Modellprojekt Gemeindeschwesterplus: Die Kümmererin

Die landesweit erste Gemeindeschwesterplus, Christa Reutelsterz, kümmert sich in Neuwied um Senioren, die noch zu Hause leben können, aber trotzdem kleine Hilfestellungen benötigen. 
Die landesweit erste Gemeindeschwesterplus, Christa Reutelsterz, kümmert sich in Neuwied um Senioren, die noch zu Hause leben können, aber trotzdem kleine Hilfestellungen benötigen.  Foto: dpa

Die Bevölkerung in Rheinland-Pfalz wird immer älter. In den vergangenen fünf Jahren ist die Gruppe der über 65-Jährigen um fast 5 Prozent gewachsen, während die Zahl der Menschen unter 20 Jahren im gleichen Zeitraum um 1,8 Prozent gesunken ist. Insgesamt leben rund 225 000 Menschen hierzulande, die 80 Jahre und älter sind. Die Landesregierung hat sich deshalb ein Konzept überlegt, damit diese sehr alten Menschen noch selbstständig zu Hause leben können, aber einen festen Ansprechpartner haben, der sich um sie kümmert und sie in jeglichen Lebensfragen beraten kann: die Gemeindeschwesterplus.

Lesezeit: 6 Minuten
Anzeige

Christa Reutelsterz (60) ist hierzulande die erste „Kümmererin“, sie arbeitet in Neuwied. Im Interview spricht sie über ihre Arbeit, aber auch über die Sorgen der Hochbetagten, wie Altersarmut oder Einsamkeit.

Frau Reutelsterz, Sie waren die erste Gemeindeschwester plus, die in Rheinland-Pfalz ihre Arbeit begonnen hat. Wie kamen Sie zu dieser Stelle?

Seit mehr als 40 Jahren bin ich als Krankenschwester tätig. Letztes Jahr habe ich dann die Stellenausschreibung für die Gemeindeschwesterplus gesehen. Das klang für mich sehr reizvoll. Die Gemeindeschwester kenne ich noch von früher. Das Konzept damals war aber noch anders: Die Gemeindeschwester war bei der Kirche angestellt und hat sich um jeden gekümmert. Ich hatte schon eine Weile den Gedanken: „Wäre doch toll, wenn es das so ähnlich noch mal geben würde.“ Und es gibt genug zu tun. Etwa 1600 Hochbetagte gibt es allein hier in der Innenstadt von Neuwied.

Was steckt hinter dem Konzept der Gemeindeschwesterplus?

Es geht um präventive Hausbesuche, das Analysieren der Lebenssituation und Erkennen von Bedürfnissen, Wünschen und Sorgen. Das Schöne an diesem Modellprojekt ist, dass man endlich mal in der Lage ist, sich ohne Zeitdruck zu kümmern. Wir müssen nicht auf die Uhr schauen, wir können uns die Zeit nehmen, die der Senior braucht, um uns etwas zu erzählen. Über medizinische Belange oder wenn er einfach nur reden will. Dazu haben wir noch den geschulten diagnostischen Blick. Wir können die Senioren gezielt auf Probleme ansprechen und Ratschläge geben. Heute haben ja oft auch die Angehörigen kaum mehr Zeit. Die Kinder sind alle im Beruf oder wohnen weit weg. Wie die Gesundheitsministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler immer sagt: Wir sind „Kümmerer“.

Krankenschwester, Gemeindeschwesterplus, Kümmererin – wie bezeichnen Sie sich selbst?

In diesem Projekt bin ich die Gemeindeschwester und die Kümmererin. Wenn ich einen Hausbesuch hatte, dann muss ich da immer noch mal nacharbeiten und überlegen, was anschließend zu tun ist. Ich kümmere mich dann um alles Weitere, was nach so einem Hausbesuch anfällt. Zum Beispiel organisiere ich Hilfe, wenn diese im Haushalt benötigt wird. Oft rufen die Senioren auch bei mir an. Einige wollen einfach nur mal reden, danach geht es ihnen wieder besser. Das alles gehört zum „sich kümmern“, was im Vordergrund steht. Natürlich aber auch mit dem Blick einer Krankenschwester: Wie geht es einem gesundheitlich, wie ist das Wohnumfeld?

Wie würden Sie einen typischen Arbeitstag beschreiben?

Meistens bekomme ich spontan Anrufe. Entweder von den Senioren selbst oder aber von Angehörigen. Ich habe auch guten Kontakt zu den Pflegeüberleitungen der Krankenhäuser – wenn da jemand entlassen wird, ganz allein ist und es gesundheitlich Bedenken gibt. Oder ich telefoniere mit den Hausärzten und mache Termine für Hausbesuche aus. Die wiederum muss ich nacharbeiten und dokumentieren. Dazu kommt noch die übliche Büroarbeit: Telefonate führen und Mails beantworten oder Schulungen vor- und nachbereiten. Und natürlich, gerade jetzt in der Anlaufzeit, viel Öffentlichkeitsarbeit: Kontakte halten mit den Netzwerkpartnern, zum Beispiel mit Krankenhäusern, Kirchengemeinden, Vereinen und Verbänden. Es geht ja auch darum, ehrenamtliche Hilfen an die Senioren zu vermitteln. Es fängt oft so an, dass die Senioren sagen: „Ich kann nicht mehr allein einkaufen gehen. Ich bräuchte jemanden, der mir tragen hilft.“

Gibt es Probleme, die besonders häufig auftreten?

