Multiple Sklerose: Wenn die Krankheit das Leben langsam lähmt

Von Christian Kunst 
Ein Leben mit MS: Seit einiger Zeit hat Margarete Müller wieder angefangen, mehr zu lesen. Aktuell ist sie sehr begeistert von den Büchern von Michael Ende.  Foto: Sascha Ditscher
Ein Leben mit MS: Seit einiger Zeit hat Margarete Müller wieder angefangen, mehr zu lesen. Aktuell ist sie sehr begeistert von den Büchern von Michael Ende. Foto: Sascha Ditscher

Es gab Zeiten, sagt Margarete Müller, „da war ich wie so ein Vulkan. Ich war ein sehr temperamentvoller Mensch, bin tanzen gegangen. Austoben, eine ganze Nacht auf der Tanzfläche.“ Die Augen der Frau aus Andernach strahlen, wenn sie das erzählt. Dann sagt sie: „Ist halt nicht mehr. Ich habe gelernt, ruhiger zu werden.“ Die 65-Jährige klingt bestimmt, mit sich im Reinen. Sie hat gelernt zu akzeptieren, dass ihr Körper den Vulkan in ihr nicht mehr aushält. Denn Margarete Müller leidet seit Anfang 40 an Multipler Sklerose (MS).

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Mehrmals im Jahr greift ihr eigenes Immunsystem ihre Nervenzellen in Rückenmark und Gehirn an. Die Nervenhülsen vernarben, sklerotisieren. Multiple Sklerose ist zu ihrer Lebensaufgabe geworden.

1992 wacht sie eines Morgens auf und spürt, dass ihre rechte Gesichtshälfte gelähmt ist. „Sie wurde langsam immer tauber.“ Glücklicherweise, sagt sie heute, hat ihr Hausarzt sofort den richtigen Verdacht. Er schickt sie in die Rhein-Mosel-Fachklinik in Andernach. „Der Neurologe dort erklärte mir, dass ich MS habe und dass ich es gleich wieder vergessen soll. Das habe ich getan.“ Sie bekommt Cortison, um die Entzündung in ihrem Körper zu bekämpfen. Danach arbeitet sie weiter als Bürokauffrau bei einem Steuerberater. Doch wie kann man MS einfach vergessen? „Ich konnte damals nichts damit anfangen. Ich habe mich auch nicht dafür interessiert. Der Arzt riet mir dazu, mich damit nicht zu belasten. Einfach vergessen. Heute sehe ich das positiv. In den ersten Jahren, wo noch nichts war, habe ich mir keinen Kopf gemacht und ein gutes Leben geführt.“

Viel Zeit in Kliniken verbracht

Einige Jahre später kann Margarete Müller nicht mehr vergessen. Die MS kommt mit voller Wucht, mit vielen Schüben zurück. „Ich war sehr erschöpft, hatte wieder Lähmungen. Aber ich konnte mir überhaupt keinen Reim darauf machen, was mit mir los ist, weil ich es ja völlig vergessen hatte.“ Also fängt sie an, sich mit diesem neuen Teil ihres Lebens zu beschäftigen, liest viel über MS. Sie verbringt viel Zeit in Kliniken und in der Reha. Sie ist „stinkig“, rebelliert gegen die Launen ihres Körpers. „Man übernimmt sich, das lässt einen der Körper aber spüren. Irgendwann akzeptiert man das. Da habe ich mir gesagt: Nimm es, wie es ist. Du hast es nun einmal.“

Was heute so einfach klingt, fällt der Frau mit Mitte 40 sehr schwer. Sie steht in der Mitte ihres Lebens, aus der sie die MS abrupt reißt. Wenn ein Schub kommt, das Immunsystem also Nervenzellen angreift, ist für die junge Frau nichts mehr so wie zuvor. „Ich kann das immer spüren, weil das Gehen nachlässt. Ich fange an, das linke Bein nachzuziehen. Jeder Schritt fällt mir dann schwer, ich werde müde, bin sehr schnell erschöpft.“

