Rheinland-Pfalz

Krebs-Schock – und dann? Psychoonkologin im Interview

Männer sind nach wie vor Vorsorgemuffel. Nur 11,7 Prozent aller Männer ab 45 Jahren waren 2014 bei der Prostatakrebsvorsorge. Das sind laut Barmer GEK 4,65 Millionen Bürger. Deutlich öfter gehen Frauen zur Krebsfrüherkennung.

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2014 waren 41 Prozent (16,93 Millionen) der Frauen ab 20 Jahren bei den Vorsorgeuntersuchungen gegen Brust- und Gebärmutterhalskrebs. Auch bei der psychoonkologischen Beratung sind Männer immer noch klar in der Minderheit, sagt die Leipziger Expertin Prof. Dr. Anja Mehnert unserer Zeitung. „Deshalb sollte sich die Psychoonkologie neue Konzepte überlegen, um Männer zu erreichen.“

Am Ende unseres Gesprächs über die seelischen Aspekte von Krebserkrankungen wird die Leipziger Psychoonkologin Prof. Dr. Anja Mehnert philosophisch. Befragt nach den Dingen, die sie persönlich als Wissenschaftlerin antreiben, sagt sie: „Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt. Unsere Gesellschaft besteht nicht nur aus Gesunden und Erfolgreichen, sondern auch aus Menschen, die mit einer Erkrankung wie Krebs leben müssen oder sogar daran sterben. Zu einer guten Gesellschaft können wir alle beitragen, wenn wir auch gute Konzepte haben für die kranken Menschen neben und mitten unter uns. Dies ist für mich immer der Anspruch an eine humanistische Gesellschaft.“ Wie diese Konzepte aussehen können, das erklärt Prof. Mehnert, die am heutigen Samstag beim rheinland-pfälzischen Krebstag in Koblenz spricht, im Interview mit unserer Zeitung:

Welche Rolle spielen seelische Leiden bei der Entstehung von Krebs?

Gar keine. Es gab lange Zeit die Theorie, dass es eine Krebspersönlichkeit gibt, dass also bestimmte Charaktereigenschaften zu Krebs führen, dass jemand, der beispielsweise alles in sich hineinfrisst, sehr sozial angepasst ist, eher Krebs bekommt. Dies konnte wissenschaftlich aber nie belegt werden. Indirekt spielen psychische Faktoren aber sehr wohl eine Rolle, und zwar über den Lebensstil: Wenn jemand etwa sehr depressiv ist, dann wird er sich auch anders verhalten. Wahrscheinlich wird er insgesamt ungesünder leben, zum Beispiel mehr Alkohol trinken, mehr rauchen, sich weniger bewegen. Das alles erhöht das Krebsrisiko. Letztlich sind aber die Verhaltensweisen der Auslöser, weniger die Psyche.

Lassen sich durch eine Psychotherapie, vor allem eine Verhaltenstherapie, die Risikofaktoren für eine Krebserkrankung reduzieren?

Das ist eine spannende Frage. Dazu gibt es aber kaum Erkenntnisse. Allerdings dürfte eine mehrmonatige Psychotherapie als Prävention zu kurz sein. Die Effekte dürften nicht nachhaltig genug sein. Bis sich Verhaltensveränderungen wie eine Ernährungsumstellung auch auf die Krebsrisiken auswirken, dauert es oft Jahre. Umstritten ist, ob eine Psychotherapie das Wiedererkrankungsrisiko für Krebs senken kann. Die Mehrzahl der Studien können das nicht belegen, einige wenige Studien aber zeigen Effekte. Demnach verlängert Psychotherapie das Leben – vermutlich auch über veränderte Strategien zur Krankheitsbewältigung. Sport ist dabei ein wichtiger Faktor. Es ist nachhaltig belegt, dass regelmäßige Bewegung das Krebsrisiko deutlich senkt.

Psychotherapien und auch Burn-out sind längst gesellschaftsfähig geworden. Hilft das auch bei der Behandlung von Krebs?

Ja. Angststörungen oder Depressionen sind keine Tabuthemen mehr. Und das gilt auch für Krebs.

Ihr Koblenzer Kollege Dr. Thomas Schopperth spricht jedoch bei Krebs von „uralten Bildern einer todbringenden Krankheit, die sich über Generationen fortgetragen haben“. Das hört sich so an, dass Krebs trotz besserer Heilungschancen doch noch immer ein Tabuthema ist. Wie lassen sich solche Bilder verändern?

