Koblenz

„Kony 2012“: Das Internet jagt einen Kriegsverbrecher

Seit zwei Wochen macht ein Video im Internet beinahe täglich Schlagzeilen. „Kony 2012“, ein halbstündiges Kampagnenvideo aus den USA, polarisiert durch seine Machart. Ursprünglich sollte es den Blick auf Uganda lenken – doch hat der Erfolg des Videos nun offenbar seinen Macher in den Wahnsinn getrieben.

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Mehr als 70 Millionen Klicks zählte das halbstündige Video „Kony 2012“ innerhalb der ersten Woche – und machte es den reinen Zahlen zufolge aus dem Stand zum erfolgreichsten Webvideo aller Zeiten. Veröffentlicht von der kalifornischen Organisation Invisible Children („unsichtbare Kinder“), ruft das Video zur Jagd auf den ugandischen Rebellenführer Joseph Kony auf, der seit mehr als 25 Jahren in Zentralafrika Zehntausende Kinder zu Soldaten und Sexsklaven gemacht hat.

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KONY 2012 from INVISIBLE CHILDREN on Vimeo.

Emotionale Bilder, dramatische Musik

Einer der Mitbegründer von „Invisible Children“, der US-Amerikaner Jason Russell, berichtet mit emotionalen Bildern und dramatischer Musik von seiner Begegnung mit dem ugandischen Jungen Jacob, einem der Opfer Konys. Kony sei nach Angaben der Organisation für die Verschleppung und den Missbrauch von mehr als 30 000 Kindern verantwortlich. Die Familien der Kinder werden den Angaben zufolge meist getötet, die Zahl der Todesopfer ist kaum zu beziffern. „Der Film ist hochemotional“, sagt Christoph Klitsch-Ott, Afrika-Experte von Caritas. „Er spielt auf der Klaviatur, die jeder Kampagnenorganisator kennt: Informationen führen zu Wissen, Emotionen zu Handlungen.“

Dabei bedient sich der Film auch der Hilfe Prominenter: „Ich möchte, dass Kriegsverbrecher dasselbe Maß an Berühmtheit erlangen wie ich. Das finde ich fair“, sagt beispielsweise US-Schauspieler George Clooney in dem Video. Die Aktion wird von zahlreichen weiteren Prominenten im englischsprachigen Raum unterstützt, darunter Angelina Jolie, Justin Bieber und einige bekannte US-amerikanische Politiker. Den Namen Joseph Kony nicht nur in die Politik der Vereinigten Staaten, sondern auch in die Weltöffentlichkeit zu tragen, ist das genannte Ziel. Diese Weltöffentlichkeit, so das Kalkül der Macher des Videos, besteht heute eben zu großen Teilen aus Facebook und YouTube.

Mitbegründer von „Invisible Children“ in Unterwäsche aufgegriffen

Diese Weltöffentlichkeit ist allerdings auch in der Lage, binnen Sekunden das Brennglas des öffentlichen Interesses auf eine kleine unscheinbare Polizeimeldung zu richten. So griff am vergangenen Wochenende die Polizei von San Diego in den USA einen Mann in Unterwäsche auf, der wirr oder betrunken durch die Straßen der Stadt lief und auch masturbiert haben soll. Dabei handelt es sich um eben jenen Jason Russell, den Macher des Kony-Videos. Die Organisation „Invisible Children“ bestätigte, dass Russell wegen des riesigen Erfolgs, aber auch mancher Kritik emotional sehr angegriffen sei.

Neben der riesigen Unterstützung rufen das Video „Kony 2012“ sowie die Organisation „Invisible Children“ selbst aber auch Kritik hervor. Die Aufmachung des Videos und wie Russells fünfjähriger Sohn Gavin als Symbol einer besseren Zukunft vorgeführt wird, manipuliert den Zuschauer emotional. Der Blick auf die komplexe politische Thematik wird verwischt. Nakissa Salavati kritisiert in einem Beitrag für die „Süddeutsche Zeitung“ die angebliche Verwendung der Spenden zum größten Teil für Filmproduktionen und Werbematerial, anstatt diese direkt an die Opfer weiterzuleiten.

Auch der ugandische Ministerpräsident Amama Mbabazi steht der Kampagne skeptisch gegenüber. So ruft er die Menschen in einem Video auf seinem Youtube-Kanal „OPM Uganda“ dazu auf, Uganda zu bereisen, um einen sehr anderen Ort vorzufinden, als den, den Invisible Children darstellt.

Eine von Al Jazeera produzierte Dokumentation „Kony screening provokes Anger in Uganda“ („Vorführung provoziert Empörung in Uganda“) bekräftigt die Skepsis des Ministerpräsidenten. Eine öffentliche Aufführung des Kony 2012-Videos in der nordugandischen Stadt Lira sorgte unter den Zuschauern für Wut und Enttäuschung. Anstatt über die Bewohner der Region mit ihren Probleme zu berichten, seien sie mit einer Kampagne konfrontiert worden, bei der weiße Kinder die Hauptrolle spielten.

Neue Form von „Slacktivism“

Doch wieso ist dieses Video derart erfolgreich? Dahinter steckt etwas, das neudeutsch als „Slacktivism“ bezeichnet wird – ähnlich der früheren Bezeichnung „Salonmarxismus“: Dafür oder dagegen sein, ohne allzu konkret werden zu müssen. „Slacktivism“ setzt sich aus den englischen Begriffen „slacker“ (Faulenzer) und „activism“ (Aktivismus) zusammen. Gemeint sind Personen, die sich für Aktionen engagieren, ohne selbst einen großen Beitrag dazu zu leisten. Dies äußert sich beispielsweise durch den Beitritt zu einer Facebook-Gruppe oder das Tragen von Armbändchen oder Buttons mit politischen Botschaften. Durch das „Teilen“ des Themas haben die Menschen das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben, da sie andere über dessen Inhalt informieren. In der Kampagne „Kony 2012“ wird diese neue Form des Aktivismus gezielt eingesetzt.

Zu Anfang und Ende des „Kony 2012“-Videos erscheint folgende Botschaft: „Nichts ist machtvoller als eine Idee, dessen Zeit gekommen ist.“ Nach einigen Sekunden wird die Botschaft um ein Wort erweitert: „Nichts ist machtvoller als eine Idee, dessen Zeit jetzt gekommen ist.“ Im Anschluss erscheint die Aufforderung: „Es gibt drei Dinge, die du jetzt tun kannst.“ Dazu gehört das Unterschreiben einer Online-Petition, die Bestellung von einem Armband und einem Aktionspaket sowie sich bei der Organisation „Tri“ anzumelden, um monatlich ein paar Dollar zu spenden.

Eine neue Form der politischen Mobilisierung?

Auch wenn Methodik und Inhalt von „Kony 2012“ umstritten sind, ist das Video ein beeindruckendes Beispiel für eine neue Art der politischen Mobilisierung. Die Macht der sozialen Netzwerke gibt deren Nutzern das Gefühl, durch ein einfaches Anklicken des „Gefällt mir“-Buttons seine politische Meinung zu äußern und aktiv zu sein, ohne dafür vom Stuhl aufzustehen zu müssen. Spannend bleibt es abzuwarten, ob der Effekt von „Kony 2012“ Menschen zukünftig dazu bringt, sich nur aufgrund einer einzige Quelle für ein Projekt zu engagieren, ohne dessen Inhalt oder Konsequenzen zu hinterfragen.

Von unseren Mitarbeitern Anika Simon, Niki Radtke und Marcus Schwarze