Theresa May: Freihandel auch ohne Binnenmarkt

Bis Ende März will Premierministerin Theresa May Brüssel über den Austrittswunsch ihres Landes offiziell informieren.
Bis Ende März will Premierministerin Theresa May Brüssel über den Austrittswunsch ihres Landes offiziell informieren. Foto: dpa

Nach der Rede der britischen Premierministerin Theresa May ist klar: Großbritannien will sich nicht nur von der EU, sondern auch vom gemeinsamen Binnenmarkt verabschieden. Wie geht es dann wirtschaftlich weiter? Ein Gespräch mit Jürgen Matthes, Brexit-Experte des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.

Lesezeit: 4 Minuten
Anzeige

Theresa Mays Rede vergangene Woche wurde von vielen als Ankündigung eines harten Brexit im Sinne eines Abschieds vom Freihandel verstanden. Richtig so?

Es wird mit dem Austritt aus dem EU-Binnenmarkt sicher kein ganz weicher Brexit. Aber Premierministerin May strebt ein umfassendes Freihandelsabkommen mit der EU an. Falls das klappt, wird es wohl ein mittelharter Brexit.

Was wäre denn ein harter Brexit?

Wenn die Verhandlungen über ein Abkommen scheitern, wird Großbritannien auf den Status eines einfachen Mitglieds der Welthandelsorganisation (WTO) zurückgeworfen. Dann werden im Warenverkehr Zölle eingeführt, der Handel läuft auf derselben Basis wie etwa mit den USA. Die halten viele für verbesserungswürdig, genau deshalb wurde ja über das Freihandelsabkommen TTIP zwischen EU und USA verhandelt.

Von den vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes würde May drei gern behalten: freien Waren- und Kapitalverkehr sowie die Freiheit der Dienstleistungen. Nur die Freizügigkeit der Arbeitnehmer stört. Ist es vernünftig, deshalb ganz auf den Binnenmarkt zu verzichten?

Die Briten würden natürlich sehr gern die Zuwanderung einschränken und gleichzeitig Mitglied des Binnenmarkts bleiben. Aber das ist eine Tür, die Brüssel noch nicht mal einen Spalt breit geöffnet hat: Die vier Freiheiten gehören zusammen. London hat zwar seine Fühler in Richtung einzelner Mitgliedstaaten ausgestreckt, doch die haben ihre einheitliche Position beibehalten. Das hat May nun akzeptiert.

May will ein „umfassendes und ehrgeiziges“ Freihandelsabkommen mit der EU. Ist die Bereitschaft auf der Gegenseite dazu da?

Dazu gibt es noch keine klaren Positionierungen. Aber für die deutschen Unternehmen etwa ist der britische Markt schon wichtig. Es kann keiner ein Interesse daran haben, Zölle einzuführen und den Handel unnötig zu erschweren.

Falls das Abkommen zustande kommt: Bleiben die Folgen für Großbritannien dann überschaubar?

Das kommt darauf an, wie umfassend es angelegt ist. Wenn es sich auf Zollfreiheit konzentriert, aber sich nicht allzu sehr in den Bereich Dienstleistungen erstreckt – wovon wir ausgehen –, wird der Schaden für die britische Wirtschaft durchaus noch beträchtlich sein. Die britische Regierung selbst schätzt, dass die Wirtschaftsleistung auch mit einem Freihandelsabkommen in den nächsten 15 Jahren um 6,5 Prozent zurückgeht.

Liegt das hauptsächlich am erschwerten Zugang der britischen Banken zum EU-Finanzmarkt?

Das ist ein Hauptproblem, aber es trifft auch andere Dienstleister. Hinzu kommt: Wenn Großbritannien wie geplant aus der Zollunion austritt, wird es wieder sogenannte Ursprungsregeln geben. Zollvergünstigungen für britische Waren, die in die EU eingeführt werden, gelten dann nur für Produkte, die auch überwiegend in Großbritannien hergestellt sind – und nicht etwa für chinesische, die von einem britischen Händler importiert und dann auf den EU-Markt weitergeleitet werden. Um das unterscheiden zu können, sind Zollverfahren nötig, und das erhöht die Kosten im Handel.

Falls kein Abkommen zustande kommt: Folgt dann der Steuerkrieg?

