Berlin

Putschversuch: Wo stehen die deutschen Türken?

Man positioniert sich: Diskutierende Demonstranten mit türkischen Fahnen vor dem Botschaftsgebäude der Türkei in Berlin.  Foto: dpa
Man positioniert sich: Diskutierende Demonstranten mit türkischen Fahnen vor dem Botschaftsgebäude der Türkei in Berlin. Foto: dpa

Mehr als drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln leben in Deutschland. Hunderttausende deutsche Touristen reisen Monat für Monat in die Türkei. Was der gescheiterte Putschversuch für die Türken in Deutschland und Deutsche in der Türkei bedeutet. Ein Überblick:

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Von Anne-Béatrice Clasmann, Christoph Sator und Michael Fischer

Wie groß ist die Unterstützung für Erdogan unter den türkischstämmigen Menschen hierzulande?

Groß. Bei der Neuwahl zum türkischen Parlament im November 2015 stimmten knapp 60 Prozent der in Deutschland lebenden Türken für seine Partei, die islamisch-konservative Partei AKP. Damit schnitt Erdogans Partei in Deutschland besser ab als in der Türkei. Auch in keinem anderen europäischen Land leben so viele Erdogan-Anhänger wie in Deutschland. Zum Vergleich: In Großbritannien kam die AKP bei dieser Wahl nur auf rund 20 Prozent. Bei einem Wahlkampfauftritt in Köln jubelten Erdogan 15 000 Menschen zu. Allerdings leben in Deutschland auch viele Erdogan-Gegner, vor allem unter den Kurden.

Wie stark ist die Gülen-Bewegung in Deutschland?

Die islamisch-konservative Bewegung ist in Deutschland vor allem im Bildungsbereich aktiv. Zuerst bot sie Nachhilfekurse in mehreren Großstädten und Gemeinden an. Später gründete die Bewegung Privatschulen und Kindertagesstätten. Da sich die Bewegung auch im Bereich „interreligiöser Dialog“ engagiert, ist sie bei den Behörden relativ gut gelitten. Doch ein Rest Misstrauen bleibt – auch angesichts der Vorwürfe aus Ankara, der in den USA lebende Fethullah Gülen versuche, mit seinen Anhängern die staatlichen Institutionen in der Türkei zu unterwandern. Unterrichtssprache in den Gülen-Schulen ist Deutsch. Türkisch wird als Schulfach angeboten. Die Lehrer vermitteln ein sehr konservatives Weltbild.

Werden jetzt mehr türkische Staatsbürger nach Deutschland kommen?

Mittelfristig vielleicht schon. Denn der Terror, die militärische Auseinandersetzung mit den Kurden und die verschärften Spannungen nach dem missglückten Putschversuch belasten nicht nur den Tourismussektor, sondern auch andere Bereiche der türkischen Wirtschaft. Außerdem ist Auswanderung schon seit einiger Zeit ein Thema unter türkischen Intellektuellen. Besonders seitdem 1128 Akademiker die Regierung Anfang des Jahres in einem offenen Brief aufgefordert hatten, die Gewalt im Südosten zu beenden und den Friedensprozess mit den Kurden wieder aufzunehmen. Erdogan tobte.

Was wird aus der Visumfreiheit für Türken?

Die rückt gerade wieder ziemlich in die Ferne. In Zusammenhang mit dem Flüchtlingsdeal sollte die Visumpflicht für Reisen in die EU eigentlich schon im Juli aufgehoben werden. Der Termin wurde aber verschoben, weil die Türkei noch nicht alle 72 Bedingungen dafür erfüllt. Dazu gehört auch die Reform der Antiterrorgesetze. Nach dem gescheiterten Putsch sieht es nun überhaupt nicht danach aus, als ob es auf diesem Gebiet Fortschritte geben könnte.

Kann man jetzt überhaupt noch in die Türkei reisen?

Wenn man aufpasst, schon. Derzeit machen etwa 200 000 Deutsche Urlaub in der Türkei. In den Hotels am Strand bekam man vom Putschversuch kaum etwas mit. In Istanbul – auch ein beliebtes Reiseziel – war das ganz anders. Glücklicherweise wurden aber auch dort keine Bundesbürger verletzt. Das Auswärtige Amt mahnt in seinen Sicherheitshinweisen: „Landesweit ist weiter mit politischen Spannungen sowie gewaltsamen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen zu rechnen.“ Von Reisen in das Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak wird sogar dringend abgeraten.

