Machtkampf: Erdogan im Ausnahmezustand

Aufmacher TT Foto: AFP

Zehntausende Soldaten und Staatsdiener sind in der Türkei bereits entlassen oder verhaftet worden. Jetzt ist der Ausnahmezustand auch offiziell verkündet. Die Situation nach dem gescheiterten Putschversuch könnte auch hierzulande spürbar werden. Die Bundesregierung jedenfalls beobachtet die Vorgänge in der Türkei mit zunehmender Sorge. Eine Fluchtbewegung von Oppositionellen gibt es zwar noch nicht, das kann sich aber ändern. Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Situation:

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Können Gegner des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan Asyl in Deutschland beantragen?

Generell kann jeder Mensch, der sich politisch verfolgt fühlt, Asyl in Deutschland beantragen. Die Zahl der Asyl suchenden Türken war bisher relativ gering. Im ersten Quartal 2016 gingen bei den Behörden gerade mal 456 Anträge ein. Das ist Platz 20 in der Rangliste der Herkunftsländer. Die Anerkennungsquote lag im vergangenen Jahr bei 1,9 Prozent und damit höher als der Durchschnitt aller Länder von 0,7 Prozent.

Steigt die Chance auf Anerkennung angesichts des harten Durchgreifens Erdogans nach dem gescheiterten Putschversuch?

Das mag sein, generell kann man das aber nicht sagen. Letztlich kommt es auf den Einzelfall an – zum Beispiel ob jemand nachweisen kann, dass Freunde oder Verwandte bereits verhaftet worden sind. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl geht davon aus, dass die Behörden in Deutschland angesichts der unübersichtlichen Lage in der Türkei Entscheidungen über Asylanträge von dort zunächst zurückstellen. Das wird Bernd Mesovic von Pro Asyl zufolge bei Putschversuchen oder gerade ausbrechenden Bürgerkriegen meistens so gemacht.

Der renommierte Asylrechtsexperte Prof. Kay Hailbronner (Konstanz) gibt jedoch zu bedenken, dass eine berufliche Benachteiligung wie etwa eine Suspendierung in der Regel nicht ausreicht, um als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt zu werden. Sie müsste in ihrem Schwergrad schon einer Beeinträchtigung an Leib und Leben gleichkommen, also eine völlige Existenzvernichtung. „Ob das der Fall ist, kann nur anhand der Umstände des Einzelfalles entschieden werden,“ sagt Hailbronner. Er verweist jedoch zugleich darauf, dass neben der Suspendierung auch andere Formen der „Einschüchterung und Bedrohung“ eine Rolle spielen könnten.

Kann der Flüchtlingspakt der Europäischen Union mit der Türkei so weiterlaufen?

Bislang hat die Türkei keinen Zusammenhang zwischen dem Putsch, den „Säuberungen“ und dem Übereinkommen mit der Europäischen Union zum Stopp der Flüchtlingsbewegung über die Ägäis und zur Rücknahme von Migranten hergestellt. Die Türkei hatte sich dazu verpflichtet, Flüchtlinge zurückzunehmen, die versuchen, über die Ägäis nach Griechenland zu kommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geht davon aus, dass die Vereinbarungen von den Ereignissen in der Türkei nicht berührt werden. Grundlage des Abkommens bleibt für sie, „dass wir Sicherheiten haben für die Menschen, die von Griechenland zurückgeschickt werden in die Türkei“, sagte sie am Mittwochabend. „Ich habe bis jetzt keinerlei Anzeichen, dass die Türkei an dieser Stelle nicht zu den Verpflichtungen steht.“ Die Entwicklung wird ihr zufolge aber sehr intensiv beobachtet. Zur Bedingung für den Flüchtlingspakt machte Erdogan in der Vergangenheit jedoch die Visumfreiheit, über die im September wieder verhandelt wird. Ob die EU die Voraussetzungen dafür als erfüllt ansieht, ist mit dem massiven Vorgehen gegen die vermeintlichen Urheber des Putsches eher unwahrscheinlich geworden.

Kann die Türkei Nato-Mitglied bleiben?

Das wird nicht in Zweifel gezogen. Die Türkei ist 1952 der Nato beigetreten und damit noch vor der Bundesrepublik Deutschland. Alle drei Militärputsche in der Türkei – 1960, 1971 und 1980 – hatten keinen Einfluss auf die Nato-Mitgliedschaft. Aus Nato-Sicht ist entscheidend, dass die Türkei ihre Verpflichtungen im Verteidigungsbündnis erfüllt. Das ist bisher der Fall. Allerdings versteht sich die Nato auch als politisches Bündnis. Deswegen können auch ihr Verstöße gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit nicht egal sein.

Können deutsche Soldaten in der Türkei stationiert bleiben?

Bisher macht die Bundesregierung keinerlei Anstalten, die 240 auf der Luftwaffenbasis Incirlik stationierten deutschen Soldaten abzuziehen. Sie sind mit „Tornado“-Aufklärungsflugzeugen und einem Tankflugzeug an den Angriffen auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) beteiligt. Die Soldaten bekommen von der Lage im Land nur wenig mit, verlassen ihren Stützpunkt nur selten zu dienstlichen Zwecken. Die Zusammenarbeit mit der Türkei im Kampf gegen den IS funktioniert und wird bisher auch nicht infrage gestellt.

Was wird aus den Beitrittsgesprächen mit der Europäischen Union?

Die EU hat eine rote Linie gezogen: Wird die Todesstrafe wieder eingeführt, ist für die Türkei kein Platz in der Europäischen Union. Aber auch unabhängig davon ist ein Beitritt derzeit unrealistischer denn je. Zu weit ist die Türkei von den Standards entfernt, die von der EU beim Thema Rechtsstaatlichkeit verlangt werden.

Wie reagiert das Ausland?

Der österreichische Außenminister Sebastian Kurz bestellte den türkischen Botschafter ein. Der amerikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump zollte Erdogan Respekt, dass er die Situation wieder in den Griff bekommen habe. Der syrische Machthaber Baschar al-Assad erklärte, Erdogan setze in der Türkei die Ziele der extremistischen Muslimbruderschaft um. Das sei sowohl für die Türkei als auch die Region gefährlich.

Kann auch in Deutschland der Ausnahmezustand ausgerufen werden?

Das Grundgesetz sah ursprünglich keinen Ausnahmezustand oder Notstand vor. 1968 setzte die damalige Große Koalition mit ihrer Zweidrittelmehrheit gegen den erbitterten Widerstand der selbst ernannten außerparlamentarischen Opposition 28 Grundgesetzänderungen durch, die sogenanten Notstandsgesetze. Danach dürfen bei einer existenziellen Bedrohung des Bundes oder eines Landes oder bei einer Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung per Gesetz – also nur mit Zustimmung des Bundestages – die Freizügigkeit sowie das Brief- und Fernmeldegeheimnis eingeschränkt werden. Zudem darf die Bundeswehr im Inneren unter bestimmten Bedingungen eingesetzt werden.

Michael Fischer/Gregor Mayntz