Spurensuche im Dorf des Misstrauens: Reporter recherchiert in Clausnitz

Aufmacher TT Foto: Jan Drebes

Rainer Nitzschner schiebt den frisch gefallenen Schnee in der Garageneinfahrt zusammen. Mit der Schaufel zieht er akkurate Bahnen, bis die gesamte Fläche frei ist. Ein Mann mit Wollmütze und Nickelbrille läuft vorbei, die Straße hinauf, zur knapp 20 Meter entfernten Zufahrt des Flüchtlingsheims. „Wieder so ein Gutmensch“, kommentiert Nitzschner, grüßt nicht. Unser Korrespondent Jan Drebes hat nach Übergriffen des rechten Mobs in Clausnitz recherchiert und das sächsische Dorf als tief gespalten und verunsichert erlebt.

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Idylle pur in Mittelsachsen: Clausnitz, ein kleines Dorf, 50 Kilometer südlich von Dresden: Schreckliche Szenen haben sich hier vor wenigen Tagen abgespielt, ein rechter Mob randalierte. Angelika und Hannes aus Jena sind nach Clausnitz gefahren, um den iranischen Flüchtlingen Sadegh, seiner Freundin Mahsa und ihrem Kind Babak Lebensmittel und Kleidung zu bringen.
Idylle pur in Mittelsachsen: Clausnitz, ein kleines Dorf, 50 Kilometer südlich von Dresden: Schreckliche Szenen haben sich hier vor wenigen Tagen abgespielt, ein rechter Mob randalierte. Angelika und Hannes aus Jena sind nach Clausnitz gefahren, um den iranischen Flüchtlingen Sadegh, seiner Freundin Mahsa und ihrem Kind Babak Lebensmittel und Kleidung zu bringen.
Foto: Jan Drebes

Vor einer Woche hatte sich ein Mob von rund 100 Leuten in Clausnitz zusammengetan, in Sichtweite zu Nitzschners Haus. Sie hinderten einen Bus mit knapp 20 Flüchtlingen an der Weiterfahrt zum Heim, skandierten „Wir sind das Volk“, bedrängten den Bus. Nitzschner hörte den Trubel und schloss sich spontan der Gruppe an. Die meisten seien aus dem Dorf gewesen, sagt der 77-Jährige.

„Wir waren sauer, weil wir nicht wussten, wer da kommt. Und jetzt nennt mich der Ministerpräsident einen Verbrecher und die Medien einen Nazi. Ein Naziverbrecher soll ich sein“, sagt Nitzschner und schüttelt den Kopf. Ihm sei ja klar gewesen, dass der Bus nicht umdrehen würde. Aber man habe doch keine andere Möglichkeit, als so seinen Protest zu äußern. „Die Politiker sind ja weit weg.“ Den Flüchtlingen habe man nichts Böses gewollt.

870 Menschen wohnen offiziell in Clausnitz, einem Ortsteil der Gemeinde Rechenberg-Bienenmühle, rund 50 Kilometer südlich von Dresden. Hügel des Erzgebirges umgeben das Dorf, Wäldchen, Felder, Landstraßen mit tadelloser Asphaltdecke. Die tschechische Grenze ist etwa 15 Minuten entfernt. Es könnte schön sein in Clausnitz, ein ruhiger Wohn- und Urlaubsort.

Stillschweigender Ort gegenseitiger Abgrenzung

Doch seit einer Woche befindet sich das Dorf in Schockstarre. Die Menschen haben tiefes Misstrauen untereinander, vor allem jene, die nichts gegen die Flüchtlinge haben und ihnen helfen wollen. Wer von den Nachbarn war beim Mob dabei? Mit wem kann ich reden? Von wem droht Ausgrenzung, schlechte Nachrede, Feindseligkeit? Ein Dorf, das sonst von gegenseitiger Unterstützung geprägt ist, von Vereinsleben, menschlicher und räumlicher Nähe, wird zum stillschweigenden Ort gegenseitiger Abgrenzung.

Hilfe und Unterstützung kam in den vergangenen Tagen häufig von auswärtigen Bürgern. Angelika und Hannes sind aus Jena hergekommen und haben Lebensmittel und Kleidung mitgebracht, spontan zusammengetragen über eine Facebook-Gruppe.

Kurz nach ihnen kommen zwei Mädchen, Mitglieder der Jungen Gemeinde von Clausnitz, bringen Kuchen mit und setzen sich ins spärlich möblierte Wohnzimmer einer der Flüchtlingswohnungen. Der Iraner Sadegh und seine Familie wohnen dort. In dem Zimmer stehen ein Tisch, drei Stühle, eine Garderobe, jemand hat Tulpen und eine Orchidee vorbeigebracht. Die Mädchen, 16 und 17 Jahre alt, sagen, sie wüssten nicht, wem sie im Dorf in die Augen gucken könnten.