Hintergrund: Die Spaltung nach dem Putsch – die Entwicklungen wirken auch am Rhein nach

Neuwied. Er hatte kein gutes Gefühl heute Mittag, als er die Tür des Nachhilfeinstituts in Neuwied aufschloss. Seiner Praktikantin hat er vorsorglich, man weiß ja nie, drei Tage frei gegeben. Und er hat sich erstmals Gedanken gemacht, ob es jetzt nicht Zeit für eine Überwachungskamera am Gebäude in der Langendorfer Straße sei.

Ahmet Alper ist Kursleiter und stellvertretender Vorsitzender des Eltern- und Bildungsvereins Universum in Neuwied. Er sagt, dass er persönlich der Gülen-Bewegung nahesteht. Wer Sympathien für den türkischen Prediger Fethullah Gülen hegt, hat es in der Vergangenheit nicht immer leicht gehabt. Seit vergangenem Freitag hat er ein Problem.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan macht die Bewegung für den missglückten Staatsstreich verantwortlich. Experten hegen an dieser Theorie zwar große Zweifel. Es hat aber gereicht, um die Wut der Erdogan-Anhänger zu entfachen. Auch in Deutschland. Die Gülen-Bewegung ist tatsächlich nicht unumstritten. In Deutschland betreiben die Anhänger ein Netzwerk aus Bildungseinrichtungen und Verbänden. Sie propagieren dabei einen gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildung. Kritiker bemängeln die intransparenten Strukturen des Netzwerks und werfen der Bewegung vor, sich nach außen säkular zu zeigen, nach innen aber eine Islamisierung der Gesellschaft anzustreben. Der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz forderte vor zweieinhalb Jahren eine Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden. Der Verein Universum betont: „Eine direkte Verbindung zu dem in den USA lebenden Gelehrten Fethullah Gülen besteht nicht. Wir distanzieren uns von jeder politischen Einstellung.“

Alper kann die Vorwürfe ohnehin nicht nachvollziehen. „Jeder kann uns doch besuchen und alle Fragen stellen.“ Aber Alper sagt auch, dass die Menschen nicht mehr miteinander reden wollten, sondern übereinander. Bisher habe es doch nie eine Rolle gespielt, wer mit welchem Lager sympathisierte. „Heute aber sind wir zerstritten.“ Selbst in der Moschee würde man nun über jene sprechen, die der Partei AKP nahestehen, oder über die Kurden oder über die Fethullacis. Auf Facebook hat ein Neuwieder Erdogan-Fan sogar dazu aufgerufen, Namen von Gülen-Anhängern dem türkischen Konsulat zu melden. Diesen Eintrag will Alper bei der Polizei anzeigen. Dabei betont er, dass er diesen Putschversuch ablehnt und keinen Moment lang hoffte, dass er erfolgreich endet. „Auf keinen Fall“, sagt er, „kann so etwas eine Lösung sein.“

Es hat Zeiten gegeben, da hat auch Fatima Akin (Name geändert) ihre Kinder zur Nachhilfe in die Langendorfer Straße gebracht. Als sie von der Gülen-Bewegung erfuhr, meldete sie ihre Kinder wieder ab. So erzählt es die Geschäftsfrau, die anonym bleiben möchte und ihre Sympathien für Erdogan nicht verhehlt. Die ganze Nacht saß sie am Freitag vor dem Fernseher und hoffte, dass der Putsch scheitern würde. „Es war das Volk, das den Putsch gestoppt hat“, sagt sie. Für sie ist dies ein deutliches Zeichen, dass dieser Präsident den Rückhalt der Bevölkerung hat und eben nicht auf undemokratische Weise regiere. „Das Volk glaubt an ihn.“ So vieles habe sich in den vergangenen Jahren mit Erdogan verbessert, schwärmt sie, gerade auch für Türken, die im Ausland lebten. „Wir waren immer fremd, hier keine richtigen Deutschen, aber dort auch keine richtigen Türken.“ Erdogan aber habe ihnen das Selbstbewusstsein zurückgegeben und heute, wenn sie in ihre Heimat reist, würde sie behandelt wie jeder andere auch. Und die Verhaftungen der Oppositionellen, der Krieg gegen die Kurden, die Festnahme Tausender Beamte und Richter? „Parallelstrukturen“, sagt Fatima Akin dann, er müsse doch diese Parallelorganisation auflösen.

Einen Konsens immerhin scheint es in diesen Tagen bei vielen Türken zu geben. Für den Putschversuch gibt es offenbar wenig Sympathien. Auch bei Dikran Bilge vom Bosporus-Imbiss in Neuwied nicht. Er ist Kurde und sagt, dass er diesen Konflikt trotzdem neutral sieht. Der Putschversuch werde Erdogans Macht festigen. Aber ohnehin sei alles doch nur ein schmutziges Spiel, sagt er und klopft dabei auf den Tresen. „Ein Spiel auf Kosten der einfachen Leute.“ Dietmar Telser