Neuland Mindestlohn: 
Nicht alle werden profitieren

Zum 1. Januar kommt der Mindestlohn. Das Mindestlohngesetz regelt, dass niemand mehr für seine Arbeit mit weniger als 8,50 Euro pro Stunde entlohnt werden darf. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass es eine flächendeckende Lohnuntergrenze geben wird. Doch Vorsicht: Er muss nicht unbedingt gleich bezahlt werden.

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Von unserer Reporterin Cordula Sailer

Dafür sorgt eine vom Gesetzgeber geschaffene zweistufige Übergangsfrist: Bis Ende 2016 darf der gezahlte Stundenlohn noch unter 8,50 Euro liegen, wenn entsprechende Tarifvereinbarungen getroffen wurden. Dies ist etwa in der Fleischindustrie, bei den Friseuren, im Gartenbau sowie der Land- und Forstwirtschaft der Fall.

„Die Unternehmen haben so länger Zeit, um ihre Produktion, ihre Kostenstruktur und eventuell die Preise an die neuen Verhältnisse anzupassen“, erklärt Gerhard Braun, Präsident der Landesvereinigung Unternehmerverbände Rheinland-Pfalz. Zum 1. Januar 2017 wird der Mindestlohn erstmals erhöht, da er alle zwei Jahre an die Entwicklung der Tariflöhne angepasst wird. Branchen, die die Übergangsfrist nutzen, müssen diesen Gehaltssprung nicht mitmachen, aber ihren Tarif nun auf 8,50 Euro anheben. Ab 2018 wird schließlich überall der dann gültige Mindestlohn fällig.

Kündigungen werden befürchtet

Erst Mitte November machten die Wirtschaftsweisen den Mindestlohn in ihrem aktuellen Bericht bereits vor seiner Einführung mit für den konjunkturellen Abschwung verantwortlich. Der Verlust von Arbeitsplätzen wird befürchtet. Dass eine solche Bedrohung bereits ziemlich real ist, zeigt sich bei den Taxifahrern. Der Deutsche Taxi- und Mietwagenverband geht davon aus, dass die Arbeitsplätze von etwa 25 bis 30 Prozent der Taxifahrer durch den Mindestlohn gefährdet sind. Braun bestätigt das aus eigener Erfahrung: „Ich bin oft in Berlin und mit dem Taxi unterwegs. Ein Großteil der Fahrer, mit denen ich spreche, hat bereits die Kündigung zum 1. Januar in der Tasche.“

Die Taxifahrer hält Stefan Sell, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Koblenz, für eine Ausnahme. Denn die Fahrer wurden bisher nicht nach Stunden bezahlt, sondern am Umsatz beteiligt. Das führt letztlich dazu, „dass Unternehmer sich einen angestellten Fahrer nur leisten können, wenn dieser so viel Umsatz macht, dass er damit die umsatzfreien Zeiten ausgleicht“, erläutert Sell. Ein schwer zu lösendes Problem, das neben Entlassungen auch zu steigenden Preisen für die Taxikunden führt.

Dass in anderen Branchen Arbeitsplätze im großen Stil abgebaut werden, glaubt Sell aber nicht. Denn bei den meisten Bereichen, in denen der Mindestlohn greift, handelt es sich um Dienstleistungen wie zum Beispiel im Wach- und Sicherheitsbereich, der Landwirtschaft, im Hotel- und Gaststättengewerbe oder im Einzelhandel. „Was soll denn da passieren? Glauben Sie, jetzt wird bundesweit bei Veranstaltungen auf die Bewachung verzichtet?“, fragt Sell mit süffisantem Unterton. Und schließlich lassen sich Dienstleistungen nicht ins Ausland verlagern. Der Mindestlohn gilt sogar für ausländische Kräfte, die in Deutschland arbeiten – unabhängig davon, ob sie bei einem in- oder ausländischen Unternehmen beschäftigt sind.

Dennoch darf von der Lohnuntergrenze abgewichen werden: im Fall von Langzeitarbeitslosen. Steigt jemand nach mehr als einem Jahr Arbeitslosigkeit wieder in den Beruf ein, darf sein Gehalt im ersten halben Jahr unter der Mindestlohngrenze liegen. Die Regelung, die den Einstieg ins Berufsleben erleichtern soll, nennt Sell „zutiefst irritierend“. Denn: Nur tariflose Unternehmen profitieren aus seiner Sicht von der Ausnahme. Bei allen anderen verwehren die Tarifverträge eine Lohnabweichung nach unten. „Damit werden Unternehmen bestraft, die sich an Tarifverträge mit den Gewerkschaften halten, und die belohnt, die schon heute im Schnitt schlechter bezahlen“, sagt der Volkswirtschaftler. Einen besseren Ansatz, um Langzeitarbeitslose wieder in Lohn und Brot zu bekommen, sieht Sell in Lohnkostenzuschüssen.

Ähnlich sieht es LVU-Präsident Gerhard Braun: „In der Vergangenheit war es ein gutes Mittel, über gering bezahlte Jobs mit Zuschuss der Arbeitsagentur aus der Arbeitslosigkeit in einen Job zu kommen.“ Die meisten Arbeitnehmer schaffen laut Braun so den Sprung in eine unbezuschusste Vollzeitbeschäftigung. Wer durch den Mindestlohn auf der Strecke bleiben wird, sind die Geringqualifizierten, ist sich der LVU-Präsident sicher: „Wenn die Personalkosten zu hoch sind für einfache Tätigkeiten, sind diese Mitarbeiter von Entlassung bedroht.“ Im Internet seien bereits zahlreiche Anleitungen zu finden, „wie man sich am besten in die Schwarzarbeit verabschiedet“.