Die Ärzte versuchen, ihr Immunsystem quasi herunterzuregeln. Interferon-Therapie nennen sie das. Interferone sind Proteine, die das Immunsystem wieder ins Lot bringen sollen. Doch Margarete Müller reagiert allergisch auf die Medikamente. Weil es – anders als heute – noch keine anderen Therapien gibt, um die Schübe zu verhindern, bleibt ihr nur die Möglichkeit, sich möglichst schnell mit Cortison behandeln zu lassen. Mit allen Nebenwirkungen. „Dann geht es mir mindestens 14 Tage schlecht. Ich habe Herzrasen. Es ist ein Gefühl, als ob ich den Boden unter den Füßen verliere, als ob ich nicht ganz bei mir selbst bin. Ich verliere die Kontrolle. Die Luft wird dünn.“

Nach einem dieser Schübe sitzt sie im Rollstuhl. Dass sie den heute nicht mehr braucht, hat sie einer speziellen Physiotherapie aus den USA zu verdanken, bei der sie auf einem Laufband selbst daran arbeitet, dass andere Gehirnteile die Aufgaben der abgestorbenen Nervenzellen übernehmen. „Nach zwei Wochen fingen meine Beine wieder an, sich zu bewegen. Ich hatte unglaubliches Glück.“

Vor etwa zehn Jahren geht die MS bei Margarete Müller in die zweite Phase über. Die Krankheit verschlechtert sich jetzt schleichend. Die Ärzte versuchen, dies mit regelmäßigen Cortisonpulstherapien zu verlangsamen. So sollen weitere Schübe verhindert werden. „Seitdem geht es zwar kontinuierlich bergab, aber langsamer.“

Sie lernt, die Schübe zu lesen

Seit dieser Zeit hat Margarete Müller nur noch zwei bis drei Phasen im Jahr, in denen sie sich vorübergehend schlechter fühlt. „Meist ist es ein Aufflackern von alten Schüben. Dann weiß ich, dass ich keine Cortison-Therapie brauche. Das geht vorbei.“ Die Mediziner sprechen von Pseudo-Schüben, bei denen es sich nicht mehr um richtige Schübe wie zu Beginn der Erkrankung handelt. Und Margarete Müller hat gelernt, diese Schübe zu lesen.

Durch die MS hat die 65-Jährige eine große Achtsamkeit für ihren Körper und seine Grenzen entwickelt. Zwangsläufig. Denn die Krankheit begleitet sie ständig – mit dem quälenden Erschöpfungssyndrom. „Man wird tobert.“ Auf Hochdeutsch: tapsig. Ihr fallen Dinge aus den Händen, sie ist fahrig, nicht mehr so belastbar. „Wenn ich den Boden in meiner Wohnung gesaugt habe, muss ich erst einmal eine Pause machen.“ Wenn sie einkauft, nimmt sie immer den Rollator mit. „Tragen und laufen gleichzeitig geht nicht. Wenn ich in meinen Händen Gewicht habe, gehen die Beine nicht mehr.“ In ihrem Leben bestimmt der Körper, was noch möglich ist. „Es ist ein ständiges Neuorientieren. Man muss sich immer wieder anpassen.“

So sehr Margarete Müller die MS in ihren Alltag integriert hat, ihre Arbeit fehlt ihr sehr. Bis heute versteht sie nicht, warum sie ihren Job mit knapp 50 aufgeben musste. Noch immer ist sie entsetzt, wie sich Arbeitsagentur und Krankenkasse die Verantwortung zugeschoben haben. Als sie schließlich nach einem Rechtsstreit für erwerbsunfähig erklärt wird, ist sie fast froh. „Am schlimmsten war, dass niemand für mich zuständig sein wollte. Diese psychische Belastung haut einen MS-Kranken richtig von den Füßen.“

In diesen Momenten hilft es Margarete Müller, dass sie eine große Familie hat. Am Klingelschild an dem Haus in der Andernacher Altstadt steht gleich mehrfach der Name Müller. Schwester, Bruder, Neffe – alle wohnen Tür an Tür, ihre Tochter um die Ecke. Mit ihr fährt Margarete Müller alle zwei Jahre nach Österreich. Bald wird sie Uroma. Margarete Müller wirkt glücklich, wenn sie davon erzählt. Der Vulkan hat sich beruhigt. „Ich bin gelassener geworden, nehme alles, wie es kommt. Eine andere Chance habe ich eh nicht.“

Von Christian Kunst