Kriegsenkel – vergessene Generation befreit sich

Sie sind wieder da: die Traumata von Krieg und Flucht. Hunderttausende Flüchtlinge bringen sie nach Deutschland. Was passiert, wenn diese Traumata nicht frühzeitig aufgearbeitet werden, darüber schreibt die Kölner Journalistin Sabine Bode seit Jahren. Deutsche der Jahrgänge 1960 bis 1975, die Kriegsenkel, die nie selbst Krieg erlebt haben, werden von den Geistern der Vergangenheit bis heute gequält.

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Im Interview erklärt Bode, wie sich Ängste über Generationen in Familien vererbt haben und was wir daraus für die Flüchtlingskrise lernen können. Die Kriegsenkel sind für sie die Manager der Flüchtlingskrise:

Sie beschreiben in Ihrem Buch „Kriegsenkel“, wie Ängste der Eltern aus der Kriegszeit das Leben ihrer Kinder bis heute beeinflussen. Wie erklären Sie sich das?

Mittlerweile haben sich Forscher überall in der Welt mit dieser Weitergabe von Traumata befasst. Und sie haben belegt, dass es dieses Phänomen tatsächlich gibt. Das ist ein enormer Fortschritt, weil ich bei Lesungen früher häufig zu hören bekam, ich hätte ein Problem geschaffen, das es gar nicht gibt. Dabei haben es die Literaten immer gewusst. In großen Familienromanen wie „Buddenbrooks“ zum Beispiel: Hanno, das Kind, hat etwas von der Schwere seines Vaters übernommen und stirbt daran.

Wie erklären Sie sich die Weitergabe der Traumata?

Ich verstehe es vor allem als eine frühkindliche Prägung. Ganz pauschal ausgedrückt: Eltern, die sich von ihren besonders tief sitzenden Traumata aus der eigenen Kindheit nicht erholt haben, bekommen oft Probleme, wenn sie ihre Säuglinge versorgen müssen. Babys sind sehr hilflos und völlig auf die Eltern angewiesen. Das rührt die eigene unterdrückte Hilflosigkeit – das Gefühl des Ausgeliefertseins – wieder auf. Weil das nicht sein darf, geht eine Mutter, die so etwas spürt, aus dem emotionalen Kontakt mit dem Baby. Das wiederum versetzt ein Baby in Todesangst. Das Kind lernt also früh, dass es dafür sorgen muss, dass Mama stabil ist – andernfalls, weiß das Kind instinktiv, wird es selbst nicht versorgt. Dieses Muster setzt sich im Leben des Kindes, des Kriegsenkels fort. Es heißt: Ich bin für meine Eltern verantwortlich, ich muss sie glücklich machen. Dabei ist es doch eigentlich umgekehrt. Ich kenne 50-Jährige, die das immer noch gegenüber ihren Eltern empfinden, obwohl diese noch sehr fit sind. Die Kinder rufen bis heute einmal am Tag an und sorgen sich unendlich um sie.

Ist das eine Umkehrung der Beziehung zwischen Kindern und Eltern?

Ja. Es gibt den Ausdruck, die Eltern zu beeltern. Psychotherapeuten nennen es Parentifizierung. Wenn dies in einer Generation wie bei den Kriegsenkeln so häufig auftritt, dann empfinden sich die Betroffenen als völlig normal. Ein Drittel dieser Generation hat vermutlich dieses Problem, aber sie glauben, es ginge allen Menschen so.

Wie übertragen sich Ängste?

Die Ängste der Kriegskinder, also der Elterngeneration, wurden durch vielfältige Bedrohungen ausgelöst: Sie wurden Zeugen von Gewalt, sie haben Gewalt erlebt, Bombenkrieg, Flucht, sie haben ihre Heimat verloren, sind in einer nicht gerade wohlwollenden Umgebung angekommen, wurden von anderen Kindern schlecht behandelt, sie haben Tod in der eigenen Familie erlebt. Es gibt viele Gründe, warum diese Menschen den Boden unter den Füßen verloren haben. Aber die Kriegskinder haben auch Strategien entwickelt, um mit diesen Traumata klarzukommen. Sie betäubten sich selbst. Wenn für Kinder etwas unerträglich ist, dann reden sie sich ein: Alles ist in Ordnung, mir geht es gut. Und wenn sie größer sind, sagen sie: Indianerherz kennt keinen Schmerz. Oder sie haben in der Hitlerjugend gelernt, hart wie Kruppstahl zu sein. Eine solche Betäubung hilft ihnen, die Ängste nicht mehr zu spüren. Oft hält sie ein Leben lang an. Die Kriegskinder sehen sich selbst nicht als eine ängstliche Generation. Sie sind oft völlig fassungslos, dass diese Ängste bei ihren Kindern auftauchen und dass dies mit ihnen zu tun haben soll. Sie sehen nur, was sie alles überstanden haben und in welch friedlichen Zeiten ihre Kinder aufgewachsen sind. Die seien doch nur verwöhnt worden, ihnen sei es zu gut gegangen, meinen die Kriegskinder über ihre Kinder, die Kriegsenkel.