Es geht viel um Einsamkeit. Dadurch, dass die Familie oft weit weg lebt und nicht mehr, wie früher, vor Ort ist. Alte Menschen sind oft nicht mehr eingebettet in ein festes familiäres Umfeld, das ihnen hilft und sich um sie kümmert. Besonders häufig betrifft das Frauen, weil Männer nicht nur laut Statistik früher sterben. Dazu kommt oft noch eine schwierige finanzielle Situation. Wenn jemand an Altersarmut leidet oder knapp darüber liegt, der hat dann keine großen finanziellen Möglichkeiten. Der bestellt sich keine Zeitung, der geht auch nicht dreimal die Woche raus einen Kaffee trinken. Da sind dann einfach Grenzen gesetzt.

Beobachten Sie häufig Altersarmut?

Ich kenne schon einige, bei denen es finanziell sehr knapp ist. Es gibt aber auch viele, die sagen: „Es geht, aber ich kann nicht üppig leben.“ Es ist dagegen selten, dass jemand sagt: „Ich habe ausreichend Geld.“ Aber auch die melden sich bei mir. Sie wollen dann natürlich keinen kostenlosen Einkaufsservice, da gibt es dann andere Sorgen. Zum Beispiel – ganz aktuell – habe ich einige alte Menschen, die noch immer traumatisiert sind vom Krieg. Und jetzt, durch die Flüchtlingskrise, werden sie retraumatisiert, oft ohne dass sie es merken. Das geschieht dann durch Berichte im Radio und Fernsehen. Die rufen mich dann an und erzählen, dass sie Panikattacken bekommen. Da muss man dann ganz vorsichtig vorgehen. Aber auch da spielt die Einsamkeit und die Angst vorm Älterwerden viel mit hinein.

Was sind die häufigsten Tipps, die Sie geben?

Ich achte zum Beispiel auf die Brille: Sitzt die richtig, stimmt die Gläserstärke? Auf Hörgeräte muss man achten: Wissen die Senioren, wie es funktioniert und wie sie damit umgehen müssen? Ganz wichtig: die Medikamente. Sind die richtig eingestellt und werden sie auch zur richtigen Zeit genommen. Natürlich ist auch die Sturzprophylaxe sehr wichtig, da empfehle ich bei Bedarf auch mal einen Rollator oder Gehstock. Oder dass die Teppiche nicht zur Stolperfalle werden. Ist das Licht hell genug? Einfach Dinge, die das Leben erleichtern können. Es geht ja in dem Modellprojekt darum, die Pflegebedürftigkeit so lange wie möglich rauszuschieben. Alltagshilfen anzubieten und überlegen, wie die Senioren so lange und sicher wie möglich allein zu Hause leben können – da muss man Kompromisse finden und die Schwächen überbrücken.

Wird die Gemeindeschwesterplus von den Senioren gut angenommen?

Es läuft positiv an. Man muss sich aber auch immer vor Augen halten: Das Modellprojekt läuft jetzt erst seit einem Jahr. Aber der Wiedererkennungseffekt steigt. Wenn ich zum Beispiel irgendwo bin, sagen die Leute oft: „Ich kenne Sie doch.“ Der Begriff Gemeindeschwesterplus ist in der Vergangenheit viel diskutiert worden, auch in negativer Hinsicht. Wir erbringen keine pflegerische oder medizinische Leistung. Wir vermitteln an Stellen, die schon wirklich gut aufgestellt sind. Aber bei den Senioren schafft das Wort Gemeindeschwester riesiges Vertrauen. Die verstehen auch ganz schnell das Plus in dem Wort, dass es eben nicht mehr so sein kann wie früher und dass es ein Zusatzangebot ist. Aber sie sind sehr froh, dass da jetzt jemand ist, der sich sorgt, der sich Gedanken macht oder Anregungen gibt. Oft ist es auch so, dass mir die Angehörigen erzählen, dass sie schon lange Zeit auf ihre Eltern oder Omas und Opas einreden und die ihre Vorschläge nicht annehmen. Wenn ich dann aber sage: „So und so wird das gemacht, und das brauchen Sie“, dann wird das auch meistens so angenommen. Das ist sicher auch meine Kompetenz und Erfahrung als Krankenschwester, der die Senioren vertrauen.

Warum nehmen einige Senioren Ihre Hilfe doch nicht in Anspruch?

Die Annahme des Projekts ist bis jetzt tatsächlich noch etwas zurückhaltend. In der ersten Zeit musste ich sehr viel Öffentlichkeitsarbeit machen, aber auch viele Hausbesuche. Ich vergleiche das immer mit einer Selbstständigkeit: So was muss erst mal richtig publik werden. Und dann müssen die Senioren das auch von anderen hören: „Die war schon mal bei mir, ruf da mal an, Frau Reutelsterz hilft dir.“ Da läuft viel über Öffentlichkeitsarbeit und Mundpropaganda. Das muss erst mal in die Köpfe rein. Jetzt haben wir zum Beispiel auch eine Generation, die sagt, sie sind immer zurechtgekommen und brauchen keine Hilfe, das geht schon irgendwie. Aber umso mehr das Projekt in der Öffentlichkeit bekannt wird, umso mehr denken sich dann: „Ach, das ist ja eine gute Idee, da ruf ich mal an.“ Aber das geht nicht von heute auf morgen, das ist klar.

Gibt es manchmal Überschneidungen mit anderen Dienstleistern?

Nein. Es gibt eine ganz klare Abstimmung, wo unser Bereich ist und wo der Bereich des Pflegestützpunktes. Wenn sich beispielsweise jemand entscheidet, einen Antrag auf eine Pflegestufe zu stellen, dann gebe ich das an den Pflegestützpunkt weiter. Bei uns gilt: Beratung vor der Pflegestufe. Aber ich würde mir wünschen, dass an jedem Pflegestützpunkt eine Gemeindeschwesterplus angegliedert wird.

Das Interview führte Nina Kugler