Historisch mag dies stimmen. Zunächst einmal sind Menschen früher gar nicht erst so alt geworden, dass sie noch an Krebs erkranken konnten. Wenn dies doch geschah, dann sah man es als eine Erkrankung, deren Ursache man nicht kannte. Die Menschen siechten dahin und hatten große Schmerzen. Oft wurde Krebs auch als eine Strafe für begangene Sünden gesehen. Die Patienten wurden isoliert und stigmatisiert. Dies hat sich in den vergangenen Jahren aber deutlich verändert. Laut einer aktuellen Studie erleben Patienten eine solche Stigmatisierung deutlich seltener. Das hat erstens damit zu tun, dass heute so viele Menschen an Krebs erkranken. Daher kennt fast jeder einen Krebspatienten.

Und zweitens sprechen die Menschen sehr viel häufiger über Krebs. Doch: Je ländlicher eine Region ist, umso größer ist die Stigmatisierung. Drittens spielen die Öffentlichkeit und die Selbsthilfe eine zentrale Rolle. Und dies ist auch meine Antwort auf die Frage, wie sich die Bilder verändern lassen: indem man bewusst auch andere Bilder zeigt. Es überleben immer mehr Krebspatienten, obwohl viele auch sterben. Der Schrecken ist nicht verblasst. Aber die Behandlung und der Umgang mit Krebs haben sich deutlich verbessert.

Wie wichtig ist das Sprechen über die Erkrankung?

Sprechen ist wichtig. Aber Menschen sind auch unterschiedlich. Manche möchten die Folgen einer Krebsdiagnose auch erst einmal mit sich ausmachen. Sie haben vielleicht Schwierigkeiten, über ihr Erleben zu reden. Daher ist es wichtig, individuell vorzugehen.

Was macht Krebs mit der Psyche der Patienten?

Für fast alle Menschen ist die Diagnose erst einmal ein Schock. Und die ersten Tage, Wochen und Monate sind geprägt von einem emotionalen Auf und Ab. Dann kommt die Behandlung, während der Patienten schwierige medizinische Entscheidungen treffen und viel organisieren müssen. Das bedeutet aber auch viel Aktivität. Erst wenn die Behandlung beendet ist, fallen viele in ein Loch. Dann beginnt die Zeit der Verarbeitung. Die meisten Patienten verarbeiten Diagnose und Behandlung relativ gut, auch weil sie ein schützendes soziales Umfeld haben. Viele wünschen sich kurzfristige psychologische Beratung und auch soziale Unterstützung. Etwa ein Viertel bis ein Drittel aller Patienten braucht tatsächlich eine längere und stärkere Unterstützung.

Welche Krebspatienten sind besonders stark betroffen?

Brust- und Hautkrebspatienten, weil diese Erkrankungen sehr aggressiv sind. Außerdem Patienten mit Leukämie, Lymphomerkrankungen und gynäkologischen Tumoren wie Gebärmutterhalskrebs. Das hängt stark davon ab, ob der Krebs mit Funktionseinschränkungen und Schmerzen einhergeht.

Sind Frauen also eher betroffen, auch weil sie sich dem Thema seelische Leiden eher öffnen?

Das trifft auf alle psychischen Erkrankungen zu. Dafür gibt es mehrere Erklärungen: Frauen teilen Symptome eher mit, weil es rollenkonformer ist. Es ist für eine Frau immer noch leichter als für einen Mann zu sagen, dass sie zum Beispiel depressiv ist. Der Mann soll nach dem klassischen Bild Stärke ausstrahlen, emotionale Belange eher wegdrücken. Zweitens nehmen Frauen psychische Symptome sensitiver wahr. Wenn man Frauen fragt, wie es ihnen geht, antworten sie eher differenzierter. Drittens gibt es die Hypothese, dass die Kriterien für psychische Störungen, die in den gängigen Leitlinien festgehalten sind, eine Tendenz haben, die psychische Belastung von Frauen differenzierter zu diagnostizieren als die von Männern. Wenn Männer belastet sind, zeigen sie vermutlich andere Verhaltensweisen. Frauen neigen eher dazu, depressiver zu werden, Männer eher zu Risikoverhalten, das heißt riskantes Verhalten im Straßenverkehr, Konsum von Alkohol und anderen Drogen. Doch die Kriterien bilden das nicht ab.

Ist das aber nicht sehr problematisch, weil doch genau dies Risikofaktoren für Krebs sind? Und müssten diese Kriterien dann nicht dringend überarbeitet werden?