Was macht das mit Kriegsenkeln?

Bei ihnen bleibt ein verunsichertes Lebensgefühl. Es entstehen Blockaden und Ängste, die sie sich aus der eigenen Lebensgeschichte nicht erklären können. Es ist ihnen doch gut gegangen. Viele kommen auch gar nicht auf die Idee, dass ihre Ängste in den Erfahrungen der Eltern mit Krieg und Vertreibung begründet liegen könnten. Das hat damit zu tun, dass es in Familien bestimmte Wahrnehmungseinschränkungen gibt. Die Kinder spüren: bis hierhin und nicht weiter.

Sind das ungeschriebene Verbote?

Sabine Bode, geboren 1947, beschäftigt sich seit Langem mit dem Schicksal von Kriegskindern, Nachkriegskindern und Kriegsenkeln. Ihre Bücher, in denen sie nicht Forscher, sondern Zeitzeugen sprechen lässt, sind Bestseller, ihre Lesungen wie zuletzt in Koblenz überfüllt. Bei dieser Lesung verriet sie, dass sie derzeit an einem historischen Roman arbeitet. Das Thema deutsche Kriegstraumata beschäftigt sie kaum noch:
Sabine Bode, geboren 1947, beschäftigt sich seit Langem mit dem Schicksal von Kriegskindern, Nachkriegskindern und Kriegsenkeln. Ihre Bücher, in denen sie nicht Forscher, sondern Zeitzeugen sprechen lässt, sind Bestseller, ihre Lesungen wie zuletzt in Koblenz überfüllt. Bei dieser Lesung verriet sie, dass sie derzeit an einem historischen Roman arbeitet. Das Thema deutsche Kriegstraumata beschäftigt sie kaum noch: „Nach 20 Jahren sind mir die Fragen ausgegangen.“ ck
Foto: Sascha Ditscher

Ja, Wahrnehmungsverbote, die selten ausgesprochen werden. Die werden unbewusst befolgt. Ein Kind spürt früh: Da stimmt was nicht. Dann fragt es vielleicht einmal nach. Und weil es dann Ablehnung gespürt oder Schweigen erlebt hat, fragt es nicht weiter nach. Irgendwann vergisst es, und das Verbot sinkt ab ins Unterbewusstsein. Die Tatsache, dass sich jetzt so viele Menschen dieser Verstrickungen bewusst werden und die Kriegsenkel fast zu einer gesellschaftlichen Bewegung werden, hat mit 70 Jahren Frieden zu tun.

Sie sagen, dass nur ein Drittel der Generation der zwischen 1960 und 1975 Geborenen betroffen ist. Gibt es also eine psychische Disposition, die es eher wahrscheinlich macht, dass die Ängste der Eltern das Leben beeinflussen?

Nur etwa ein Drittel der Eltern hat sich nicht vom Krieg erholt. Das Interessante ist, dass fast immer nur ein Kind in einer Familie dieses Erbe spürt. Das ist das sogenannte Problemkind, das sein eigenes Leben nicht in den Griff bekommt, obwohl es doch die besten Bedingungen hatte – bis es mit 40 in der psychosomatischen Klinik landet und sich mit seinen Wurzeln beschäftigt.

Warum ist es oft nur ein Kind?

Das ist noch nicht geklärt. Das sind Erfahrungswerte in psychotherapeutischen Praxen. Manche sagen, ein Kind ist meist besonders sensibel. Möglich. Aber wie will man das erfassen?

Sie beschreiben in Ihrem Buch viele Beispiele von Vertriebenenfamilien. Was unterscheidet deren Traumatisierung von der anderer Kriegskinder und -enkel?

In den Lebenseinschränkungen gibt es keine Unterschiede – was also Ängste oder Blockaden angeht. Trauma ist Trauma. Die Folgen für die nächste Generation sind immer gleich. Auffällig viele Kriegsenkel, die sich bei mir meldeten, sind kinderlos. Es ist für mich ein Ausdruck für mangelndes Vertrauen ins Leben. Andere ziehen ständig um. Sie sagen: Ich bin immer auf der Flucht. Sie wollen sich nicht viel Besitz zulegen. Einer hat mir mal gesagt: Ich habe immer einen Koffer unter dem Bett. Das sind Hinweise auf dieses Erbe, das aus der Flucht stammen kann.

Einiges klingt wie eine Revolte gegen die Eltern. Wie viel von den Ängsten ist Kriegstraumata der Eltern geschuldet, wie viel nur Ausdruck gesellschaftlicher Zwänge?

Es ist keine Revolte. Im Gegenteil. Ich selbst gehöre der unmittelbaren Nachkriegsgeneration an. Wir haben wirklich gegen unsere Eltern revoltiert. Die Kriegsenkel fühlen sich hingegen einer Fürsorge für die Eltern verpflichtet. Das ist oft ungut, weil dies ein Abhängigkeitsverhältnis begründet. Sie verhalten sich wie nicht abgenabelte Töchter oder Söhne, obwohl sie eigentlich längst auf Augenhöhe mit ihren Eltern sein sollten. Die Spannungen sind oft verdeckt. Es gibt wenige offene Konflikte.

