Sprachwissenschaftlerin: Die Unsicherheit gegenüber der Methode ist unangemessen

Zunächst ohne Rechtschreibregeln Sätze zu Papier bringen – kann das funktionieren? Ja, sagt die Sprachwissenschaftlerin Dr. Iris Meißner. An der Universität Koblenz-Landau bringt sie angehenden Lehrern unter anderem bei, wie sie später ihren Schülern das Lesen und Schreiben vermitteln können. Die Unsicherheit gegenüber der Methode „Lesen durch Schreiben“ hält Meißner für unangemessen.

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„Die ganz enge Methode wird heute sowieso kaum gelehrt“, stellt sie klar – und räumt mit dem Mythos auf, dass Kinder beim Schreibenlernen nach diesem Ansatz einfach machen können, was sie wollen. „Die Kinder dürfen von Anfang an alles frei schreiben – und bestimmte Fehler sind erlaubt. Aber eben nicht alle“, erläutert die Wissenschaftlerin. Sanft korrigiert würden die Kinder schon in der ersten Klasse. Welche Anforderungen das an die Lehrer stellt und wie Eltern ihre Kinder im Lernprozess unterstützen können, lesen Sie im Interview:

Wie kam man auf die Idee, „Lesen durch Schreiben“ als Methode einzuführen? Und wie funktioniert sie genau?

Man muss sich vor Augen führen, wie die Situation in den 70er- und 80er-Jahren war. Damals gab es die Fibeln. Die Kinder wurden in einem sehr starren Korsett in die Schrift eingeführt, Buchstabe für Buchstabe.

Und am Ende schrieben sie so schöne Sätze wie „Oma kauft Omo“ …

Ja, weil nur diese Buchstaben und ein festgelegter Wortschatz gelernt worden waren. Die Methode „Lesen durch Schreiben“ muss man wirklich auch aus der Opposition heraus verstehen: Früher dachte man immer, Lesen und Schreiben, das wird unterrichtet. Heute spricht man davon, dass Kinder sich die Schrift erwerben. Die Vorstellung von Jürgen Reichen ist im Grunde, dass man versucht, Kinder im Primarbereich zur Schrift zu führen. Besonders bedeutsam ist für mich dabei die Erkenntnis, dass das Lesen- und Schreibenlernen eine Denkentwicklung ist und wir das Lernen am besten dadurch fördern, dass wir den Kindern Einsichten in den Aufbau und die Struktur unseres Schriftsystems ermöglichen. Der Vorteil des „Lesens durch Schreiben“ ist: Wenn man die Anlauttabelle sorgfältig einführt, haben die Schüler mit diesem Instrument die Möglichkeit, im Grunde sofort alles zu schreiben. Sie können Einkaufszettel schreiben, Briefe an die Eltern und die Großeltern – von Anfang an. Und zwar genau so, wie sie es hören. Und ja, sie werden dabei zunächst nicht korrigiert. Aber die ganz enge Methode, wie sie Reichen entwickelt hat, wird heute kaum gelehrt. Es gibt sie nicht in Reinkultur. Das ist meines Erachtens auch das große Missverständnis: Dass Kinder beim „Lesen durch Schreiben“ einfach machen, was sie wollen, stimmt so nicht. Jedenfalls, wenn man es in modifizierter Weise einführt.

Was bedeutet denn „in modifizierter Weise“? Und ab wann werden die Kinder beim Schreiben dann korrigiert?

Wenn Kinder lesen und schreiben lernen, durchlaufen sie bestimmte Lernstufen. Es gibt eine Phase im Vorschulalter, in der Kinder überhaupt begreifen, was Schrift ist. Dass es etwas ist, was unsere Sprache fixiert. Dass es eine Kulturtechnik ist, die die Erwachsenen beherrschen. Sie entwickeln eine phonologische Bewusstheit. Der Klassiker, um abzuprüfen, ob ein Kind diese Bewusstheit schon hat, ist: Man fragt, welches Wort größer ist – Kuh oder Schmetterling. Viele Kinder sagen erst einmal Kuh, weil sie die Lautgestalt noch nicht trennen können von dem, wofür das Wort steht. Ein ganz wichtiger Entwicklungsschritt ist der Moment, in dem das Kind begreift, dass für einen Laut, den es spricht, ein Buchstabe steht, der geschrieben wird. Da setzt Reichen an. Mit der Anlauttabelle üben die Kinder, den Sprechlauten Buchstaben zuzuordnen. Das ist eine Phase, die den Kindern unheimlich viel Spaß macht. Wenn sie anfangen, mit der Buchstabentabelle zu schauen: Welchen Buchstaben nehme ich denn für ein A? Wie muss ich den malen? Modifiziert heißt, die Kinder dürfen von Anfang an alles frei schreiben – und bestimmte Fehler sind erlaubt. Aber eben nicht alle.