Ja. Unbedingt. Aber das ist ein sehr langwieriger Prozess. Diese Kriterien werden nur langsam und evidenzbasiert verändert. Und daran sind viele Akteure beteiligt, unter anderem die Weltgesundheitsorganisation WHO. Aber richtig ist, dass das Risikoverhalten von Männern Auswirkungen auf die Krebserkrankungen hat. Bei Männern sind Lungenkrebs und HNO-Tumore stark verbreitet – das sind Tumore, die stark mit dem Konsum von Alkohol und Nikotin verbunden sind. Und wenn sie erkrankt sind, verändern sie ihr Risikoverhalten oft kaum.

Heißt das auch, dass sich bei psychosozialen Beratungen vor allem Frauen gegenübersitzen?

Ja. Die typische Patientin, die in die Beratungsstelle kommt, ist eine eher gebildete Brustkrebspatientin zwischen 40 und 60 Jahren. Deshalb sollte sich die Psychoonkologie andere Konzepte überlegen, um Männer zu erreichen. Es reicht nicht zu sagen, dass sich die Männer öffnen sollten.

Wie kann das funktionieren?

Es gibt spannende Projekte in anderen Ländern. Ein Kollege in Dänemark hat ein Sportprojekt für Prostatakrebspatienten entwickelt. Der Trainer ist ein Psychoonkologe, die Männer spielen zusammen Fußball. Beim Sport, in der Umkleidekabine oder beim Getränk danach haben sie die Möglichkeit des Austauschs. Es geht aber nicht vordergründig darum, sich Hilfe zu holen. Frauen tun sich leichter, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Männer möchten laut dem klassischen Rollenbild eher Kompetenz aufbauen und Hilfe geben. In San Francisco wurde eine Informationsgruppe gegründet, bei der es darum geht, Männer kompetent im Umgang mit ihrer Krankheit zu machen, das heißt, der Kompetenzgewinn steht im Vordergrund, weniger die Suche nach Unterstützung.

Warum gelingt das bei uns nicht?

Die Ideen sind auch bei uns vorhanden. Aber unser Gesundheitssystem ist bei der Förderung solcher Projekte immer etwas schwerfälliger. Auch die Rehabilitation ist mit ihren Angeboten oft sehr altbacken, auf die stationäre Versorgung fokussiert. Länder wie Dänemark sind hier kreativer, wissenschaftlich fundierte Ideen einfach auszuprobieren. Bei uns in Leipzig gibt es etwa ein offenes Atelier, das viele männliche Krebspatienten besuchen. Kunstprojekte wie Fotografie, gesundes Kochen, auch Motorradfahren oder ein Segeltörn sind gute Möglichkeiten, männliche Patienten anzusprechen. Wichtig ist, dass nicht das Reden im Vordergrund steht, sondern eine Aktivität, die spezifische Kompetenzen fördert.

Die psychoonkologische Beratung in Deutschland basiert fast ausschließlich auf Spenden und freiwilligen Zuschüssen. Hat dieses Modell noch eine Zukunft?

Nein. Alle psychoonkologischen Fachgesellschaften setzen sich seit längerer Zeit für eine Regelfinanzierung dieser Arbeit ein. Jedes Röntgenbild wird bezahlt, aber es gibt keine regelhafte Finanzierung für die medizinpsychologische Versorgung. Patienten können daher nur den Weg in eine Psychotherapie gehen. Doch das ist oft ein langwieriger Prozess. Wir brauchen eine zeitnahe, niedrigschwellige Versorgung, die durch die Kassen finanziert werden muss. Die Versicherer haben die Sorge, dass ganz viele Patienten sehr lange behandelt werden müssen. Das stimmt aber nicht. Betroffen ist nur ein Drittel der Patienten, und die meisten nehmen nur sehr wenige Gespräche in Anspruch, lediglich ein geringer Teil braucht längere psychotherapeutische Hilfe.

Das Gespräch führte Christian Kunst

Am Samstag, 29. Oktober, sprechen neben Prof. Mehnert viele Experten beim dritten rheinland-pfälzischen Krebstag. Neben medizinischen Aspekten geht es auch um Themen wie Sport, Partnerschaft und Sexualität. Die Veranstaltung von Krebsgesellschaft und Tumorzentrum Rheinland-Pfalz steht unter dem Motto „Medizin, Psychoonkologie, Selbsthilfe – ein Netz, das trägt“. Der Krebstag findet von 9.30 bis 16 Uhr im Gebäude D auf dem Campus der Uni Koblenz statt. Die Teilnahme ist kostenlos.