Straßen überlastet, Autofahrer genervt: Mehr Pendler – mehr Stress

Immer mehr Menschen pendeln 
zur Arbeit. Straßen sind überlastet, Autofahrer genervt. Ist die Pendlerpauschale überhaupt noch sinnvoll?
Immer mehr Menschen pendeln 
zur Arbeit. Straßen sind überlastet, Autofahrer genervt. Ist die Pendlerpauschale überhaupt noch sinnvoll? Foto: Fotolia

Globalisierung hat mitunter bizarre Folgen. In München arbeiten 23 Chinesen, die regelmäßig zur Arbeit pendeln – aber nicht etwa aus dem Umland, sondern aus der Heimat in Fernost. Die Asiaten sind nur vorübergehend an der Isar tätig, auf einen dauerhaften Wohnsitz dort verzichten sie.

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Berufspendler in Deutschland haben es nicht ganz so weit, doch viele legen trotzdem immer längere Strecken zurück. Der durchschnittliche Weg zur Arbeit ist von 2000 bis 2015 um 2,2 auf 16,8 Kilometer gestiegen, hat das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) auf Basis von Daten der Bundesagentur für Arbeit errechnet. Die Zahl der Berufspendler stieg bundesweit noch deutlicher – von 53 auf 60 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Die meisten Pendler gibt es der Auswertung zufolge in München, Frankfurt und Hamburg. Auf Platz vier folgt Berlin, wo die Zahl der Pendler seit 2000 um drastische 53 Prozent gestiegen ist. In Rheinland-Pfalz pendeln laut Statistischem Landesamt fast 74 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.

Die Pendelei und die damit verbundenen Staus tun jedoch weder den Menschen noch der Umwelt gut. Untersuchungen zeigen, „dass tägliche Pendelmobilität die körperliche und psychische Gesundheit der Erwerbstätigen gefährden kann“, sagt Simon Pfaff vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. Auch die ökologischen Folgen sind erheblich. In vielen Städten werden die zulässigen EU-Stickoxidwerte überschritten, die Kommunen denken über Fahrverbote nach.

Mobilitätsforscher wie der Berliner Stephan Rammler (siehe Interview) fordern auch deshalb, dass der Staat das Pendeln nicht noch steuerlich fördern soll. Die Pendlerpauschale von 30 Cent pro Kilometer, die Arbeitnehmer für den Weg vom Wohn- zum Arbeitsort als Werbungskosten absetzen können, gehöre abgeschafft. Die Pauschale bekommt zwar jeder, unabhängig davon, mit welchem Verkehrsmittel er oder sie sich bewegt. Doch Autofahrer profitieren davon stärker als Rad- oder Bahnfahrer, weil sie längere Strecken nachweisen können.

Die Pendlerpauschale ist ein Heiligtum, weil die Mehrheit der Arbeitnehmer davon profitiert. Kein Politiker wagt es heute, sie anzugreifen. Alle Anfragen unserer Redaktion blieben jedenfalls erfolglos. Es gibt kaum wahlentscheidendere Themen. Umso riskanter wären Forderungen nach einer Abschaffung. Zumal die Befürworter sich auf Auffassungen berufen können, die schon im frühen 20. Jahrhundert die Steuerdebatte prägten: Wer nicht zu seinem Arbeitsort kommt, verdient überhaupt kein Geld, also muss der Aufwand für die Fahrt zum Betrieb auch gegengerechnet werden können.

Das Verfassungsgericht unterstützte diese Sicht. Als der Gesetzgeber 2007 die Pauschale nur noch für Entfernungen ab dem 21. Kilometer zuließ, erzwang das höchste deutsche Gericht die Rückkehr zur generellen Anerkennung. Dafür fuhren die Richter große Geschütze auf. Sie nahmen das Gleichheitsgebot und entschieden, dass Berufsaufwendungen von abhängig Beschäftigten nicht anders behandelt werden dürften als die von Selbstständigen. Sie griffen zum Sozialstaatsgebot, weil wegen des Wegfalls der Entfernungspauschale Geringverdiener dann noch faktisch unter dem Existenzminimum besteuert wurden. Und sie bemühten sogar den staatlichen Schutz von Ehe und Familie.

Die Pendlerpauschale, sagt Thomas Puls vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, sei für Pendler „ein nettes Zubrot, aber die Grundentscheidung zu pendeln hängt von anderen Faktoren ab, zum Beispiel davon, wo der Partner wohnt und arbeitet“. Tatsächlich nennen Mobilitätsexperten eine Fülle von Gründen, warum das Pendeln so stark zugenommen hat: In Partnerschaften haben zunehmend beide einen Job, das verringert die Flexibilität von Paaren bei der Wohnortauswahl. Der Wohnraum in den Ballungsräumen ist für viele schlicht zu teuer geworden, sie flüchten ins preiswertere Umland. Befristete Jobs und flexiblere Einsatzorte führen dazu, dass der Wohn- dem Arbeitsort oft nicht mehr folgt. Auch die geringen Benzinpreise haben dazu geführt, dass Pendler wieder lieber ins Auto steigen.

Verkehrsprognosen verheißen nichts Gutes. Der innerstädtische Lieferverkehr werde wegen des wachsenden Onlinehandels weiter deutlich zunehmen, sagen Experten. Lösungswege werden diskutiert. E-Bikes und Lastenfahrräder könnten Straßen entlasten. Oder mehr Home-Office-Lösungen und flexiblere Bürozeiten helfen, die Rushhour zu entzerren, schlägt Puls vor. Am Ende aber wird sicher wieder die Pendlerpauschale ein Thema werden: Sie könnte bald nicht mehr in eine Zeit passen, in der der Klimawandel zunehmend Lebensgrundlagen zerstört.

Birgit Marschall/Gregor Mayntz

Rheinland-Pfalz ist ein Pendlerland

Das Statistische Landesamt geht davon aus, dass fast 74 Prozent der rund 1,5 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die in Rheinland-Pfalz wohnen, pendeln. Hier gilt als Pendler, wer mindestens eine Gemeindegrenze überschreitet. Mehr als 775.000 Menschen pendeln auch über Kreisgrenzen hinweg und rund 305.000 Pendler machen sich sogar auf den Weg in ein anderes Bundesland.

Die größte Zahl an Auspendlern hat der Kreis Mainz-Bingen. Mehr als 53.000 Menschen machen sich dort jeden Tag auf einen weiteren Weg zur Arbeit – vermutlich in die Landeshauptstadt Mainz und das Rhein-Main-Gebiet. Das Auto ist für die Pendler in Rheinland-Pfalz das meist genutzte Verkehrsmittel: Drei Viertel der Berufspendler gaben im Rahmen des jüngsten Mikrozensus 2012 an, mit dem Auto zu fahren. Schaut man genauer hin, sieht man, dass in den meisten Fahrzeugen nur ein Mensch sitzt – statistisch gesehen 1,2 Personen. ank
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