Das müssen Sie erklären.

Die Kinder schreiben zum Beispiel fata oder fater statt Vater, weil sie es so hören. Das sind im ersten Schuljahr Fehler, die in Ordnung gehen. Aber wenn das Kind dann auf einmal Omer statt Oma schreibt, geht das nicht. Dann muss man erkennen, dass das Kind die nächste Stufe erreicht hat. Es hat schon die ersten orthografischen Prinzipien verinnerlicht und versucht, diese nun zu verallgemeinern. Das passiert in der Regel nach dem ersten halben Jahr. Dann braucht das Kind zum Beispiel Übungsangebote, bei denen es die Mehrzahl üben kann. Es lernt dann: Es heißt Omas – und nicht Omers. Und die Einzahl ist eben Oma und nicht Omer. Dieses sanfte Korrigieren, ohne gleich den Rotstift rauszuholen, muss im ersten Schuljahr schon anfangen. Manches sollte man sogar schon in der ersten Woche unterbinden. Kindern, die zum Beispiel Mölsch statt Milch schreiben, weil sie vielleicht eine rheinländisch sprechende Erzieherin hatten, sollte man das gleich sagen. Nicht, indem man sich auf sie stürzt und Fehler dramatisiert. Sondern indem man ein Lernangebot macht, um das zu bewältigen. In dem Fall könnte man das Kind zum Beispiel bitten, das Wort ganz langsam auszusprechen, es fragen: Hörst du ein ö oder ein i? Für alle Erwachsenen, für jeden, der schon schreiben kann, ist es aber unglaublich schwer, sich in die Perspektive hineinzuversetzen und zu fragen: „Was hört man denn wirklich?“

Kommt daher auch die Angst, Kinder könnten sich etwas falsch einprägen?

Die Sorge vieler Eltern, dass sich die Kinder mit ihren lautgerechten Schreibungen, die noch nicht allen orthografischen Normen entsprechen, etwas Falsches einprägen könnten, ist überzogen. Beim lautierenden Schreiben konstruieren die Kinder jedes Wort jedes Mal Laut für Laut neu. Dass sich dabei diese Schreibungen nicht in den Köpfen der Kinder festsetzen, belegen ja schon die Variationen, die die Kinder immer wieder finden: Oft wird das gleiche Wort in kurzer Zeit mehrfach unterschiedlich geschrieben, zum Beispiel fata oder fater für Vater. Allerdings ist es natürlich gefährlich, wenn Lehrer nicht so genau auf die Fehler schauen. Das A und O ist deshalb, dass man sich genau anguckt, was das Kind schreibt. Man muss einordnen können, was das Kind beherrscht – und ihm dann Übungsmaterial anbieten, damit es Sicherheit erfährt.

Das klingt sehr komplex und stellt auch einen hohen Anspruch an die Lehrperson, oder? Sie muss jedes Kind im Blick behalten, auf individuelle Fehler achten ...

Ja, und das ist machbar. Aber Lehrer müssen auch Verständnis dafür entwickeln. Sie müssen lernen, wie die Prinzipien des Spracherwerbs im Deutschen funktionieren. Dann ist es relativ leicht, sich anzusehen, was die Kinder machen, und zu differenzieren. Dann macht man zum Beispiel eine Rechtschreibstunde, und ein Kind bekommt ein Blatt, auf dem das Stammprinzip geübt wird, damit es lernt, dass bestimmte Schreibungen vom Wortstamm abhängig sind. Das andere Kind bekommt ein Blatt, auf dem Groß- und Kleinschreibung geübt wird. Dann kann man schauen: Wer braucht jetzt was? Eltern sollten den Lehrpersonen da tatsächlich auch ein Stück weit vertrauen.

