachter der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse kehrt Brandt 1945 zurück, erlebt 1947 als Presseattaché der Norwegischen Militärmission das zerstörte Berlin.

Schnell reift der Entschluss, den er seiner damals siebenjährigen, norwegischen Tochter Ninja so erklärt: „Ich muss jetzt für dasjenige von meinen beiden Vaterländern arbeiten, das es schwer hat und meine Hilfe braucht.“ Er nimmt dem Kind die Angst vor neuen deutschen Angriffen. Später wird er als Kanzler erklären: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein.“ Brandt zieht in den ersten Bundestag ein, wird 1957 Berlins Regierender Bürgermeister. Als New York 1957 den Bürgermeister der Frontstadt mit einer Konfettiparade feiert, denkt Brandt in einem Interview die spätere, mit dem Vertrauten Egon Bahr entwickelte, Ostpolitik vor: Das Berlin-Problem und die deutsche Frage könnten nicht isoliert betrachtet werden.

Es sei auch eine Frage der europäischen Sicherheit. „Er hatte Ziele – und an denen arbeitete er konsequent“, erinnert sich sein späterer Büroleiter Klaus-Henning Rosen in Rheinbreitbach. „Er war ein Pragmatiker, der wusste, was er wollte, wohin er wollte und dann die kleinen Schritte dahin genau berechnete“, sagt Ex- Minister Erhard Eppler. Brandt ist im Ausland hoch geachtet, wird 1961 Kanzlerkandidat mit smartem deutschen Kennedy- Image und neuem Wahlkampfstil.

Die Union demütigt ihn. Kanzler Konrad Adenauer (CDU) spricht von „Brandt alias Frahm“. Franz Josef Strauß (CSU) fragt: „Was haben Sie zwölf Jahre draußen gemacht?“ Unehelichkeit, Exil, Widerstand – in der Psychose der Nachkriegsdeutschen gilt dies als Makel. Aber Brandt hat einen langen Atem. Er drängt nach dem Mauerbau 1961 US-Präsident John F. Kennedy zum Handeln.

Als der zögert, versteht Brandt die Lektion – als Motivation, Entspannungspolitik vorzudenken und pragmatisch zu handeln: Er kann der DDR Passierscheine abringen. Brandts Zeit kommt, als die Adenauer- Ära endet, die Jugend rebelliert. Eigentlich will er sich nach zwei gescheiterten Kanzlerkandidaturen schon aus der Bundespolitik verabschieden, als 1966 plötzlich die Große Koalition gebildet wird – mit Juniorpartner SPD und einem Außenminister Willy Brandt.

In den 60er-Jahren wird er – wie der zu den politischen Brandt-Enkeln gehörende Rudolf Scharping erlebte – zum Hoffnungsträger der neuen Generation „in einem vermufften Land“. Brandt verkörpert den Aufbruch. Er macht Mut, „geprägt von kluger Weitsicht und Wirklichkeitssinn“, ein modernes und liberales Deutschland zu gestalten – mit großem Freiheits- und Friedenswillen.

Die große Chance ergreift er, als die SPD 1969 deutlich zulegt. Brandt, oft als Zauderer kritisiert, macht noch in der Wahlnacht Nägel mit Köpfen: Er wird Kanzler einer sozialliberalen Koalition, will mit Außenminister Walter Scheel (FDP) – Vertrag für Vertrag – seine Ost- und Entspannungspolitik „Wandel durch Annäherung“ umsetzen, die vor ihm keiner gewagt hat.

Die Union bekämpft dies, auch mit einem (gescheiterten) Misstrauensvotum. Am Ende des Lebens, das der Altkanzler in Unkel verbringt, ist es der Einheitskanzler Helmut Kohl (CDU), der den lange von der Union angefeindeten Willy Brandt als deutschen Patrioten ehrt, der Deutschland vereinigen wollte. In vielen Feierstunden zum 100. Geburtstag wird Willy Brandts gedacht, in Lübeck, Berlin oder auch in Unkel. Brigitte Seebacher, seine dritte Frau, begleitet die ehrenden Reden mit diesen Gedanken: „Der Zustrom zu den Veranstaltungen ist, landauf, landab, in kleinen wie in großen Orten, gewaltig und die Zahl der Ehrbezeugungen unübersehbar.

Warum? Willy Brandt weckt die Fantasie. Sein Leben war reich und nicht leicht auf einen Nenner zu bringen. Der Zauber, der von ihm ausging und so lange nach seinem Tod immer noch ausgeht, gründet in dem Geheimnis seiner Persönlichkeit. In der Spannung zwischen öffentlichem Wirken und innerer Unanfechtbarkeit. Er übersah Fehler oder Fehlverhalten eines Dritten eher, anstatt ihn zur Rechenschaft zu ziehen.

Der Politik hatte er sich verschrieben, von früher Jugend bis ans Ende seiner Tage. Die Politik war sein Leben. Mit und auch ohne Amt, auf vielen und vielen verschiedenen Gebieten und dabei scheinbare Gegensätze vereinigend – Stolz und Scham, Kniefall und erhobenes Haupt, Nation und Europa und Globalisierung. Der Bundespräsident hat Willy Brandt gewürdigt, wie ihn nur einer wie er würdigen kann. In der Fülle der Ereignisse hat Joachim Gauck die eine Kraft ausgemacht, der Willy Brandt verpflichtet war – Freiheit.“