Nationalsozialismus: Sühne für Auschwitz

Eine bedrückende Szene: Auf dem Frankfurter Römerberg schlendern die Menschen über den Weihnachtsmarkt. Und wenige Meter entfernt schlägt ein Schwurgericht im Plenarsaal des Rathauses das grausamste Kapitel der deutschen Geschichte auf:

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In der „Strafsache gegen Mulka u.a.“ sitzen 22 Männer in Anzug und Krawatte auf der Anklagebank. Sie sollen mitverantwortlich gewesen sein für den millionenfachen Mord an Juden, Behinderten, Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz.

Die Männer waren im Krieg mordende SS-Offiziere ebenso wie brutale KZ-Aufseher oder menschenverachtende KZ-Ärzte – und sie sind rund 20 Jahre später, am 20. Dezember 1963, nette Nachbarn ebenso wie angesehene Unternehmer oder Altenpfleger. Als Frankfurter Auschwitzprozess ist der Mammutprozess in die Nachkriegsgeschichte eingegangen.

Den Deutschen, die sich in den 1960er-Jahren in weiten Teilen der Vergangenheitsbewältigung verweigerten, sollte das Verfahren einen Spiegel vorhalten. Für viele machte es vor 50 Jahren erstmals greifbar, was die „Endlösung der Judenfrage“ tatsächlich bedeutete. Historiker bewerten das Verfahren heute als „Wendepunkt der Erinnerung“.

Erschießungslisten aus dem Lager machen Auschwitzprozess möglich

Ein Zufall hatte die Ermittlungen möglich gemacht. Dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, selbst zeitweise KZ-Häftling, wurden 1958 Erschießungslisten der Lagerwache von Auschwitz mit den Namen der Schützen zugespielt. Emil Wulkan, ein ehemaliger Auschwitzhäftling, hatte das Päckchen bei Kriegsende im brennenden Breslau gefunden und aufbewahrt.

Der frühere jüdische Emigrant Bauer trieb die Ermittlungen voran, damit der Prozess um den Massenmord nicht in Dutzende kleine Prozesse zerfaserte. Gegen den Widerstand innerhalb der Justiz und der Verteidigung setzte er den Frankfurter Auschwitzprozess durch. Zunächst im Römer, später im extra errichteten Bürgerhaus des Gallusviertels wurde auf großen Karten das Stammlager Auschwitz dargestellt, ebenso wie das Lager in Auschwitz-Birkenau, die Region um Auschwitz und das Krematorium, Block für Block.

Eine Karte der Unmenschlichkeit. „Hinter diesem Tor begann eine Hölle, die für das normale menschliche Gehirn nicht auszudenken ist und die zu schildern die Worte fehlen“, sagte der Vorsitzende Richter Hans Hofmeyer am Ende des Prozesses. Mehr als 16 000 Seiten Papier – Akten, Totenbücher, Bestellscheine für Giftspritzen und das Giftgas Zyklon B – wurden durchforstet, rund 1300 Zeugen aus aller Welt befragt. Fast 360 von ihnen, die meisten ehemalige KZ-Häftlinge, sagten schließlich in dem rund 20 Monate andauernden Gerichtsverfahren aus.

Sie ließen die Gräuel der NS-Zeit noch einmal lebendig werden. Vor allem diese Aussagen führten der Öffentlichkeit 1964/65 fast täglich vor Augen, wie das Terrorregime und wie die Menschen in den Vernichtungslagern der Nazis funktioniert hatten. „Wenn ich nur den Namen Kaduk höre, bekomme ich heute noch Angst.

Er war fast immer betrunken, auf der Suche nach Schnaps und schlug, erschlug, erdrosselte und erschoss Häftlinge“, erinnerte sich ein ehemaliger Häftling an den SS-Unterscharführer Oswald Kaduk. Schmerzhaft detailgenau beschrieben die Opfer des Holocaust im Prozess ihr grausames Schicksal etwa bei der „Selektion“ an der berüchtigten Rampe des Lagers, über die der Arzt Otto Wolken aus Wien im Prozess sagte:

„Das Los derer, die auf der Rampe ausgesucht wurden und sofort ins Gas geschickt wurden, es war ein trauriges, es war ein fürchterliches Los.“ Vor Gericht wollten die Täter von damals nichts gewusst haben, sie beriefen sich auf Befehle oder verweigerten die Aussage. „Das waren Typen, die Sie auch auf der Straße hätten treffen können“, erinnert sich der frühere Frankfurter Jurist Christian Raabe, der während des Prozesses mehrere Opfer als Nebenkläger vertrat.

„Aber so etwas wie Reue gab es nicht.“ Mit der Verarbeitung des Gehörten hatten viele Prozessbeteiligte größte Probleme: „Die allgemeine Stimmung war nicht darauf vorbereitet, was da alles offengelegt wurde“, sagt Raabe. Und Gerhard Wiese, einer der Staatsanwälte, ergänzt: „Wenn wir alles nachvollzogen hätten, wären wir verrückt geworden.“

Raabe erinnert sich vor allem an eine Szene: „Mich hat am stärksten berührt zu erfahren, wie in einer einzigen Nacht das ganze Lager Birkenau geleert wurde und 10 000 Menschen umgebracht wurden. Solch eine Organisation, solch eine Kaltblütigkeit.“

Nur Urteile mit milden Strafen für den Massenmord

Die Urteile am 19. August 1965 fielen nach Ansicht vieler Beobachter zu milde aus: Den Massenmord sollten nur sechs Angeklagte mit lebenslangem Zuchthaus büßen, elf Männer erhielten begrenzte Freiheitsstrafen und drei kamen sogar mit Freispruch davon.

„Eine Bagatelle“, als ob ein „Meer von Blut in Sand versickert“, kommentierte die französische Zeitung „Le Monde“. Unter den Lebenslangen war auch der „Teufel des Lagers“, Wilhelm Boger, der Häftlinge wahllos erschossen und in der berüchtigten „Boger-Schaukel“ zu Tode geprügelt hatte. Das Problem der Richter: Bei der Frage der Schuld konnten sie nur die kriminelle Schuld, das heißt die Schuld im Sinne des Strafgesetzbuchs, untersuchen.

Bauers juristische Strategie und innere Überzeugung war hingegen, dass es sich bei dem Massenmord in Auschwitz und anderswo um eine einheitliche Tat gehandelt hat, für die alle Beteiligten ohne Einzelbeweise zur Verantwortung gezogen werden können. Raabe ist heute dennoch überzeugt: „Es ging um die Aufklärung, es ging darum, dass das Volk sieht, was die staatliche Mordmaschinerie getan hat.“

Auch für viele Historiker stellt der Frankfurter Auschwitzprozess eine innere Zäsur dar, die das Ende der Adenauerzeit markierte und ein Schritt zu den 68er-Unruhen war. Die Jugend begann, nach der Vergangenheit von Eltern, Lehrern und Professoren zu fragen.

Und auch mit Blick auf das Ausland gilt das Verfahren als Markstein. Während zuvor die Siegermächte die NS-Verbrechen aufarbeiteten, wurde dies nun der deutschen Justiz überlassen. Martin Oversohl

Protokolle und Tonaufnahmen des Prozesses gibt es unter: www.auschwitz-prozess.de