RZ-Interview mit Schabowski: Mauerfall war kein Versprecher

Wer den Namen Günter Schabowski hört, muss unweigerlich an die Pressekonferenz vom 9. November 1989 denken, in deren Folge sich die Mauer öffnete. Im Gespräch mit unserer Zeitung denkt der heute 81-Jährige zurück.

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Wer den Namen Günter Schabowski hört, muss unweigerlich an die Pressekonferenz vom 9. November 1989 denken, in deren Folge sich die Mauer öffnete. Im Gespräch mit unserer Zeitung denkt der heute 81-Jährige zurück.

Es ranken sich viele Legenden um die historische Pressekonferenz vom 9. November. Was ist da wirklich passiert?

Es war auf keinen Fall ein Versprecher. Ich bin ja einer der Verantwortlichen gewesen, die dieses Ende der DDR mit eingeleitet haben. Ich wurde vom spanischen Pressevertreter gefragt, wann denn die Reisefreiheit gilt. Ich habe mit Verzögerung geantwortet, weil ich eine Mitteilung hatte, dass frühmorgens ein Rundfunksprecher dies verlesen würde. Und das sollte juristisch den Zeitpunkt der Gültigkeit markieren.

War Ihnen in diesem Augenblick bewusst, was Sie damit auslösen?

Nein. Mir war nicht bewusst, in welcher Menge die Menschen auf diese Entscheidung reagieren und zur Grenze strömen würden. Ich fuhr nach der Pressekonferenz nach Hause nach Wandlitz und habe erst dann erfahren, wie sich die Situation an den Grenzübergängen entwickelt hatte.

Was war Ihre Motivation damals? War es der letzte Versuch, zu retten, was noch zu retten ist?

Natürlich. Dem ging ja ein Aufruhr im Politbüro voraus, das aus 23 Leuten bestand. Einige wenige waren zu dem Schluss gekommen, dass die Situation reif ist und Erich Honecker abgesetzt werden muss. Wir wollten zu Veränderungen in der Politik kommen, die dem Bedürfnis der Menschen Rechnung tragen. Auch dem Bedürfnis nach Reisefreiheit.

Keiner aus dem früheren Politbüro hat so kompromisslos mit seiner eigenen Vergangenheit abrechnet wie Sie. Ihr Buch trägt ja auch den Titel „Wir haben fast alles falsch gemacht". Warum formulieren Sie, anders als andere, dies in dieser Deutlichkeit?

Gegen diese Überschrift des Buches habe ich mich beim Verlag verwandt. Denn es war alles grundverkehrt, wir waren ein falsches System, und alles, was man in diesem System machte, konnte nur grundsätzlich falsch sein und sich nur negativ auswirken. Das Buch erläutert, warum das System grundfalsch war. An dem sozialistischen System ist die DDR zugrunde gegangen. Ich bin mit diesem Buch viel weiter gegangen als der Rest der SED-Mitglieder.

Vor 20 Jahren hatten Sie diese Erkenntnis noch nicht. Sie haben ja versucht, das System noch zu retten.

Ende November 1989 hatte sich ja schon unendlich viel vollzogen an Veränderungen in dem sozialistischen System überhaupt, nicht nur in der DDR, auch in der Sowjetunion. Denken Sie nur an Gorbatschows Perestroika. Man kann über den Politiker Gorbatschow denken, dass auch er versagt hat. Er hat das System nicht mehr retten können. Aber Gorbatschow bleibt doch einer der großen Beweger unserer Epoche. Er hat die Veränderungen des sozialistischen Sowjetsystems eingeleitet. Er hat dafür gesorgt, dass dieses System zugrunde geht, wobei er nur begrenzten Einfluss auf die Veränderungen in der DDR hatte.

Welche Rolle hat zu dieser Zeit Erich Honecker gespielt? Er stand doch allem im Weg ...

... deswegen haben wir ihn auch abgesetzt. Ich gehöre zu einer Handvoll von Mitgliedern des Politbüros, die Honecker absetzen wollten. Wir mussten dabei ganz behutsam vorgehen. Falls Sie einmal in die Verlegenheit kommen sollten, eine Verschwörung gegen einen Apparat einzuleiten, erkundigen Sie sich bitte bei mir, dann erzähle ich Ihnen, wie das gemacht wird. In der entscheidenden Politbürositzung, in der über die Absetzung Honeckers diskutiert wurde, entschied sich das Politbüro einstimmig für die Absetzung des Generalsekretärs. Zu dieser Einstimmigkeit gehörte auch der erhobene Arm von Honecker. Er hat also für seine eigene Absetzung gestimmt. Das ist nicht verwunderlich, denn wenn man ein Genosse ist – und die Partei war wie ein Orden –, bleibt man ein Mitglied dieses Ordens, wenn man in einer solchen Frage der Mehrheit folgt. Nach ein paar Tagen war es damit allerdings vorbei. Da war er nicht mehr der feierliche Vertreter eines Ordens, sondern ein normaler Mensch geworden.

Es war sicher wichtig, dass Honecker abgesetzt wurde. Aber es hat nicht dazu geführt, dass dieser Staat noch eine Chance hatte. Als sich die Mauer öffnete, hat Helmut Kohl die Möglichkeit gesehen, die deutsche Einheit wieder herzustellen.

Sie haben recht: Die Absetzung Honeckers bedeutete noch keine grundlegende Veränderung des Systems. Was war denn mit den anderen Mitgliedern des Politbüros? Die verschwanden, die schwiegen, zogen sich zurück. Es war ein Drunter und Drüber, Leere tat sich auf. Jetzt formierte sich die Macht neu, wir traten ja zurück mit der Meinung, wir machen den Weg frei für neue Genossen, die nicht so belastet sind wie wir. Und dann hatte so ein de Maizière die Dinge in der Hand, also die CDU. Da hat kein Mensch danach gefragt, was aus der SED geworden ist. Nur er fand Mehrheiten und leitete eins nach dem anderen ein, was letztlich dazu führte, dass wir nun den 20. Jahrestag der Einheit feiern.

Über das Schicksal der DDR haben dann ja nicht mehr die eigenen Führungskräfte entschieden, sondern ganz andere Leute: Michail Gorbatschow, Helmut Kohl und George Bush.

Ohne die Zustimmung Gorbatschows hätte es die deutsche Einheit nicht gegeben. Er war nominell derjenige, der für die Sowjetunion sprechen konnte. Die DDR war ja ein Produkt der Sowjetunion.

Wann haben Sie selbst erkannt, dass das System scheitern musste?

Meine Einstellung hatte sich relativ schnell geändert. Ich begriff, warum das System der DDR zu Ende gehen musste. Es war eine Zeit der permanenten Selbstauseinandersetzung, die sich bis in das Jahr 1990 hinein vollzog und Monate weiterging. Es gab auch eine Zeit, in der ich dem sozialistischen System, aber einem vorzüglichen, nachhing. Dann kam die Zeit, in der mir klar wurde, dass das ein untaugliches System war. Die Quintessenz meiner Veränderung lautet: Die marxistische Lehre von der Umwandlung der Gesellschaft, von der Verstaatlichung der Industrie ist ein Fehlkonstrukt, das letztlich in die Katastrophe führt. Ich bin heute kein Verfechter mehr des marxistischen Prinzips, sondern ich weise es zurück.

Das Gespräch führte Marcelo Peerenboom