„Warteraum 5000“ in Erding: Angekommen und abgeschleust

Erst Stacheldraht, dann Sicherheitskontrollen, dann Soldaten in Tarnuniform vor Betonbunkern: So kann die Freiheit aussehen. Im bayerischen Erding in der Nähe von München kamen bis vor wenigen Wochen täglich etwa 1000 Flüchtlinge im „Warteraum 5000“ an, aufgelesen wurden sie im Regelfall an den deutsch-österreichischen Grenzübergängen. Dort werden sie in Reisebusse gebracht und dann nach Erding gefahren. Wer es in den Bundeswehr-Fliegerhorst, auf dessen Gelände sich die Sammelstelle für Schutzsuchende befindet, geschafft hat, ist endlich in Sicherheit und am Ziel. Mehr oder weniger.

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In Fahrtrichtung Osten kommt man in der Großen Kreisstadt Erding mit ihren 34.000 ständigen Einwohnern zunächst an der Brauerei vorbei, die das bekannte Weißbier herstellt. Fährt man weiter durch das Städtchen, bemerkt man kurz vor dem Ortsausgang am Straßenrand die ersten Schilder auf Arabisch – ein ungewöhnlicher Anblick in einem weiß-blauen Kleinstadtidyll. Dann geht es raus aus der Stadt und durch sanft hügelige Felder. Und dort sieht man sie zum ersten Mal, rechts und links der Landstraße.

Die Hälfte der Flüchtlinge sind Kinder

Flüchtlinge, zu Fuß unterwegs, meist in kleineren Gruppen, einige haben auf dem einen Arm ihr Baby, in der anderen Hand tragen sie das, was ihnen geblieben ist. Meist passt es in eine Plastiktüte oder einen Rucksack. Auffällig viele Kinder sind dabei. „Im Moment ist etwa die Hälfte derer, die hier ankommen, jünger als 14 Jahre“, sagt Stefan Sturm. Sturm, ein großer, stabil wirkender Mann, ist Leiter des „Warteraums 5000“. Genauer: Leiter des Betreuungseinsatzes des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) auf dem bayerischen Fliegerhorst.

Eigentlich ist Sturm Mitglied des DRK-Rettungsdiensts Rheinhessen-Nahe und Sanitäter auf der Wache in Mainz. Sturm war für das DRK bereits einige Male bei Katastropheneinsätzen im Ausland unterwegs. „Im September bekam ich per Anruf mitgeteilt, dass hier in Erding ein großes Camp eingerichtet wird. Ich habe sofort zugesagt zu helfen, denn im Rettungsdienst Rheinhessen-Nahe gibt es eine lange Tradition, das DRK bei Großeinsätzen zu unterstützen. Und der fühle ich mich verpflichtet“, erinnert sich Sturm.

Am 19. Oktober wurde der „Warteraum 5000“ in Betrieb genommen, dem vorangegangen waren vier Wochen, in denen insgesamt 18 Shelter auf- und umgebaut und eingerichtet werden mussten. Als Shelter werden die Unterkünfte für die Schutzsuchenden bezeichnet, darunter sind auch vier gigantische Zelte, wie sie normalerweise auf Volksfesten stehen.

„Good Germany! Good Merkel!“ Das ist der komplette Englisch-Wortschatz dieser Familie aus Syrien, die kurz vor ihrer Weiterreise in irgendein Bundesland steht. Wohin sie kommen, wissen sie nicht.
Foto: Dominic Schreiner

Teilweise schlafen Flüchtlinge in den halbrunden Betonbunkern, in denen die Bundeswehr noch bis 2015 Flugzeuge parkte und wartete, acht Menschen in Doppelstockbetten auf etwa 14 Quadratmetern. „Da standen bis vor Kurzem noch die Witwenmacher drin, also Kampfflugzeuge vom Typ Phantom oder Starfighter. Das ist alles ein wenig unwirklich“, sagt Sturm und runzelt die Stirn. Seit gut vier Monaten ist das Camp jetzt – statt Zuhause für Witwenmacher – Durchlaufstation für Flüchtlinge, mehr als 100.000 Menschen waren es seitdem, die in Erding im Idealfall einen, im Extremfall drei Tage vor der „Abschleusung“, wie die Weiterverteilung auf die Bundesländer dort – gewürzt mit einem Schuss Militärsprech – genannt wird, verbracht haben.

„Im Moment sind es bis zu 95 Prozent Syrer, die hier ankommen“, sagt Sturm. Insgesamt sind allein im Januar knapp 36.000 Flüchtlinge aus Syrien in Deutschland angekommen. Außerdem gebe es ein paar wenige Nordafrikaner und ein paar wenige Menschen aus dem Irak und Afghanistan unter den Neuankömmlingen. Ende 2015 war der Anteil der Nordafrikaner noch etwas höher. Dann tritt Sturm noch einem Vorurteil entgegen: „Es sind nur ganz wenige Menschen aus den Balkanstaaten dabei – ganz im Gegenteil zu dem, was immer behauptet wird.“

Die Irakerin Kawther al-Asadi ist an diesem Tag gerade angekommen. Gemeinsam mit ihren drei Kindern hat sie sich drei Wochen vorher in Basra auf den Weg gemacht. Ihre Fluchtgeschichte ähnelt der von Tausenden anderer Flüchtlinge: erst in die Türkei, dann nach Griechenland mit dem Schlauchboot, unterwegs soll die türkische Marine vergeblich versucht haben, das Boot aufzuhalten. Dann ging es für die Familie weiter über Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich – die berüchtigte Balkanroute.