Als sie in der Kreisstadt Freiberg, wo sie zur Schule gehen, aus dem Bus stiegen, hätten Mitschüler gesagt: „Da kommt der Clausnitzer Mob.“ Derzeit arbeiten sie an einer Broschüre für die Flüchtlinge. Das Heft soll den Familien, die auch aus Syrien kommen, Orientierung geben, ihnen den Weg zum Bäcker und zu dem drei Kilometer entfernten Edeka weisen. Der Bus kommt zweimal am Tag.

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Foto: Jan Drebes

Sadegh ist 24 Jahre alt und mit seiner Freundin Mahsa vor vier Monaten nach Deutschland gekommen. Mehrere Wochen waren sie auf der Flucht, gingen weite Strecken zu Fuß. In ihrer Heimat Teheran bekamen sie Probleme, wollten eine bessere Zukunft in Deutschland. Mahsa ist 18, vor einem Monat kam ihr gemeinsames Kind Babak in Chemnitz zur Welt. Derzeit läuft ihr Asylantrag, sie leben von insgesamt 300 Euro im Monat. Die Ankunft in Clausnitz hat sie geschockt. „Wir wussten nicht, wohin wir gebracht werden“, sagt Sadegh.

Ein Mann, der Farsi und Deutsch spricht, übersetzt. Als der Mob vor dem Bus stand, habe er nackte Angst um seine Familie gehabt, meint Sadegh. Mehrere Stunden lang habe man nicht gewusst, wie es weitergeht. Jetzt macht Sadegh jeden Abend bei Einbruch der Dunkelheit die Jalousien in der Drei-Zimmer-Wohnung zu, löscht das Licht in den Räumen zur Straße. Die Bilder von den schreienden Menschen vor dem Bus, von den Polizisten und den weinenden Kindern bekomme er nicht mehr aus dem Kopf. Sadegh sagt, er wolle lieber zurück in den Iran, wenn er mit seiner Familie nicht in einem anderen Ort untergebracht werden könne.

Bedrückt von einem „massiven Aufstand einer Minderheit“ im Ort

Wie soll Integration im Dorf gelingen nach einer solchen ersten Begegnung? Clausnitzer und Flüchtlinge stellen sich diese Frage gleichermaßen. Ein 56-Jähriger, der im Dorf aufgewachsen ist, will etwas ändern, seinen Namen aber nicht in der Zeitung lesen. Er zeigt sich bedrückt von dem „massiven Aufstand“ einer Minderheit im Dorf, ist in der Kirche engagiert. Zum Osterfest will er die Flüchtlinge einladen. Rückendeckung erhält er von Christoph Noth, Superintendent der Kirchengemeinde Freiberg. Sie hoffen auf Mithilfe der freiwilligen Feuerwehr, des Sportvereins, der Landfrauen und Karnevalisten in Clausnitz.

Konkrete Absprachen gebe es mit den Vereinen aber nicht. Das sei noch schwierig und zu früh, meint der Dorfbewohner. Außerdem gebe es in Clausnitz Angst vor Linksautonomen, die den Verwandten des abgesetzten Heimleiters und AfD-Mitglieds Thomas Hetze drohen würden. Zu den Flüchtlingen sei er noch nicht gegangen. Das sagt auch Rainer Nitzschner in seiner Einfahrt – und ergänzt: „Ich? Was soll ich da? Die verstehen mich doch eh nicht.“

Solche Sätze wundern Johannes Roscher nicht. Er ist Ausländerbeauftragter des benachbarten Erzgebirgskreises und leitet eine kirchliche Einrichtung in Zschopau, wo er Jugendlichen hilft, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Pünktlich kommen, saubere Bewerbungen abliefern, so etwas eben. Wer von der Jugend im Ort rechts sei? Viele, sagt Roscher. Manche stehen im Verdacht, auch in den Nachbargemeinden gegen Fremde und Andersdenkende zu hetzen.

Die Region hat ein Problem, das ist seit Heidenau, Clausnitz, Bautzen offenkundig geworden. Niedriges Lohn- und Bildungsniveau auf dem Land, hohe Arbeitslosigkeit. Auch Freital gehört in diese Reihe, wo im Sommer Neonazis gegen eine Flüchtlingsunterkunft demonstrierten. Ein Mann wurde jüngst wegen seines Hitlergrußes verurteilt. Jetzt soll dort in einem baufälligen Kitagebäude ein weiteres Heim entstehen. An der Tür prangt ein Hakenkreuz, auf dem Gelände stutzt eine Firma Bäume zurück. Man fahre nachts die Bagger weg, sagt ein Arbeiter. Man wisse ja nie, ob nicht einer in Flammen aufgeht.