Die Frage ist, wie weit sich das Vereinigte Königreich eine Steuerdumping-Strategie überhaupt leisten kann. Ein aggressives Absenken der Unternehmensteuern könnte schlicht zu teuer werden. Großbritannien hat derzeit ein laufendes Staatsdefizit von mehr als 3 Prozent. Wenn sich die Brexit-Schäden über die nächsten Jahre immer deutlicher zeigen, dürften die Steuereinnahmen ohnehin nicht mehr so fließen wie bisher. Eine starke Steuersenkung wäre da finanziell schwer verkraftbar.

In einem Abkommen müsste London einige Regulierungen der EU akzeptieren – also doch wieder ein „Diktat“ aus Brüssel?

Der Begriff könnte eine polemische Formulierung der Brexit-Befürworter sein. Ich finde ihn wenig hilfreich. Nehmen wir das Abkommen der EU mit der Schweiz: Darin wird Schweizer Unternehmen erlaubt, Waren in bestimmten Produktgruppen in den EU-Binnenmarkt zu exportieren, ohne dass sie dort neu zertifiziert werden müssen. Das Zulassungsverfahren in der Schweiz reicht aus. Dieses Zugeständnis hat die EU aber nur auf der Basis gemacht, dass die Schweiz freiwillig die Produktstandards mit der EU harmonisiert, also angleicht. Ein Diktat ist das nicht. Großbritannien könnte also sagen: In dieser Produktgruppe sind mir die Standards zu strikt. Dann würde die EU dort die Handelskosten sparende gegenseitige Anerkennung von Zulassungsverfahren eben aussetzen.

Ökonom Jürgen Matthes skizziert mögliche Wege für London.
Ökonom Jürgen Matthes skizziert mögliche Wege für London.
Foto: IW

Also Freihandel in manchen Teilbereichen, in anderen nicht?

Ja, London will auf Sektorbasis verhandeln. Bei der Zollfreiheit ist das zwar undenkbar, weil die WTO vorgibt, dass dort „nahezu aller Handel“ abgedeckt sein muss. Aber bei den Zulassungsverfahren sind sektorspezifische Regeln möglich. Bei den Finanzdienstleistungen – und dort liegen die Stärken der Briten – gibt es allerdings größere Hindernisse. Da hat die EU in bisherigen Abkommen nur wenige Zugeständnisse gemacht. Aber am Ende ist alles Verhandlungssache.

Heute will Theresa May mit Donald Trump in Washington über ein Handelsabkommen sprechen. Wendet sich die Insel jetzt verstärkt der „Neuen Welt“ zu?

Ja, natürlich. May hat gesagt, sie will der EU nicht schaden. Doch zumindest ökonomisch hat sich London schon ein Stück weit zurückgezogen. Das Vereinigte Königreich will globaler werden. Zu dieser Strategie passt es, dass London die Fühler zum größten Partner außerhalb der EU ausstreckt. Dass Donald Trump nun US-Präsident ist, hilft den Briten. Barack Obama hatte London signalisiert, dass es sich hinten anstellen muss bei Freihandelsgesprächen. Trump scheint Großbritannien eher nach vorn zu rücken. Ganz schnelle Verhandlungserfolge sind aber auch nicht zu erwarten – wie komplex so etwas ist, hat TTIP gezeigt.

Das Gespräch führte Jörg Hilpert

Britische Wirtschaft zeigt noch keine Bremsspuren

Noch ist alles gut: Die Wirtschaft Großbritanniens zeigt trotz des angestrebten Ausscheidens aus der EU und dem gemeinsamen Binnenmarkt bisher keine Anzeichen von Schwäche. Im vierten Quartal 2016 wuchs die Wirtschaftsleistung nach Angaben des nationalen Statistikamts ONS um 0,6 Prozent, verglichen mit dem Vorquartal. Der Zuwachs liegt sogar etwas über den Erwartungen von Analysten und folgt auf ein Wachstum in gleicher Größenordnung im dritten Quartal.

Befürchtungen, das Brexit-Votum vom vergangenen Sommer könnte die britische Wirtschaft in einen Schockzustand versetzen, haben sich also bisher nicht bewahrheitet – wobei auch noch nicht einmal ein offizieller Austrittsantrag Londons vorliegt. Im Schlussquartal kam das Wachstum fast ausschließlich aus dem in Großbritannien besonders großen Dienstleistungssektor, zu dem die Finanzbranche zählt.

Meistgelesene Artikel