Koblenzer Politikwissenschaftler Sarcinelli: Gauck-Wende schwächt Merkel nicht

Was bedeutet der Triumph der FDP für die Koalition? – Experten erwarten keinen schnellen Bruch Von unserer Redakteurin Ursula Samary

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Was bedeutet der Triumph der FDP für die Koalition? – Experten erwarten keinen schnellen Bruch

Von unserer Redakteurin Ursula Samary

Rheinland-Pfalz/Berlin. Die Emanzipation von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bei der Suche nach dem neuen Bundespräsidenten gibt den Liberalen nach mancher Schmach intern wieder Auftrieb. Aber ist der Coup mehr als ein Achtungserfolg in den Augen der Wähler? Droht womöglich eine Zerreißprobe in der schwarz-gelben Koalition? Politikwissenschaftler schließen einen Bruch im Regierungsbündnis nach der überraschenden Wende aus, als nicht die FDP, sondern Merkel umfiel.

Ein Präsidentenmacher FDP überrascht auch Experten

Mit einem Präsidentenmacher FDP hat auch der Politikwissenschaftler der Universität Koblenz-Landau, Ulrich Sarcinelli, nicht gerechnet, wie er im Gespräch mit unserer Zeitung sagt. Jetzt konstatiert er ein „machtpolitisches Gesellenstück“ und einen „kleinen Befreiungsschlag“ des FDP-Bundesvorsitzenden Philipp Rösler, der nach den ersten Monaten seiner Amtszeit bereits heftig in der Diskussion stand. Aber jetzt hat er – um in seinem Jargon zu bleiben – geliefert: sogar einen Bundespräsidenten, der mit seinem Bekenntnis zur Freiheit und Verantwortung liberales Gedankengut vertritt.

Für Sarcinelli kann die „taktische Einzelaktion“ Röslers Position innerparteilich stärken. „Aber die Partei braucht eine programmatische Neuausrichtung, die sie aus der Verengung auf Steuerthemen herausführt. Ob Wachstum in dieser Zeit allein der richtige Impuls ist, ist noch fraglich“, meint Sarcinelli. Aus Sicht von Merkel-Biograf Gerd Langguth könnte der gelbe Coup auch zum Bumerang werden. Er ist sich sicher, dass die Kanzlerin „mit langem Gedächtnis“ schon die kommende Wahl im Blick hat und diesen Gauck-Sonntag nicht so schnell vergisst, wie er n-tv sagte. Aber die FDP muss für jede Konstellation bis dahin ohnehin erst einmal in die Lage kommen, wieder die 5-Prozent-Hürde zu nehmen.

Dass Merkel nach der Düpierung durch die FDP keinesfalls geschwächt ist, darin sind sich die beiden Experten einig. Wie Sarcinelli gegenüber unserer Zeitung betont, ist es ein „Ausdruck von Stärke, dass Angela Merkel der Union eine weitere Kehrtwende zumuten kann. Das macht ihre Machtposition deutlich“. Der Landauer sieht Merkel auf einem Höhepunkt der Macht. Und Langguth sagt: „Merkel ist bekannt dafür, dass sie ganz schnell die Position wechseln kann, wenn das aus politisch-strategischen Gründen notwendig ist.“ Und in diese Lage hatte sie sich selbst gebracht.

Beobachter hat dennoch die Hektik und der Krach überrascht, weil der Rücktritt Christian Wulffs seit Wochen in der Luft lag und Merkel schließlich gewappnet sein musste. Aber dies war sie erkennbar nicht. Sarcinelli erklärt dies damit, dass die „Physikerin der Macht“ immer Schritt für Schritt Politik macht und Reaktionen tagesaktuell überprüft. „Visionen und Zukunftsentwürfe zu entwerfen“ sei nicht ihr Ding.

Eine Zerreißprobe erwartet Sarcinelli für die schwarz-gelbe Koalition jetzt aber nicht, auch wenn einige in der Union den Fast-Allparteien-Kandidaten „noch verdauen müssen“ und einige Unionsleute die FDP deshalb hart attackieren. Außerdem musste die Kanzlerin auch mit einer Retourkutsche rechnen, als sie ohne Absprache mit der FDP die Suche nach einem Konsenskandidaten ankündigte. Zudem schlug sie der FDP Kandidaten wie Umweltpolitiker Klaus Töpfer und die Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth vor, von denen ein schwarz-grünes Koalitionssignal ausgeht. „Merkel hat die FDP auch schon mit vollendeten Tatsachen konfrontiert. Der Wille zum Machterhalt wird stärker sein, für die FDP allemal, aber auch für die Union“, sagt Sarcinelli und rechnet mit genügend Kitt in der Koalition.

Erste kritische Blicke auf Joachim Gauck

Der Parteienforscher sieht es aber kritisch, dass sich Politiker früh auf einen möglichst parteilosen Kandidaten festgelegt haben. Für ihn ist das „eine Selbstmarginalisierung der Parteiendemokratie“, zudem in einem Land, das mit „Anti-Partei-Affekten historisch keine guten Erfahrungen gemacht hat“. Für ihn wäre Töpfer beispielsweise ein Kandidat gewesen, „der sich mit seiner internationalen Reputation und mit seinem thematischen Programm trotz Parteibuch nicht von einer Partei hätte eindosen lassen“.

Dabei fragt sich Sarcinelli, für welches Thema eigentlich Gauck steht. Sicher, seine Positionen zur Freiheit und Verantwortung sind bekannt und anerkannt, er kann auch Ost und West, Politik und Gesellschaft versöhnen. „Er kann für das freiheitliche System begeistern.“ Aber seine Position beispielsweise zur europäischen Finanzkrise kenne man nicht, sagt der Parteienforscher.

Auch im Netz werden erste kritische Töne gegen den Mann angeschlagen, der 2010 als Bundespräsident der Herzen galt. Die Wahrnehmung habe sich verändert, erklärt Politikwissenschaftler Christoph Bieber (Duisburg). Damals stand er „als Bürgerpräsident für einen Wechsel“. Seit dem gemeinsamen Auftritt mit den Parteivorsitzenden „ist Gauck ein Kandidat des Establishments. Es besteht ein großer Unterschied zwischen Gauck eins und Gauck zwei“, erklärt Bieber den plötzlichen Stimmungsdreh bei Wortmeldungen im Internet.