Geringqualifizierte fit machen

Dass der Mindestlohn die Chancen von Geringqualifizierten verschlechtert, hört Dietmar Muscheid, DGB-Vorsitzender in Rheinland-Pfalz und dem Saarland, gar nicht gern. „Was hier als Chance bezeichnet wird, bedeutet im Klartext nichts anderes, als dass Menschen Jobs annehmen sollen, von denen sie nicht leben können. Das ist keine Chance“, kontert Muscheid. Schulabbrechern oder Menschen ohne abgeschlossene Ausbildung müsste stattdessen mit Fortbildungsangeboten geholfen werden, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Auch in Minijobs sieht der DGB-Landesvorsitzende eine Armutsfalle. Er sähe die 450-Euro-Jobs gern durch sozialversicherungspflichtige Teilzeitstellen ersetzt.

Doch die Minijobs werden wohl auch durch den Mindestlohn nicht tot zu kriegen sein, glaubt Stefan Sell. Zwar müssen Arbeitgeber die Stundenzahl in den Verträgen anpassen, wollen sie den 450-Euro-Rahmen nicht sprengen. Doch die Minijobs haben einen entscheidenden Vorteil, sagt der Wirtschaftsexperte: Die Flexibilität ist viel größer als bei einer Vollzeitkraft. Ist ein Geschäft im Einzelhandel von Montag bis Samstag geöffnet und es werden mehrere Minijobber beschäftigt, „ist das vielleicht sogar teurer als eine Vollzeitkraft, aber der Arbeitgeber kann längere Zeiträume abdecken als durch eine Kraft, die spätestens nach acht Stunden nach Hause geht“, resümiert Sell.

Werden durch den Mindestlohn die Arbeitszeiten der Minijobber verkürzt, müssen in der Konsequenz sogar noch mehr von ihnen eingestellt werden. Doch Sell befürchtet hier Tricksereien, die auch Vollzeitkräfte betreffen könnten. „Dann werden zwar 8,50 Euro auf dem Papier gezahlt, aber das vorgesehene Arbeitspensum pro Stunde ist so hoch, dass es nicht zu schaffen ist.“ Die Folge: unbezahlte Überstunden. Solchen unlauteren Methoden werden wohl vor allem Arbeitnehmer in den Branchen zum Opfer fallen, die wenig bis gar nicht in Gewerkschaften organisiert sind. Als Beispiel nennt der Experte die Systemgastronomie. Hier verhandelt der Bundesverband (BdS), in dem Fast-Food-Ketten wie McDonald’s, Burger King oder Pizza Hut vertreten sind, derzeit mit der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) über einen neuen Manteltarifvertrag. In diesem sollen nach Wunsch des BdS Zulagen wie Weihnachts- oder Urlaubsgeld gekürzt werden – eine Kompensation für die Mehrkosten durch den Mindestlohn.

Auch Dietmar Muscheid fürchtet die Kreativität einzelner Unternehmen und Branchen, wenn es darum geht, Schlupflöcher im Mindestlohngesetz aufzuspüren. „Uns ist es wichtig, dass die Umsetzung des Mindestlohns vernünftig kontrolliert wird“, sagt der DGB-Landesvorsitzende. Damit das Gesetz sich nicht als Papiertiger erweist, fordert Muscheid daher auch ausreichend Personal zur Durchführung der Kontrollen. Und tatsächlich sollen bei der zuständigen Finanzkontrolle Schwarzarbeit 1600 neue Stellen geschaffen werden. Dieses zusätzliche Personal steht zwar nicht sofort im Januar zur Verfügung, wird aber bis 2019 in mehreren Etappen eingestellt, heißt es aus dem Bundesfinanzministerium. Überprüft werden dann beispielsweise Arbeitsverträge oder Lohnabrechnungen. Zudem sollen Angestellte am Arbeitsplatz befragt werden.

Arbeitgeber kritisieren Mindestlohn

Arbeitgebern stößt das Mindestlohngesetz vor allem auf, weil sie es als Verletzung der Tarifautonomie werten. „Das Aushandeln von Löhnen und Gehältern liegt nach dem Grundgesetz in den Händen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden“, betont Gerhard Braun. Für ihn sind die 8,50 Euro eine willkürlich gesetzte Grenze, bei der etwa das Lohngefälle zwischen Ost und West nicht beachtet wird. „Es hat ja seinen Grund, warum in bestimmten Branchen und Regionen auch Tarife unter 8,50 Euro zwischen DGB-Gewerkschaften und Arbeitgebern vereinbart wurden“, sagt der LVU-Präsident. Dietmar Muscheid sieht das anders. In Bezug auf den Mindestlohn geht es aus seiner Sicht vor allem um Unternehmen, die aus den Arbeitgeberverbänden ausgetreten sind und schon lange keine Tarifverträge mehr anwenden. „Erst dadurch war es möglich, dass wir diese wahnsinnige Entwicklung der Löhne nach unten überhaupt erleben mussten.“