Meinung: Ein zorniger Zwischenruf zur aktuellen Diskussion über die Alterssicherung

Begrüßenswert ist an Ursula von der Leyens jüngstem Zuschussrenten- Vorstoß einzig: Selbst demjenigen, der Berechnungen und Warnungen aus dem Umfeld von Gewerkschaften und Sozialverbänden bislang misstraute, wird nun quasi hochoffiziell vor Augen geführt, dass die rot-grüne, rotschwarze und schwarz-gelbe Reformiererei der vergangenen 20 Jahre unser Rentensystem de facto in einen asozialen Trümmerhaufen verwandelt hat.

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Von Existenzsicherung im Alter kann für einen Großteil der nächsten Rentnergeneration keine Rede mehr sein. Sobald die bereits beschlossenen Änderungen des Rentensystems vollends wirksam sind (2030), wird man bei einem Bruttogehalt von 2500 Euro nach 35 Beitrags-/ Arbeitsjahren keine 700 Euro Rente mehr kriegen. So lamentiert nicht die Gewerkschaft, sondern so rechnet es die CDU-Bundesministerin für Arbeit und Soziales vor. 2500 Euro brutto müssten demnach alle heute unter 49 Jahre alten Arbeitnehmer ihr Arbeitsleben lang ununterbrochen mindestens verdienen, um auch nur eine völlig unzulängliche staatliche Hungerrente beziehen zu können. Damit liegt offen zutage: Das systemische Ergebnis der bisherigen Rentenreformen stößt nicht nur die „Problemfälle“ der Arbeitsgesellschaft in die Altersarmut, sondern wird die gesamte untere Hälfte der arbeitenden Bevölkerung hart treffen. Selbst diejenigen, die lebenslang in regulären Vollzeitjobs beschäftigt sind.

Angriff auf Lebensarbeitslohn

Auskömmliche Alterssicherung war eines der ganz großen Systemversprechen der sozialen Marktwirtschaft. Und auskömmliche Alterssicherung war keineswegs eine irgendwie geartete Almosengabe, sondern über den Generationenvertrag Bestandteil des gesamtgesellschaftlichen Lohnniveaus. Der demnächst in aller Schärfe wirksam werdende Abbau der Renten stellt indirekt auch einen so noch nie da gewesenen Angriff auf das Gesamtlohnniveau wie den individuellen Lebensarbeitslohn dar. Besonders perfide ist, dass man gerade die Klein-, Niedrig- und Hungerlöhner zwingen will, von ihrem individuellen Mickerlohn noch Teile für private Alterssicherung abzuzwacken. Das ist, mit Verlaub, weniger eine Folge des demografischen Wandels als vielmehr ein Resultat der Bemühungen des „entfesselten Kapitalismus“, sich möglichst vom Ballast der ihm einst abgetrotzten Mitverantwortung für die Ruhestandslöhne (= Renten) zu befreien.

Denn die seit Beginn der neomarktliberalen Ära im späten 20. Jahrhundert beobachtbare immer weiter um sich greifende Entlastung gerade des Kapitals und der Reichen von Gemeinwohlpflichten steht einer steuerfinanzierten Altersversorgung tendenziell entgegen. Diese aber wäre ein durchaus vielversprechender Weg, das Rentensystem sozialverträglich und den Lebensleistungen der Arbeitsbevölkerung angemessen – auch unter den Bedingungen des demografischen Wandels – zukunftsfähig zu machen. Wer die steuerfinanzierte Rente nicht will, muss sich mit einem ebenso simplen wie zwingenden Gedanken befassen, der als Forderung auf Wirtschaft und Politik zielt: Wenn die Beschäftigten vor allem in der unteren Hälfte des Lohngefüges künftig ihre Alterssicherung überwiegend von ihrem Nettolohn bestreiten sollen, dann ist sicherzustellen, dass die Löhne entsprechend angehoben werden.

Tarifabschlüsse zu gering

Solche Aufwendungen waren schließlich in das bisherige Lohnniveau nicht eingerechnet. Anders ausgedrückt: Wäre sich die Arbeitnehmerschaft bei den Gehaltstarifrunden der vergangenen Jahrzehnte bewusst gewesen, dass der Nettolohn alsbald sogar für eine grundständige Alterssicherung hinreichen muss, hätten die Lohnforderungen und Tarifabschlüsse deutlich höher ausfallen müssen. Eine Alternative dazu, etwa angelehnt an das Schweizer Modell, ginge so: Alle, aber auch wirklich alle (nebst Freischaffenden, Managern, Unternehmern, Börsenspekulanten oder Kapitalrentiers) beteiligen sich in einer ihrem Besitz und ihren Einkünften tatsächlich angemessenen Höhe an der allgemeinen Alterssicherung in Form einer auskömmlichen staatlichen Grundrente. Besserverdienende und Wohlhabende könnten sich dann immer noch einen zusätzlichen Speckgürtel fürs Alter zulegen. Bei 2500 Euro brutto oder weniger fehlen dafür schlechterdings die Spielräume.

Von unserem Autor Andreas Pecht