Kanzlerin Angela Merkel mahnt zur Besonnenheit – Skepsis und hohe Erwartungen im Ausland

Der Jubel des Brexit-Lagers
Jubelnde Brexit-Befürworter auf einer Wahlparty in London. Foto: Michael Kappeler

Die Kanzlerin lässt sich Zeit. Fünfeinhalb Stunden ist die Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, schon in der Welt. Erst kurz vor 12.45 Uhr tritt Angela Merkel in Berlin vor die Kameras. Ein freundliches „Guten Tag“, trotz allem, dann liest sie eine genau ausformulierte Erklärung vom Blatt ab, die erkennbar der allgemeinen Beruhigung dienen soll – getreu dem alten britischen Motto „Keep calm and carry on“ – „Ruhig bleiben und weitermachen“.

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Zumindest soweit das an einem so schwarzen Freitag überhaupt möglich ist. Merkel macht aus dem Ernst der Lage auch keinen Hehl. „Es gibt nichts darum herumzureden: Der heutige Tag ist ein Einschnitt für Europa.“ Die Folgen hingen nun entscheidend davon ab, ob sich die künftig nur noch 27 Mitgliedstaaten als „willens und fähig“ erweisen, „keine schnellen und einfachen Beschlüsse zu ziehen, die Europa nur weiter spalten würden“. Da klingen Zweifel durch. Die Kanzlerin weiß, dass ohne die Briten – die für die Deutschen nicht nur wichtiger Partner, sondern auch Gegengewicht waren – die innere Balance der EU ins Rutschen kommt.

Eine Union minus Großbritannien wird die ohnehin schon gestiegene Sorge vor einer deutschen Übermacht nochmals verstärken. Deshalb ihre Empfehlung, „mit Ruhe und Besonnenheit zu analysieren, zu bewerten und gemeinsam die richtigen Entscheidungen zu treffen“. Aber einfach wird das nicht, auch nicht in der eigenen Koalition. Auf einen gemeinsamen Auftritt – was der Situation vielleicht angemessen gewesen wäre – verzichten Merkel und ihre SPD-Minister an diesem Tag.

Die CDU-Vorsitzende äußert sich solo im Kanzleramt, Vizekanzler Sigmar Gabriel im Bundestag, Außenminister Frank-Walter Steinmeier in Luxemburg. Dessen Rat: „Wir dürfen weder in Hysterie noch in Schockstarre verfallen.“ Für diesen Samstag hat Steinmeier die Kollegen aus den anderen Gründerstaaten der EU in die Villa Borsig eingeladen, das Gästehaus des Auswärtigen Amts: Frankreich, Italien und die Beneluxstaaten. Von dem Sechserkreis soll es eine Erklärung mit Vorschlägen geben, wie es nun weitergehen könnte. Mehr Integrationsschritte, jetzt erst recht? Oder erst einmal versuchen, den Status quo zu bewahren? Die Deutschen neigen zu Letzterem.

Das Treffen in kleinem Zirkel wird in anderen Hauptstädten misstrauisch beäugt – so sind die Zeiten in der EU. „Wir brauchen jetzt nicht noch mehr Spaltung“, sagt ein Diplomat aus einem der neueren EU-Mitgliedsländer im Osten. Aber auch Merkel warnte am Tag der Volksabstimmung schon vor der Bildung neuer „Untergruppen“. Das war auf den eigenen Außenminister gemünzt.

SPD-Chef: Brexit ist „Kurswechsel“

Wie es um das Klima in der Großen Koalition steht, zeigt auch Gabriels Reaktion auf den Brexit. Der SPD-Chef verlangt einen Kurswechsel in der Europapolitik, weniger „erhobene Zeigefinger“ aus Berlin, mehr Investitionen statt reiner Sparpolitik. Die eigenen Leute meinte er damit nicht. Gabriel war übrigens der Erste, der sich am Morgen zu Wort meldete. Schon um 6.19 Uhr schrieb er auf Twitter: „Damn (Verdammt)! Ein schlechter Tag für Europa.“ Merkel hatte die entscheidende Phase der Auszählung in ihrer Berliner Wohnung verfolgt. Noch dort begann sie mit der Krisendiplomatie am Telefon. Auch als sie kurz vor 8 Uhr im Kanzleramt eintraf, hatte sie das Handy am Ohr. Kurz darauf tagte ihr Küchenkabinett. Bevor sie vor die Presse ging, holte sie dann die Partei- und Fraktionschefs zu sich. So etwas macht Merkel nur, wenn die Lage tatsächlich schwierig ist.

Die nächsten Tage wird sie nun wieder im Krisenmodus sein. Am Montag kommen Frankreichs Präsident François Hollande, Italiens Regierungschef Matteo Renzi sowie EU-Ratspräsident Donald Tusk zu Gesprächen in unterschiedlichen Runden nach Berlin. Am Dienstag beginnt in Brüssel der erste EU-Gipfel der neuen Zeit. Am Ende dieses Treffens ist der britische Premierminister David Cameron dann möglicherweise schon nicht mehr dabei.

Die Trennungsverhandlungen mit London werden auch für Berlin Neuland sein – Beitrittsgespräche rückwärts sozusagen. Vom Brexit-Beschluss wurde die Bundesregierung aber natürlich nicht komplett überrascht. Es gibt sogar manche in Berlin, die sagen: „Wir waren auf den Brexit besser vorbereitet als für den Fall, dass die Briten drinbleiben.“ Wie allerdings der Plan B nun genau aussieht, darüber wird noch nichts verraten.

Hohe Erwartungen

Die Erwartungen jedenfalls sind groß, auch außerhalb Europas. Der frühere US-Spitzendiplomat Nicholas Burns, heute Professor, sieht die Kanzlerin vor einer historischen Aufgabe: „Wird sie, wird Deutschland es schaffen, die EU neu zu formen?“ Sein amerikanischer Kollege Steven Hill erhob Merkel zur „De-facto-Premierministerin Europas“. Mit Blick auf solche Stimmen sagt Merkel lediglich: „Deutschland hat ein besonderes Interesse und eine besondere Verantwortung, dass die europäische Einigung gelingt.“ Aber die Kanzlerin weiß selbst, dass sie anderswo in Europa auch als Hassfigur gilt.

Christoph Sator