Flucht nach Mord auf offener Straße

Geflohen sind die vier, weil Abdullah, Kawthers Sohn aus erster Ehe, Sunnit ist. In Basra aber gehören die meisten Menschen der islamischen Strömung der Schiiten an. Die Religionsgemeinschaften leben in uralter Feindschaft. Irgendwann fingen Schiiten an, Abdullah zu bedrohen. Kawther begann in diesem Moment, ihre gemeinsame Flucht zu planen. Doch ihre Eltern, bei denen sie mit den drei erwachsenen Kindern zusammen in einem Zimmer lebte, wollten sie nicht gehen lassen. Als Abdullahs bester Freund, wie er ein Sunnit, auf offener Straße erschossen wurde, konnte sie nichts und niemand mehr in Basra halten.

Jetzt sitzt die Familie in dem Bereich des Camps, wo das BAMF die Flüchtlinge in winzigen Containern registriert: Ein Soldat gibt ihnen Anweisungen, die von einem Dolmetscher auf Kurdisch übersetzt werden. Ein weiterer Soldat gibt ihre persönlichen Angaben aus ihren Pässen in ein digitales Registrierungssystem ein, nach und nach stellen sie sich vor eine der weißen Kunststoffwände, Fotos werden von ihnen gemacht. Dann müssen alle vier ihre sämtlichen Finger auf einen Scanner legen, der ihre Abdrücke registriert. Registrierung beendet. Diese Daten stehen ab sofort auf dem Zentralrechner der BAMF-Behörden bundesweit zur Verfügung.

Der Erdinger Campleiter Stefan Sturm (r), Mitarbeiter im DRK-Rettungsdienst Rheinhessen-Nahe
Der Erdinger Campleiter Stefan Sturm (r), Mitarbeiter im DRK-Rettungsdienst Rheinhessen-Nahe
Foto: dom

„Seit ein paar Wochen haben wir hier keine Flüchtlinge mehr, die sich nicht registrieren lassen“, sagt Campleiter Sturm. Vorher habe sich etwa jeder Zehnte verweigert. Es muss sich im Internet unter den Fluchtwilligen verbreitet haben, dass diejenigen, die sich nicht registrieren lassen oder keinen Asylantrag stellen wollen, zumindest theoretisch sofort wieder abgeschoben werden können. Zumindest vermuten das die Helfer vom DRK.

Wenn Kawther erzählt, kann auch der Dolmetscher, der ihre Geschichte übersetzt, sie nur schlecht verstehen. Kawther ist heiser, sie macht einen erschöpften Eindruck, auch Abdullah lehnt apathisch auf seinem Holzstuhl, Kawthers Tochter Sara hustet. „Die Flüchtlinge kommen in einem ziemlich desolaten Gesundheitszustand hier an“, sagt der Soldat, der den Registrierungsprozess steuert, mitleidig. „Es gibt hier nichts, was es nicht gibt, da können Sie sich sicher sein“, fügt die Leiterin des DRK-Pflegedienstes im Camp an – im internationalen Katastropheneinsatzmodus des DRK trägt sie den Titel Head Nurse, das versteht man rund um den Globus schon eher als ihren deutschen Dienstgrad.

Ihren Namen möchte die Frau nicht in der Zeitung lesen: „Ich wohne hier in der Nähe“, lautet ihre Begründung. Zwar hat sich in der Umgebung des Camps kurz nach Bekanntwerden der Pläne für den Warteraum ein ehrenamtlicher Unterstützungskreis gebildet, 300 Menschen engagieren sich inzwischen für die Flüchtlingshilfe Erding, doch es gibt auch andere Stimmen – vor allem in den kleineren Dörfern im näheren Umkreis um den Fliegerhorst -, die mit den üblichen Angstszenarien Stimmung gegen Flüchtlinge machen.

Ein Zug nach irgendwo

Die Schutzsuchenden, für die das Drehkreuz Erding nur eine kurze Zwischenstation auf ihrem langen Weg in ein sicheres Leben ist, haben von dieser Nichtwillkommenskultur aber keine Ahnung, dafür ist ihr Aufenthalt im „Warteraum 5000“ einfach zu kurz. Ebenso wenig Ahnung haben die Flüchtlinge allerdings auch vom vorübergehenden endgültigen Ziel ihrer Reise. Denn niemand, weder die Soldaten, die sie auf ihre Weiterreise schicken, noch die Helfer des DRK wissen, in welchem Bundesland die Menschen landen, haben sie erst den Bus zum Bahnhof in Freilassing oder Rosenheim bestiegen, in dem der Sonderzug wartet. Das weiß auch niemand in der für die Verteilung der Flüchtlinge zuständigen zentralen Koordinierungsstelle in München – bis zu dem Moment, in dem sich der Zug in Bewegung setzt.

Denn in München laufen ständig die aktuellen Belegungszahlen der Flüchtlingscamps in den verschiedenen Bundesländern ein: 200 weniger in Ingelheim? Dann fährt der Zug eben in die Stadt am Rhein. Das erklärt auch die Gruppen von Flüchtlingen am Rande der Landstraße nach Erding. Viele wissen, wohin sie wollen, haben Verwandte, die schon in Deutschland leben und die sie aufnehmen wollen. Diese Menschen wollen sich nicht „abschleusen“ lassen. Und machen sich lieber zu Fuß auf die letzten Meter ihrer Reise. Und kein Stacheldraht, keine Sicherheitskontrolle und auch kein Militär in Uniform kann sie dann noch aufhalten.