Rheinland-Pfalz/Celle

Radikalisierung: Heimlicher Aufbruch in Richtung Islamischer Staat

Heimlicher Aufbruch in Richtung Islamischer Staat Foto: dpa

Sie sind jung, fast noch Kinder, und sie begeistern sich für den radikalen Islam. Manche von ihnen reisen aus, um sich dem Islamischen Staat (IS) anzuschließen. Andere greifen in Deutschland zu Gewalt und sehen darin einen Auftrag des IS – wie Safia S., die derzeit im niedersächsischen Celle wegen einer Messerattacke auf einen Polizisten vor Gericht steht. Die Anklage wird versuchen, ihr nachzuweisen, dass der Angriff ein Anschlag war, den sie geplant hat, geleitet von ihrer tief fundamentalistischen Einstellung zum Islam.

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Auch Safia wollte ursprünglich nach Syrien ausreisen. Ticket kaufen, einchecken und weg: Für die damals 15-Jährige startet die Reise in Richtung Islamischer Staat am 22. Januar 2016 in Hannover kinderleicht. Ohne dass die Eltern Bescheid wissen oder jemand sie aufhält, besteigt sie den Flieger nach Istanbul. Ein Schock für die Mutter, die aber bald die Reisepläne durchschaut – ein älterer Bruder Safias ist bereits auf dem Weg zum IS an der türkisch-syrischen Grenze inhaftiert worden. So reist die Mutter kurzerhand ihrer Tochter nach Istanbul hinterher, findet sie und kehrt mit ihr zusammen zurück nach Deutschland.

Doch was Safias Mutter gelungen ist, gelingt nicht vielen Eltern. Oft regiert die Ohnmacht – auch aufseiten der Behörden. Auf bloße Befürchtungen von Angehörigen hin können sie eine mögliche Ausreise nicht so leicht blockieren. Einmal aufgebrochen, lassen sich die Jugendlichen nur noch schwer stoppen.

Wie die Bundespolizei erklärt, sind es am Ende Erfahrung und ein kritischer Blick, bei welchen minderjährigen, allein reisenden Fluggästen intensiver nachgefragt wird. Einverständniserklärungen der Eltern könnten auch gefälscht und Ausweiskopien heimlich erstellt sein. Mitunter wird nach den Erwachsenen gefragt, die einen Jugendlichen zum Flughafen gebracht haben. Der Grenzbeamte kann im Zweifel den Abflug verhindern – wobei ihm auch Ärger und Regressansprüche drohen können.

Angewiesen ist die Polizei auf Hinweise von Verwandten, Freunden, Lehrern oder Behörden. Sonst kommen die Beamten nicht auf die Spur, wie eine Sprecherin des Landeskriminalamtes in Mainz mitteilt. Zu prüfen ist dann, ob die geplante Ausreise eine Straftat darstellt, etwa die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Auch arbeitet die Polizei mit anderen Behörden zusammen: Einem Verdächtigen können die Kommunen den Pass entziehen, um die Ausreise zu verhindern. Sind die Eltern an der Radikalisierung ihres minderjährigen Kindes beteiligt, kann auch das Jugendamt eingreifen.

Die Ausreise in die Kampfgebiete des IS steht jedoch – wenn überhaupt – erst am Ende der Kette einer Radikalisierung. Vorbeugen und helfen können Einrichtungen wie die rheinland-pfälzische Beratungsstelle gegen islamistische Radikalisierung „Salam“ in Mainz. Warnsignale bei Jugendlichen sind etwa herabsetzende Aussagen über andere, die Verwendung von islamistischen Symbolen, emotionale Distanz und soziale Isolation, sagt Leiterin Peimaneh Nemazi-Lofink. „Den Ausgangspunkt für eine Radikalisierung bildet immer eine Krise im Leben des Jugendlichen.“ Das kann eine religiöse Sinnkrise oder einfacher Liebeskummer sein. Jugendliche Verunsicherung spielt den Extremisten in die Hände.

Hier setzt die Beratung an – oft zunächst bei Eltern und Lehrern, die positiv auf die Betroffenen einwirken können. Doch Sorgen macht Nemazi-Lofink das verstärkte Anwerbe-Treiben von Islamisten. „Wer einer extremistischen Gruppierung beigetreten ist, findet ohne zuverlässige Unterstützung selten heraus“, sagt die Pädagogin. 42 Personen hat die Stelle seit ihrer Gründung im Frühjahr beraten, viele über Monate hinweg.

Dass Deradikalisierung schon in der Schule beginnen muss, findet der Psychologe und Autor Ahmad Mansour. Bei einer Tagung in Frankfurt forderte er kürzlich eine Unterrichtsreform sowie besser ausgebildete Lehrer und Sozialarbeiter. Sie müssten „schnell erkennen können, wenn sich junge Leute radikalisierten, und wissen, wo sie dann kompetente Hilfe finden“. Im Unterricht müssten Werte vermittelt und es müsse über aktuelle politische Themen gesprochen werden. Wichtig sei auch die Arbeit mit den Biografien der Schüler, die Aufklärung der Eltern und die Präsenz liberaler offener Muslime im Internet mit einem ganz anderen Islamverständnis als dem der Salafisten. „Das ist es, was die Jugendlichen immunisiert gegen Radikalisierung.“

Michael Evers/Angela Kauer/Kim Alexander Zickenheiner