Die Anlauttabelle gehört zu den wichtigsten Elementen der Methode
Die Anlauttabelle gehört zu den wichtigsten Elementen der Methode „Lesen durch Schreiben“. In Ellenz-Poltersdorf hat sie die Form eines Hauses – und heißt folgerichtig auch Buchstabenhaus.
Foto: Angela Kauer

Trotzdem sind viele Eltern verunsichert. Gibt es denn Studien, die belegen, dass „Lesen durch Schreiben“ funktioniert?

Es gibt Untersuchungen. Aber die gehen in alle möglichen Richtungen. Peter May kam Anfang der 2000er zum Beispiel zu dem Ergebnis, dass die Kinder, die Lesen durch Schreiben lernen, in den ersten zwei Jahren hinsichtlich der Rechtschreibleistung hinter den Kindern zurückfallen, die nach der Fibel-Methode lernen. Ab dem dritten Schuljahr gleichen sich die Ergebnisse aber an, und es gibt am Ende der vierten Klasse keine signifikanten Unterschiede zwischen den Kindern, die nach unterschiedlichen Methoden schreiben gelernt haben. Aber das Schreibenlernen und das Lesenlernen sind das eine. Die Rechtschreibung ist das andere. Sich wirklich auch an Regeln zu halten, müssen Kinder üben, auch wenn sie fit sind. Aber das schließt „Lesen durch Schreiben“ ja nicht aus. Die meisten Lehrwerke, die wir haben, sind so aufgebaut, dass es große Anteile freien Schreibens gibt. Aber in vielen Klassen werden dann auch Rechtschreiblehrgänge gemacht. Und die Kinder müssen auch motorisch üben, bestimmte Buchstaben zu schreiben.

Haben Sie einen Tipp für Eltern? Was können sie tun, um Kindern beim Lesen- und Schreibenlernen zu helfen?

Ich würde auch den Eltern den Rat geben, Verantwortung zu übernehmen. Nicht, indem sie die Kinder direkt korrigieren oder – noch schlimmer – schon im ersten oder zweiten Schuljahr in die Nachhilfe schicken. Eltern sollten ihren Kindern zeigen, wie sie selbst mit Sprache und Schrift umgehen: auf der langen Autofahrt vielleicht mal die CD ausmachen und Sprachspiele spielen. „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das fängt mit B an.“ Eltern sollten einen guten Umgang mit Schrift und Büchern vorleben. Zeitung lesen und nicht nur in die Glotze gucken. Vorlesen. Die Kinder sollen merken: Es ist etwas wert, dass ich mich darum bemühe, das auch zu können. Und ansonsten sollten Eltern auch mal einen Gang rausnehmen. Die Unsicherheit gegenüber der Methode ist unangemessen. Und sie wird häufig auch angeheizt durch viele Diskussionen über schlimme Rechtschreibung. Ich glaube aber, schlechte Rechtschreibung hat andere Ursachen.

Welche Ursachen meinen Sie konkret?

Mediennutzung hat sich verändert, das spielt vielleicht eine Rolle. Lerngruppen sind sehr heterogen. In einer ersten Klasse sind zwar alle Kinder sechs oder sieben Jahre alt, aber sie haben einen Entwicklungsunterschied von plus/minus zwei Jahren. Und was ich auch beobachte: Es gibt eine andere Haltung zu dem Können der Kinder. Eine Art Schuldumkehr. Wenn ein Schüler heute etwas nicht kann oder nicht lernt, dann ist erst einmal der Lehrer schuld. Ich bin selbst Mutter und erlebe das auch in der Elternarbeit. Dann frage ich immer zurück: „Liegt es wirklich allein in der Verantwortung der Lehrerin, wenn das Kind bestimmte Dinge nicht macht?“ Man kann nicht erwarten, dass das Kind eine saubere Rechtschreibung entwickelt, wenn man zu Hause überhaupt keine Beziehung zu Texten hat.

Das Gespräch führte Angela Kauer