Wie sollten Kriegsenkel mit ihren Belastungen umgehen: Sollten sie darüber mit ihren Eltern sprechen?

Eine Parentifizierung löst sich selten von selbst auf. Es braucht viel Zeit, um sie zu lösen. Da muss man für längere Zeit mal das schlechte Gewissen aushalten, das auftritt, wenn man sich das erste Mal von seinen Eltern abgrenzt. Es dauert, bis man begreift, dass die Welt dann nicht untergeht. Nicht immer ist ein Therapeut nötig. Manchmal reicht es schon, sich über eine längere Phase mit Menschen aus der gleichen Generation zum Erfahrungsaustausch zu treffen.

Was kann man aus den Erkenntnissen der deutschen Kriegsenkel für die Flüchtlingsdebatte lernen?

Was die Flüchtlingsfrage so gravierend für uns macht, ist, dass sie so plötzlich auftrat. Es haben alle weggeguckt, und plötzlich war sie da. Vieles von dem, was wir heute erleben, wäre so nicht passiert, wenn man halbwegs vorbereitet gewesen wäre. Auf der anderen Seite ist es 70 Jahre her, als etwas Ähnliches schon einmal bei uns passiert ist: Innerhalb kürzester Zeit waren 14 Millionen Deutsche auf der Flucht – und das in Notzeiten. Es ist doch erstaunlich, wie diese Krise bewältigt wurde. Die Vertriebenen waren nicht willkommen, weil diejenigen, die selbst wenig hatten, teilen mussten. Es gab riesige kulturelle Unterschiede: Protestanten und Katholiken waren sich damals wahrscheinlich vor allem in vielen ländlichen Regionen so fremd wie heute Christen und Muslime. Was uns heute fehlt, ist das Bewusstsein, dass die Zuwanderung und ihre Folgen zu bewältigen sind. Es steht viel mehr im Vordergrund, was wir nicht gelöst bekommen. Es wird nicht bedacht, dass ein Problem, das erst seit dem Herbst existiert, sich nicht so schnell lösen lässt. Und dies, obwohl jetzt weniger Flüchtlinge kommen. Die Aufregung ist viel größer als das Problem.

Viele Vertriebene weisen einen Vergleich mit den heutigen Flüchtlingen aber weit von sich. Sie sehen hingegen eine Chance der Identifikation mit den Flüchtlingen?

Ja, aber das würde voraussetzen, dass man sich mit seinem Schicksal wirklich offen auseinandergesetzt hat. Familien, die dies getan haben, gehören eher zu den Helfern von Flüchtlingen. Besonders groß ist die Unterstützung in der Generation der Kriegsenkel. Das sind auch diejenigen, die institutionell so gute Arbeit leisten. Sie managen die Flüchtlingskrise, vor allem in den Kommunen.

Wie erklären Sie sich das?

Mir hat eine beruflich sehr beschäftigte Frau, die jeden Abend in ein Flüchtlingsheim geht, gesagt: Das ist das Sinnvollste, das ich seit vielen Jahren getan habe. Helfen tut gut. Diese Empathiefähigkeit speist sich aus meiner Sicht sehr stark daraus, dass viele Menschen mehr über die Vergangenheit ihrer eigenen Familie wissen. Und dann sind sie unbelastet. Dann reagieren sie eben so, wie Menschen reagieren, wenn andere in Not sind.

Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht eine Therapie der Flüchtlinge?

In den meisten Fällen ist vielleicht überhaupt keine Therapie nötig. Das Wichtigste ist, dass sich fremdenfeindliche Übergriffe wie in Clausnitz nicht wiederholen. Flüchtlinge dürfen sich, sobald sie an einen sicheren Ort gebracht wurden, nicht wieder solchen Anfeindungen ausgesetzt sehen. Das führt zu Retraumatisierungen. Besonders die Kinder müssen das Gefühl haben, Schutz zu bekommen, gerettet zu sein. Und sehr wichtig ist, dass die Kinder sofort in die Schule geschickt werden. Sie kommen dort in Kontakt mit der Welt außerhalb ihrer Unterkunft, vor allem mit anderen Kindern. Sie können für einige Zeit mal vergessen, was sie erlebt und verloren haben. Andererseits finde ich es falsch, die Kinder nicht darauf anzusprechen, was sie erlitten haben. Nach vielleicht sechs oder zwölf Monaten brauchen die Jungen und Mädchen eine Chance, ihre Verluste zu betrauern. Diese Möglichkeit hatten die Kinder der deutschen Flüchtlingskinder nach 1945 nie. Die meisten von ihnen waren wie betäubt. Sie dachten, es sei normal, den Vater zu verlieren – ich bin ja nicht traurig, die Mama ist traurig, und die muss ich trösten.

Das Gespräch führte Christian Kunst